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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Allmählich werden ihr auch die häuslichen Verrichtungen sozusagen spielend beigebracht. Sie sind in japanischen Haushaltungen nicht so bedeutend wie bei uns, denn die einfachen, einstöckigen Häuschen haben wie gesagt fast gar keine Möbel, Nippsachen, Bilder, Spiegel, Teppiche, Fenster u. dergl. Die Zimmer sind kahle Räume mit mattenbedecktem Boden, die Wände Papierrahmen, und die Reinhaltung derselben sowie der Engawa, d. h. der rings um das Haus laufenden Galerie, ist ziemlich leicht. Die Schlafstätten beschränken sich auf einfache Matratzen, die abends auf den Fußboden gelegt und morgens, wieder zusammengerollt, in einem Schrank aufbewahrt werden, und was die Mahlzeiten anbelangt, so brauchen sich die japanischen Mädchen nicht mit der höheren Kochkunst abzumühen, verschiedene Suppen, Braten und Mehlspeisen zubereiten zu lernen, in die Geheimnisse der Tunken und Präserven einzudringen, denn all’ diese kulinarischen Genüsse wird auch der verwöhnteste Gatte nicht von ihr verlangen. Morgens Reis, mittags Reis, abends Reis, dazu getrocknete Fische und einfach gekochte Gemüse, das sind die Gerichte des täglichen Speisezettels. Es giebt auch keine Spitzen und feine Wäsche zu reinigen, keine Balltoiletten nach neuester Mode anzufertigen, keine Hüte zu schmücken; die einzige Fertigkeit, welche die jungen Mädchen in Japan brauchen, ist das Nähen; ihr schlafrockartiger Kimono und das Unterröckchen, das sie tragen, bedürfen keiner Modistin und Damenschneiderin: sie nähen ihre Kleidungsstücke selbst, und sind diese schmutzig, dann werden sie zertrennt und in kaltem Wasser ohne Seife gewaschen. Das Plätteisen ist den Japanern unbekannt. Nach jeder Wäsche werden die Kleidungsstücke neu genäht. Strümpfe und Schuhe in unserem Sinne werden von den Japanerinnen ebensowenig getragen wie Hüte. Ihre einzige Kopfbedeckung ist die allerdings sehr sorgfältige, mit Nadeln und Blumen geschmückte Haarfrisur, und diese wird alle Wochen einmal von eigenen Haarkünstlerinnen gegen ganz geringes Entgelt sorgfältig aufgebaut. Damit der Kopfputz nicht in Unordnung gerate, dürfen die armen Japanerinnen während des Ruhens keine Kopfkissen verwenden, sondern sie legen unter ihren Nacken einen Holzklotz, über welchen die Köpfchen, wie es die nebenstehende Abbildung zeigt, frei hervorstehen.

Die geistige Erziehung hat bis auf das letzte Jahrzehnt viel weniger Zeit erfordert als das Anlernen verschiedener Nichtigkeiten, die aber im Lande des Mikado eine große Rolle spielen. Die jungen Mädchen werden sorgfältig in die Geheimnisse der ceremoniellen Theebereitung (Tscha no yu) eingeweiht, sie lernen das umfangreiche Ceremoniell der Begrüßung und Bewirtung der Gäste, das Zusammenstellen und Binden von Blumensträußen, Samisen (Guitarre) spielen und in besseren Familien wohl auch verschiedene alte Tänze und Pantomimen zur Unterhaltung ihrer Eltern und etwaiger Gäste. Im Alter von sechs bis zehn Jahren besuchen sie irgend eine Privatschule, wo ihnen das Lesen und Schreiben der chinesischen und japanischen Schriftzeichen, chinesische Litteratur, japanische Dichtkunst und Geschichte beigebracht werden. Arithmetik, Geographie, Weltgeschichte und all die anderen Wissenschaften unserer Schulen werden den japanischen Kindern erst seit etwa einem Jahrzehnt bis zu einem gewissen Grade gelehrt; zuerst aber müssen sie dem chinesisch-japanischen Schulgang folgen. Es ist keine geringe Aufgabe für die armen jungen Wesen, nachdem sie mühsam die ungemein schwierige Schriftsprache der Mongolen und das Malen der Tausende von Hieroglyphen mit Pinsel und Tusche erlernt haben, die letzteren mit Feder und Tinte zu vertauschen und Englisch, Deutsch oder Französisch zu lernen; statt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden zu hocken, auf Schulbänken zu sitzen, an Schultischen zu schreiben; und diese Schulfrage gehört in Japan noch immer zu den ungelösten, ja vielleicht unlösbaren Fragen. In Tokio, Yokohama und anderen Städten, in welchen die europäische Kultur einigermaßen Fortschritte gemacht hat, war es mir ein befremdender Anblick, an Stelle der reizenden buntgekleideten und geschmückten Miniaturjapaner diese kleine Welt in europäischer Kleidung mit Schulbüchern unter dem Arm zu sehen, ganz so wie bei uns. Den Eltern bereitet diese von der Regierung dekretierte europäische Erziehung und Kleidung ihrer Kinder schwere Sorgen und Kosten. Für die Jungen sind die Vorteile der neuen Erziehung noch leichter zu erkennen, bei den Mädchen aber wird die letztere einen vollständigen Umschwung in ihrem ganzen Leben und damit auch einen Umschwung der Kultur und Lebensweise des ganzen Volks mit sich bringen. Ob aber die sittliche Grundlage für die letztere wirklich vorhanden ist?

