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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

„In meinem Hause geht nichts inkognito ein und aus, dafür sorgen meine Jungen,“ erklärte Bertram. „Ihre Gesichtsfarbe hat Sie verraten; mein Aeltester behauptete steif und fest, der ‚afrikanische Onkel‘ sei angekommen, und die Beschreibung stimmte. Noch einmal herzlich willkommen! Auch meine Frau freut sich sehr auf den lieben Gast, der damals bei unserer Liebes- und Leidensgeschichte am Nil so eine Art Schutzgeist für uns gewesen ist.“

„Auf Kosten des armen Fräulein Mallner,“ lachte Ehrwald. „Ich glaube, sie hat mir das niemals verziehen. Ist sie denn noch am Leben?“

„Natürlich, und sie wird sogar baldigst in voller Lebensgröße hier erscheinen. Doch wie finden Sie Herrn Sonneck? Er hat sich sehr erholt, nicht wahr?“

„Lothar sieht wie verjüngt aus! Da haben Ihre Kronsberger Quellen in der That ein halbes Wunder gethan.“

Um die Lippen des Hofrates zuckte wieder der alte lustige Spott, als er entgegnete: „Nun, unsere Quellen sind vorzüglich, das ist ausgemacht; ob sie aber gerade an dieser ‚Verjüngung‘ schuld sind, möchte ich bezweifeln. Das wird wohl einen anderen Grund haben … Ah so,“ unterbrach er sich, indem er einen Wink Sonnecks auffing. „Er weiß noch gar nichts? Nun, da will ich Ihnen die Ueberraschung nicht verderben.“

„Was weiß ich nicht?“ fragte Reinhart ahnungslos. Bertram lachte.

„Eine große Neuigkeit, die erst acht Tage alt ist, und solange sind Sie gerade unterwegs. Sie können freilich noch nichts wissen, wenn Sie es nicht gleich in der ersten Stunde hier erfuhren, aber ich will nicht vorgreifen. Doch noch eins, Herr Sonneck! Ich bin heute schon vor Tagesgrauen in Burgheim gewesen. Bastian kam in der Nacht, um mich zu rufen. Der Professor hatte wieder einen argen Anfall seines alten Leidens.“

„Steht es schlimm?“ fragte Sonneck besorgt.

„Nein, für den Augenblick ist die Gefahr beseitigt. Helmreich hat eine ungemein zähe Natur, die solche Anfälle immer wieder überwindet. Daß sein Zustand hoffnungslos ist, habe ich Ihnen ja längst mitgeteilt, aber es kann noch bis zum Herbste dauern.“

„Eine traurige Frist unter diesen Umständen!“ sagte Lothar ernst. „Jedenfalls will ich noch am Vormittag nach Burgheim.“

„Thun Sie das,“ stimmte der Arzt bei. „Sie sind der einzige, der noch etwas bei ihm ausrichtet. Die arme Elsa hat natürlich während der ganzen Nacht kein Auge geschlossen. Sie erinnern sich ihrer doch noch, Ehrwald?“

„Gewiß – da ist sie ja, meine kleine Feindin!“ rief Reinhart, indem er zum Schreibtische trat und ein dort stehendes Bild ergriff. „Das achtjährige Fräulein erklärte mir damals den Krieg auf Tod und Leben, weil ich einen Kuß erzwang, den es mir verweigerte. Es war wirklich nicht ratsam, dem kleinen Trotzkopfe nahe zu kommen, wenn er übler Laune war.“

Die Worte waren wohl scherzhaft gemeint, aber sie hatten eine eigentümliche Beimischung von Gereiztheit. Sonneck war zu ihm getreten und sah mit leisem glücklichen Lächeln auf das Bild nieder, das er damals in Kairo gezeichnet und später in Aquarell ausgeführt hatte. Das Kinderköpfchen der kleinen Elsa blickte dem Beschauer mit seinem ganzen Liebreiz entgegen, doch mit jener zarten, beinahe scheuen Zurückhaltung, die der ältere Mann stets beobachtete, wenn von seiner jungen Braut die Rede war, schwieg er auch jetzt noch über die „große Neuigkeit“. Die Gegenwart Bertrams legte ihm einen Zwang auf: das, was ihn am tiefsten berührte, sollte der Freund erst unter vier Augen erfahren.

„Ich habe es Dir ja geschrieben, was die Erziehung Helmreichs aus dem einst so lebhaften und leidenschaftlichen Kinde gemacht hat,“ sagte er. „Es war ein Unglück, daß es gerade in die Hände dieses alten, verbitterten Mannes kam. Er hatte gar kein Verständnis für das kleine, sonnige Geschöpf, das in seinem jungen Leben nur Liebe und Zärtlichkeit empfangen hatte und den Sonnenschein und die Freude brauchte, um zu gedeihen. Seine Erziehung war überhaupt so widerspruchsvoll wie nur möglich, einerseits unterrichtete er seine Enkelin selbst und gab ihr eine Bildung, die weit über das gewöhnliche Maß hinausging, und anderseits kettete er sie förmlich an den Haushalt fest –“

„Aus krasser Selbstsucht!“ fiel Hofrat Bertram mit einer ihm sonst ganz fremden Bitterkeit ein. „Er wollte seine Behaglichkeit im Hause haben und sah, daß die alte Zenz nicht mehr viel leisten konnte, also mußte sie in Elsa ihre Nachfolgerin erziehen. Er brauchte jemand, der ihm halbe Tage lang vorlas oder nach seinem Diktate schrieb, und es störte ihn, wenn das verständnislos geschah, also wurden dem jungen Mädchen alle möglichen gelehrten Dinge eingetrichtert – lehren Sie mich den alten Egoisten kennen!“

„Sie scheinen kein besonderer Freund des Professor Helmreich zu sein,“ bemerkte Ehrwald, der das Bild noch immer in der Hand hielt und es betrachtete.

