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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (14. Fortsetzung.)

Kronsberg fing allmählich an, sich zu bevölkern. Trotz der verhältnismäßig noch rauhen Jahreszeit kamen doch schon Gäste von nahe und fern und die Frühsaison versprach sehr belebt zu werden. Ehrwald hatte sich in den drei Tagen, die seit seiner Ankunft verstrichen waren, ausschließlich seinem Freunde gewidmet und verkehrte sonst nur noch mit der Bertramschen Familie, die in der That alles aufbot, ihm den Aufenthalt angenehm zu machen. Besonders die jüngsten Familienglieder leisteten darin Außerordentliches, sie spielten ihm und Sonneck zu Ehren nur noch „Afrikaner“, und zwar meist unter der sachverständigen Leitung Achmets, der das doch verstehen mußte. Zum Glück sprach er etwas deutsch und die drei kleinen Europäer hingen sich wie die Kletten an den gutmütigen Schwarzen. Daß bei diesen orientalischen Spielen noch etwas mehr Lärm vollführt wurde als gewöhnlich, war selbstverständlich, störte aber niemand, und man war allerseits sehr zufrieden miteinander.

Sonneck selbst war täglich einige Stunden in Burgheim bei seiner Braut, hatte aber bisher weder seinen Freund dort vorstellen, noch das Versprechen halten können, das er Lady Marwood hinsichtlich Elsas gegeben hatte. Professor Helmreich befand sich zwar bedeutend besser, sein Zustand erlaubte aber seiner Enkelin noch nicht, Besuche zu machen oder anzunehmen.

In den Vormittagsstunden pflegte im Bertramschen Hause gewöhnlich Ruhe zu herrschen, denn die beiden ältesten Knaben, die schon in dem vorgeschrittenen Alter von sieben und acht Jahren standen, befanden sich dann in der Schule, und das war auch heute der Fall. Der Jüngste, der erst vierjährige Hans, vergnügte sich inzwischen im Kinderzimmer mit einem ganz neuen Spielwerk, einer Art Flöte, die ihm Achmet sehr kunstvoll geschnitzt hatte, und welcher der junge Virtuos jetzt Töne entlockte, die allerdings mehr merkwürdig als schön waren.

Die Frau Hofrätin saß im Wohnzimmer mit einer Handarbeit beschäftigt, als die Thür sich öffnete und das Stubenmädchen sich zeigte, offenbar in der Absicht, jemand anzumelden, aber es kam nicht so weit. Das Mädchen wurde plötzlich zur Seite geschoben, eine ältere, sehr lange Dame trat ein, die in der einen Hand eine Reisetasche, in der anderen einen großen Regenschirm trug und mit dem letzteren nachdrücklich auf den Boden stampfte, während sie kurz und bündig sagte: „Guten Tag, Selma! Da bin ich!“

„Ulrike!“ rief die junge Frau, überrascht aufspringend. „Du kommst schon jetzt? Deinem Briefe nach erwarteten wir Dich ja erst gegen Abend.“

„Ich bin die Nacht durch gefahren und habe mir an der Bahnstation einen Wagen genommen,“ erklärte Ulrike. „Draußen steht er mit dem Gepäck. Laß es hereinbringen!“

Es war noch der alte herrische Ton, der jetzt sehr ungewohnt in den Ohren der Frau Hofrätin klang; trotzdem begrüßte sie ihre Schwägerin freundlich, war ihr beim Ablegen ihrer Sachen behilflich und gab dem Mädchen Weisung, das Gepäck nach dem Fremdenzimmer zu schaffen. Ulrike sah sich inzwischen in dem geschmackvoll und behaglich eingerichteten Wohnzimmer um, dann bemerkte sie trocken: „Nun, vornehm genug sieht es hier bei Euch aus. In Martinsfelde war es einfacher. Und nun habt Ihr Euch gar einen schwarzen Lakaien angeschafft. Ich denke, ich komme in ein deutsches, christliches Haus, und das erste, was ich sehe, ist solch ein rabenschwarzes heidnisches Ungetüm, wie sie am Nil zu Hunderten herumlaufen. Das grinst mich an und will mir meine Reisetasche nehmen, in der ich das Geld habe, aber ich drohte ihm mit dem Regenschirm, daß es zurückfuhr.“

„O, das war der Achmet des Herrn Ehrwald,“ lachte Selma. „Ich schrieb es Dir ja, daß wir die beiden berühmten Gäste Sonneck und Ehrwald im Hause haben. Achmet ist sehr gutmütig und dienstfertig, er hat die Tasche nur tragen wollen.“

„Einerlei, ich leide es nicht, daß man mir meine Sachen so aus den Händen reißt,“ erklärte Fräulein Mallner, „und diesem afrikanischen Diebsgesindel träue ich ein für allemal nicht. Aber nun laß Dich einmal anschauen, Selma, wir haben uns ja zehn Jahr lang nicht gesehen!“

Sie musterte die kleine blühende Frau, die mit dem rosigen lachenden Gesichte allerdings himmelweit verschieden war von der blassen, ängstlichen und verschüchterten Witwe des seligen Martin. Aber auch Selma kam jetzt erst dazu, ihre Schwägerin genauer anzusehen. Schöner war Fräulein Ulrike Mallner im Laufe der Jahre nicht geworden, aber noch etwas hagerer und sehr viel älter. Das nunmehr ganz einsame Leben, das sie in Martinsfelde geführt hatte, schien sehr ungünstig auf sie gewirkt zu haben, denn während sie früher nur herrisch und rücksichtslos gewesen war, hatte ihr ganzes Wesen jetzt einen Zug von Verbitterung und Verbissenheit, der sofort hervortrat.

