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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Er entfernte sich sorglos, wie er gekommen war, und begab sich nach dem Konak seines Vaters. Er sah sich am Strande nach seinem Freunde Ali um; aber der war nicht zur Stelle; auch während der nächsten zehn Tage zeigte sich der Zwerg nicht. Dies betrübte Murad, denn er hatte den Mann wegen seiner verständigen Reden und guten Augen liebgewonnen. – Ali Bey hatte inzwischen seine alte Stellung am Hofe wieder eingenommen und erfreute sich in einem Maße wie nie zuvor der Gunst und des Vertrauens seines Herrn. Auf diesem schien seit einiger Zeit ein schwerer Kummer zu lasten. Ali Bey erkühnte sich nicht, nach der Ursache desselben zu forschen; aber als der Sultan eines Tages den sorgenden Blick überraschte, mit dem der Zwerg ihn beobachtete, begann er selbst von seinem Leid zu sprechen.

„Du bemerkst, daß ich traurig bin?“ fragte er.

„Ich habe es bemerkt, und es bekümmert mich. Ich möchte, es läge in meiner Macht, Euch zu helfen, Effendimis.“

„Es liegt in keines Menschen Macht. – Meine geliebte Tochter, die Prinzessin Scheriffeh, ist bedenklich erkrankt. Ihr Leben ist in Allahs Hand.“

„Möge er ihr Gesundheit verleihen!“

Der Sultan blickte längere Zeit nachdenklich vor sich hin. Dann fuhr er fort: „Du erinnerst Dich doch des jungen Mannes, der an der Pforte des Haremsgartens Fische abzuliefern pflegte?“

„Ich erinnere mich seiner wohl, denn ich habe ihn liebgewonnen.“

„Erzähle mir alles, was Du von ihm weißt.“

Der kluge Zwerg hatte sogleich verstanden, was vorgefallen war: der Sultan hatte befohlen, daß die Beziehungen Murads zum Harem abgebrochen würden, und die Prinzessin Scheriffeh war an Liebesleid erkrankt. Vielleicht war es in Alis Hand gegeben, diesen Kummer zu heilen. Er wollte es versuchen.

„Der junge Fischer Murad ist ein Fürstensohn,“ begann er. „Außerhalb der kaiserlichen Familie giebt es im Reiche keinen Jüngling vornehmerer Abkunft als ihn.“ – Und darauf erzählte er alles, was er von seinem Bruder Nassuch Haga über den vertriebenen Chan von Georgien, Timbook, und dessen Sohn erfahren hatte. Dabei legte er besonderes Gewicht auf das tadellose Benehmen des alten Fürsten, auf den bescheidenen Gebrauch, den er von seinen Rechten als Gastfreund des Sultans machte, sowie auf das tugendhafte Leben Murads.

Der Großherr hörte aufmerksam zu. Als Ali Bey seine Erzählung beendet hatte, sagte er: „Bitte meinen Gastfreund Timbook, mich heute abend eine Stunde vor Sonnenuntergang aufzusuchen.“

Timbook war durch diesen Befehl überrascht, aber er gehorchte ihm unverzagt, denn er war sich keiner Schuld bewußt. Sein Aeußeres gefiel dem Sultan. Timbook war von hoher Gestalt und edlem Antlitz, und sein ehrfurchtsvoller Gruß, wie er sich dem Großherrn näherte, war frei von Unterwürfigkeit und zeigte die ruhige Würde eines Fürsten. Als einem solchen gab ihm der Sultan den Gruß zurück. Dann, nach einigen freundlichen Worten, sagte cr: „Habt Ihr Kinder?“

„Allah hat mir einen Sohn geschenkt,“ antwortete Timbook.

„Weiß er, daß er von fürstlichem Geblüt ist?“

„Er weiß es nicht. Ich habe es ihm verschwiegen, um nicht unerfüllbare Wünsche in ihm zu erregen.“

„Sprecht mir von Eurem Sohne, ich bitte Euch.“

„Ich gehorche Euch gern, Effendimis, denn mein Herz ist voll von ihm; aber Ihr werdet wohl in meinen Worten nur den Ausdruck blinder Vaterliebe erkennen. – Mein Sohn ist fromm, stark, gut, mutig. Er ist seinem Vater gegenüber ehrfurchtsvoll, seiner Mutter bescheiden und zu Diensten; Fremde preisen seine guten Sitten, Arme seine Wohlthätigkeit.“

„Ich möchte Euren Sohn kennenlernen,“ sagte der Sultan. „Bescheidet ihn morgen zu dieser Stunde zu mir.“

Die Zusammenkunft, die darauf zwischen dem Sultan und Murad stattfand, war nur von kurzer Dauer, aber der Fürstensohn hatte während derselben einen so günstigen Eindruck auf den Großherrn gemacht, daß dieser schon am folgenden Tage seinen Vertrauten Ali Bey mit der Mitteilung an Timbook entsandte, der Sultan habe beschlossen, Murad seiner Tochter, der Prinzessin Scheriffeh, zum Gemahl zu geben. – Ali Bey war hocherfreut, Ueberbringer dieser Botschaft zu sein, und Timbook fühlte sich dadurch ebenso überrascht wie geehrt. Sehr erstaunt aber waren beide darüber, wie Murad die Nachricht aufnahm. Er zeigte keine Befriedigung, blickte nachdenklich vor sich hin und sagte endlich: „Was Ihr nur befehlt, Herr Vater, das werde ich thun, doch sei es mir gestattet, den Wunsch auszusprechen, nicht der Gemahl einer Sultana zu werden.“