„Nein, wahrhaftig nicht!“ brach Bertram aus. „Wir sind sogar heimlich geschworene Feinde, und wenn ich die ärztliche Behandlung in seinem Hause nicht aufgab, so geschah es nur Elsas wegen. Ich konnte ihm die Grausamkeit gegen das Kind nicht verzeihen, das doch sein eigenes Fleisch und Blut war; ich glaube, er hat es von jeher gehaßt, weil es das Kind seines tiefgehaßten Schwiegersohns war. Als ich mit meiner jungen Frau hierher kam, war die Kleine etwa ein halbes Jahr bei dem Großvater, und da war der Kampf noch im vollen Gange, denn sie wehrte sich anfangs verzweifelt gegen diese sogenannte Erziehung. Sie wurde ja wie in einem Gefängnis gehalten, sogar die Spielgefährten blieben ihr versagt, jede kleine Unart, jeder kindische Trotz wurde in der erbarmungslosesten Weise gestraft, und wenn sie nun vollends von ihrem Vater und von dem Leben in Kairo sprach, geriet der Alte geradezu in Wut.“

„Ja, das war von jeher das Schlimmste!“ bemerkte Lothar.

„Sagen Sie lieber: das Unvernünftigste! Und das Kind hing mit einer solchen Leidenschaft an dem Andenken des Vaters – wie glücklich war es, wenn es bei mir und meiner Frau davon plaudern durfte, es verzehrte sich förmlich in Sehnsucht und Erinnerung! Helmreich brachte ja schließlich die große Heldenthat fertig, den Widerstand des neunjährigen Kindes zu brechen, aber wie das geschah, das muß man mit angesehen haben – es hat der Kleinen beinahe das Leben gekostet.“

Reinhart legte plötzlich das Bild nieder, trat an das Fenster und blickte hinaus, während Sonneck mit verfinstertem Gesichte zuhörte.

„Das Kind war damals schwer krank, ich weiß,“ warf er ein.

„Ja, es war eines Tages in seiner Verzweiflung entflohen, war fortgelaufen von dem ‚bösen, bösen Großvater‘, hinaus in die Winternacht, in Schnee und Eis, soweit die Füßchen es trugen, bis es zusammenbrach. Erstarrt und leblos wurde es aufgefunden; die Folge war eine schwere Krankheit und es war zum Erbarmen, wie das arme kleine Ding im Fieber nach dem toten Vater weinte und die Aermchen nach ihm ausstreckte. Ich glaube: damals hat sogar dem Professor das Gewissen geschlagen. Ich sagte es ihm freilich ins Gesicht, daß, wenn es mir nicht gelänge, das Kind zu retten, er an seinem Tode schuld sei, und das hat er mir bis auf den heutigen Tag nicht verziehen!“

Der sonst so heitere Mann hatte sich in eine förmliche Erbitterung hineingeredet; jetzt fuhr er ruhiger fort: „Sie begreifen es nun wohl, daß ich nicht viel Mitleid mit dem Alten da oben habe, trotz seines Leidens. Die Kleine genas ja endlich nach wochenlanger Gefahr, und da war ihre Widerstandskraft gebrochen und die früher so lebhafte Erinnerung völlig erloschen. Sie wußte kaum mehr, daß sie früher in einem anderen Lande, unter ganz anderen Verhältnissen gelebt hatte, sogar das Andenken des Vaters war nebelhaft und undeutlich geworden und ich hütete mich wohl, das wieder aufzuwecken, denn damit hörte auch die krankhafte Sehnsucht auf und das war ein Glück. Schließlich ist ihr das alles ganz entschwunden!“

Die beiden Männer hatten schweigend zugehört. Sonneck sprach auch jetzt nicht, aber man sah es, wie die Erzählung ihn erregt hatte. Reinhart stand noch immer mit verschränkten Armen am Fenster, ohne sich umzuwenden, da erhob sich drunten im Garten ein Lärm, der aber freudiger Natur zu sein schien, denn man hörte Jubel- und Hurrarufe. Bertram wurde aufmerksam.

„Was giebt es denn da draußen? Sind die Jungen toll geworden?“ rief er und trat gleichfalls an das Fenster, wo er nun allerdings die Ursache entdeckte. Im Garten stand ein riesiger Neger, der verschiedene Reiseeffekten trug, während hinter ihm ein Träger mit einem großen Koffer sichtbar wurde. Die drei hofrätlichen Sprößlinge hatten den Schwarzen beim Eintritt abgefangen und gaben nun ihre Verwunderung und ihr Entzücken über diesen neuen afrikanischen Besuch in der stürmischsten Weise kund.

„Es ist mein Achmet mit dem Gepäck,“ sagte Ehrwald. „Wollen Sie so freundlich sein, ihn zurechtzuweisen? Ich weiß ja noch gar nicht, wo meine Zimmer liegen.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0227.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)