„Dir ist es gut gegangen, das sieht man!“ sagte sie im herbsten Tone. „Mir nicht. Mein Martinsfelde haben sie mir genommen, Du weißt es ja, und nun bin ich obdachlos in die Welt hinausgetrieben worden.“

„Du hättest ja aber das Gut nicht sofort zu übergeben brauchen,“ wandte Selma ein. „Man wollte Dir ja Zeit lassen bis zum Herbste, nötigenfalls bis zum nächsten Frühjahr.“

„Glaubst Du etwa, daß mir das Vergnügen gemacht hätte?“ fuhr das Fräulein zornig auf. „Soll ich vielleicht noch ein Jahr lang arbeiten, wenn ich weiß, daß dann Haus und Hof dem Boden gleich gemacht werden, um Raum zu schaffen für diese verwünschten Bahnbauten! Da ich nun einmal fort mußte, ging ich lieber gleich.“

Der rücksichtslose Ton berührte die Frau Hofrätin sehr peinlich und es kam ihr der Gedanke, daß sie mit dieser Einladung doch wohl einen Fehlgriff begangen habe. Da erhob sich nebenan im Kinderzimmer ein lautes Zetergeschrei, dazwischen tönten zwei streitende Knabenstimmen und das Gepolter eines umfallenden Stuhles. Ulrike wurde aufmerksam.

„Was giebt es denn da?“ fragte sie. „Ist etwas geschehen?“

„O nein, es sind nur meine Jungen,“ versetzte Selma mit vollster Seelenruhe. „Sie werden sich wohl wieder prügeln, wie gewöhnlich.“

„Und das leidest Du?“ rief die Schwägerin entrüstet.

„Warum denn nicht? Das liegt nun einmal in der Natur der Jungen und Adolf meint, es sei eigentlich eine sehr gesunde Bewegung. Aber sie sollen nicht solchen Lärm dabei machen, ich werde sie gleich zur Ruhe bringen.“

Damit stand Selma auf, ebenso gelassen wie vorhin, und öffnete die Thür des Nebenzimmers, wo sie ihre Voraussetzung denn auch bestätigt fand. Die beiden ältesten Knaben waren soeben nach Hause gekommen, denn sie trugen die Schulranzen noch auf dem Rücken, und hatten das neue Spielzeug ihres jüngsten Bruders schleunigst begutachten und probieren wollen. Dieser aber wehrte sich dagegen; er verteidigte tapfer sein Eigentum, und als er der Uebermacht weichen mußte, erhob er ein lautes Hilfegeschrei. Die beiden anderen aber waren nun ihrerseits über die eroberte Flöte in Streit geraten und augenblicklich bildeten alle drei einen Knäuel und pufften eifrig und vergnüglich aufeinander los, als die Mutter dazwischen fuhr.

Sie faßte ihren ältesten Sprößling mit der rechten, den zweiten mit der linken Hand und gab jedem eine schallende Ohrfeige, dann raffte sie ihren Jüngsten auf, der zappelnd am Boden lag, und schalt sie alle aus.

„Könnt Ihr denn niemals Ruhe halten? Was soll die fremde Tante denken, die eben angekommen ist! Schämt Ihr Euch denn gar nicht?“

Die Neuigkeit wirkte. Die Knaben wurden augenblicklich ruhig und besahen sich die fremde Tante, die erst heute abend ankommen sollte und nun schon da war. Diese aber stand starr und steif auf der Schwelle und blickte auf die kleine Frau, die so energisch Ruhe stiftete.

„Nun, das muß man sagen – Du hast Dich ganz merkwürdig verändert!“ brach sie endlich aus.

„Ja, wenn man drei solche Wildfänge hat, kommt man mit der Sanftmut nicht durch!“ meinte Selma. „Jetzt folgt mir ins Wohnzimmer, gebt der Tante die Hand und benehmt Euch artig!“

Die Knaben gehorchten und die beiden ältesten, Adolf und Ernst, wie der kleine Hans wurden jetzt in aller Form vorgestellt. Fräulein Mallner sah jeden einzelnen scharf an, dann zuckte sie die Achseln und sagte mit Bedauern: „Allesamt dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten! Deshalb sind sie auch so geraten!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0242.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2023)