„Warum willst Du diese hohe Ehre zurückweisen?“

„Weil ich oftmals von den Launen und dem Hochmut der Sultanstöchter habe sprechen hören.“

„Die Prinzessin Scheriffeh ist milde und schön. Du wirst sie lieb gewinnen.“

„Aber wenn sie mich durch Hochmut kränkte?“

„Sie wird Dich nicht kränken; thäte sie es, so würdest Du Deine Würde zu wahren wissen.“

„Dazu habe ich also Eure Erlaubnis, Herr Vater. Ich danke Euch und gehorche Euch.“

„Ungehorsam gegen den Wunsch des Großherrn wäre unmöglich,“ sagte der Chan kleinlaut, denn die Haltung seines Sohnes hatte ihn besorgt gemacht.

Die Vermählung zwischen Scheriffeh Sultana und Murad fand bald darauf statt. Die Genesung der Prinzessin hatte mit dem Augenblick begonnen, da der Großherr ihr mitgeteilt, er habe den jungen Murad zu ihrem Gemahl auserkoren, und in kurzer Zeit war die Krankheit vollständig gewichen. Während der nächsten Tage hatte die Prinzessin jedoch noch mit mancherlei kleinen Kümmernissen zu kämpfen gehabt, nämlich mit den gutgemeinten Ratschlägen der älteren Haremsdamen ihrer Umgebung. Diese waren, längere Zeit ohne Erfolg, bemüht gewesen, der jungen Sultana verständlich zu machen, wie sie sich als Neuvermählte zu benehmen haben werde. Sitte und Gebrauch erheischten, so hatte man ihr erklärt, daß sie ihren Gemahl zunächst mit Kälte und anscheinender Geringschätzung behandele und ihm nicht die geringste Vertraulichkeit, nicht einmal, daß er ihr die Hand küsse, gestatte. – Scheriffeh hatte sich aber erst geneigt gezeigt, den strengen Regeln der Etikette zu gehorchen, als es den Haremsdamen gelungen war, sie davon zu überzeugen, daß jeder Verstoß dagegen den jungen Gemahl peinlich berühren würde. – Doch war es mit Zittern und Zagen, daß sie, nach Beendigung der Hochzeitsfeier, den Ehrenplatz auf dem Diwan in ihrem Harem eingenommen hatte, um dort die Ankunft des geliebten und gefürchteten Gemahls zu erwarten. Bald darauf erschien Murad. Er verrichtete zunächst, ohne seine Gemahlin angeblickt zu haben, das vorgeschriebene Gebet, dann verbeugte er sich tief und näherte sich der Prinzessin. Als er vor ihr stand, wiederholte er seinen Gruß, wobei er den Saum ihres Gewandes an seine Lippen führte und einige artige Worte murmelte. – Scheriffeh, das Antlitz von einem mit Diamanten durchwirkten Schleier bedeckt, die Augen zu Boden geschlagen, rührte sich nicht, sagte kein Wort und that, als ob sie die Anwesenheit ihres Gemahls überhaupt nicht bemerkte.

Murad war auf diesen Empfang vorbereitet und fühlte sich dadurch nicht verletzt; aber sein Stolz gestattete es ihm nicht, irgend eine Vergünstigung von der Sultana erbitten zu wollen. Er ließ sich gelassen in der Nähe der Prinzessin nieder, ohne den ersten schwachen Versuch, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, zu erneuern. – Nach einer kleinen Weile klatschte Scheriffeh in die Hände und sogleich erschienen zwei Sklavinnen, die einen mit einem einfachen Nachtmahl bedeckten Tisch herbeitrugen. Als sie sich wieder entfernt hatten, erhob sich Murad, um die Prinzessin zur Tafel zu führen; aber er war langsam in seinen Bewegungen und die Prinzessin kam ihm zuvor. Sie schritt an ihm vorüber, nahm den für sie bestimmten Platz am Tische ein, und es blieb Murad nichts weiter übrig, als sich ihr gegenüber niederzulassen. Er that das ohne Verlegenheit und ohne Verdruß, vielmehr fand er einige höfliche Worte, um zu entschuldigen, daß er mit seinen beabsichtigten Dienstleistungen zu spät gekommen sei. – Scheriffeh, der ihr gegebenen Ratschläge eingedenk und von Sorge erfüllt, daß sie etwas thun oder sagen könnte, wodurch sie das Zartgefühl Murads verletzen würde, verharrte in tiefem Schweigen.

Murad erhob die Augen und sah vor sich eine zarte weiße, tief verschleierte Gestalt und die zierlichsten Hände, die er je erblickt hatte. Das war alles. Scheriffeh hielt die Augen zu Boden geschlagen, und Murad konnte nicht einmal deren Farbe erkennen.

„Wollt Ihr nicht den Schleier lüften und etwas genießen?“ fragte er.

Keine Antwort und keine Bewegung.

Murad fing an, sich etwas unbehaglich zu fühlen, aber er

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0231.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)