Augenblicklich muß man noch im verneinenden Sinne antworten, denn die japanischen Kinder genießen keinerlei Religionsunterricht, das Christentum macht nur ungemein langsame Fortschritte und die Moral nach unseren Begriffen steht bei den Japanern auf einer verhältnismäßig sehr niedrigen Stufe.

Unsere Ansichten über die Tugend und Keuschheit, über die Liebe, Liebeswerben und Sittsamkeit sind der großen Mehrzahl des Volkes überhaupt unverständlich, und es mnß gerechtes Erstaunen wecken, daß die japanische Jugend trotzdem einen so hohen Grad von kindlicher Naivetät besitzt.

Und dabei bleiben Knaben und Mädchen in Japan länger Kinder als bei uns; sie sind sich keines Unrechtes bewußt und freuen sich ihrer Kindheit, freuen sich an niedlichen unschuldigen Spielen, freuen sich an Puppen und Märchen und Festlichkeiten, an denen es gerade in Japan eine übergroße Zahl giebt. Schon in ihrer frühesten Jugend lernen sie die Arithmetik, indem sie an den Fingern abzählen, wie viele Tage es noch zu dem nächsten Matsuri (Volksfcst) sind. Zu Neujahr, bei den buddhistischen oder nationalen oder häuslichen Festtagen werden sie in die denkbar buntesten Kleider gesteckt und wie Püppchen geputzt; die Mädchen pudern und bemalen ihre Gesichter, schwärzen die Augenbrauen, schminken die Lippen, geradeso, ja eher noch mehr als die Alten, und es kann keinen lustigeren Anblick geben als an solchen Festtagen die zu den Tempeln führenden Straßen und die Tempelhöfe selbst, wo Hunderte von Buden mit allerhand bunten und sinnreichen Spielwaren errichtet sind, und zwischen denen dieses kleine Puppenvolk, begleitet von den Eltern, sich drängt, alles betrachtet, alles kauft und sich freut, so daß auch der ärgste Kinderfeind sich mit freuen muß. Jede Stadt Japans ist eine Art Nürnberg oder Sonneberg; in jeder Straße findet man Spielzeuge aller Art, und die Spielwarenindustrie ist eine der bedeutendsten des ganzen Landes.

Das größte Fest der Mädchen ist das Puppenfest, das am dritten Tage des dritten Monats abgehalten wird, und es giebt an diesem Tage wohl wenige Häuser im Reiche des Mikado, wo nicht sämtliche Puppen aus den Truhen hervorgeholt, sorgfältig herausgeputzt, gekleidet und auf Gestelle gesetzt werden, zur Freude der jungen Welt. In den Häusern des Adels kommen dabei zuweilen Hunderte von Puppen zum Vorschein, die zum Teil alte Familienerbstücke sind und gewöhnlich den Kaiser, die Kaiserin, das Gefolge und den Adel in Prachtgewändern darstellen. Die kleinen Mädchen dürfen dann den Puppen in winzigen Geschirren die Speisen kochen und auf ebenso winzigen Tischchen vorsetzen, sie spazieren führen, an- und auskleiden. An den öffentlichen Feiertagen freuen sich die Kleinen mit den Großen; sie spielen auf der Straße fast dieselben Spiele wie unsere Kinder, Ball und Drachen und Federball; im Winter, wenn es kalt ist, hocken sie um den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0238.jpg&oldid=- (Version vom 14.11.2020)