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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Der Unausstehlius lebte namenlos unglücklich mit diesem Kinde. Das tückische Schicksal hatte das kleine Wesen neben sein Zimmer quartiert und man kann sich die Folgen ausmalen. Brunhilde nahm öfter schon morgens um fünf Uhr – bisweilen sogar nachts um zwei irgend etwas tödlich übel und pflegte dann in ein schmetterndes Geschrei auszubrechen. Dies währte so lange, bis ihre Mutter sich mit ihr in Trab setzte und etwa eine halbe Stunde lang mit der eintönigen und beruhigenden Versicherung, daß Gänschen gewöhnlich keine Schuhe tragen, Brunhilden und den Direktor zugleich einsang. Nach einer solchen Nacht – wie sie eben heute gewesen war – war die Laune des letzteren geradezu unbeschreiblich und er versicherte jedem, der ihm begegnete, daß er am liebsten den Kalk von den Wänden kratzen möchte, eine Zerstreuung, die ihm mit einem kühlen „Bitte!“ widerspruchslos zugestanden wurde.

Es hatte sich schon eine gewitterschwüle Atmosphäre um den Direktor gebildet, der die allgemeine Gemütlichkeit so arg beeinträchtigte, und erst vorsichtig und leise, dann immer unverhohlener begann die Ansicht Platz zu greifen, daß man aus Gründen der Selbsterhaltung etwas gegen diesen Störenfried thun müßte. Aber was?

Man hatte erst den Versuch gemacht, den alten Brummbär, wie eine knarrende Thür, durch Liebenswürdigkeit zu ölen – da dies aber absolut nicht gelang, tauchte der Wunsch, ihn aus den Angeln zu heben, immer deutlicher auf.

Die Unterhaltungen über diesen zarten Punkt wurden schließlich immer unvorsichtiger und öfter in Gegenwart von Männe geführt, der sie sich hinter seine Schlappohren schrieb und seine Entschlüsse demgemäß faßte. Am heutigen Morgen hatte, wie gesagt, der Direktor seinen bösesten Tag. Gleich nach dem Frühstück erschien er bei Landgerichtsrats am Strande und quetschte sich mit einem brummend hingeworfenen: „Ist’s erlaubt?“ in ihren Strandkorb – ein Verfahren, das schon bei sympathischen Menschen von zweifelhaftem Wert ist.

„Schauderhaft sitzt sich’s hier!“ bemerkte er liebenswürdig.

„Dann gehen Sie wo anders hin!“ meinte der Landgerichtsrat kurz.

„Nein!“ erwiderte der Unausstehlius zartfühlend, „allein mag ich nicht sitzen – das ist noch schauderhafter!“

Der Landgerichtsrat zuckte die Achseln und vertiefte sich in seine Zeitung.

„Die ganze Nordsee ist schauderhaft!“ fuhr der alte Herr fort, „und dafür schwärmen die Leute nun! Das ist echt! Was kann sie denn? Entweder ist Ebbe – da kriecht sie so feige weg wie ein geprügelter Hund – oder es ist Flut – da macht sie ‚Buu!‘ und kommt wütend auf mich zugerannt!“

Dieses letztere schien der Sprecher als einen Eingriff in seine heiligsten Rechte anzusehen, die er sich, allem Anschein nach, als Spezialität vorbehalten hatte.

Der Landgerichtsrat legte resigniert seine Zeitung zusammen.

„Ich will Ihnen einen guten Rat geben,“ sagte er dann, „wenn Sie wieder einmal an die See gehen, dann gehen Sie an die Ostsee – die gefällt Ihnen vielleicht besser, und Sie ihr auch! Komm, Luise – wir wollen spazieren gehen!“

Damit ließ er den Direktor im Genuß seines Strandkorbes, und dieser, im frohen Bewußtsein, den rechtmäßigen Eigentümer hinweggeekelt zu haben, ließ es sich für eine Weile wohl sein.

Dieser heutige Tag sollte übrigens das Verhältnis zwischen Brunhilde und dem Unausstehlius krönen und zugleich die Feindseligkeiten mit Männe offiziell eröffnen.

Der Unausstehlius saß bei Tisch wie ein wutschnaubender Robinson Crusoe an einem Tischeckchen, wo noch ein Platz frei war. Da fügte es sich durch eine besondere Schiebung, daß die Mutter mit Brunhilden an dieselbe Ecke wie an eine unwirtliche Küste verschlagen wurde, und daß Brunhilde an diesem Tage in Bezug auf gesellschaftliche Umgangsformen entschieden nicht ihren glücklichen Tag hatte, haben wir schon erfahren.

Sie griff mit den Händchen erst in den mütterlichen Suppenteller, dann ins Salzfaß, fiel zweimal vom Stuhl, schrie, sollte angebunden werden, wollte sich nicht anbinden lassen und mußte von der verzweifelten Mutter zwischen jedem Gange hinausgetragen und beschwichtigt werden.

Der Direktor, in dieser allerdings unliebsamen Weise in seinen Speisefreuden gestört, nachdem ihm Brunhilde schon den Schlummer geraubt hatte, befand sich infolge dieser Zwischenfälle begreiflicherweise in einer Stimmung, daß er ohne weiteres als Ehrenmitglied in ein Komitee für den bethlehemitischen Kindermord hätte gewählt werden können, und kam aus dem Fletschen überhaupt nicht mehr heraus. – Männe hätte nun auf diese heut’ wirklich entschuldbare Gemütsverfassung des Unausstehlius Rücksicht nehmen können, aber er war durch die allgemeine Duldung so verwöhnt, daß er sich schon allerlei kleine Freiheiten herausnahm und bisweilen sogar während der Mahlzeiten in der Pension erschien.

Heute – es gab Kotelette, sein Leibgericht, wie ich als mildernden Umstand für Männe anführen möchte – hatte er sich wieder eingefunden und die Unbescheidenheit sogar so weit getrieben, daß er sich einen Freund eingeladen hatte, den vorerwähnten Spitz Max, mit dem er sich nun unter Karls Stuhl – in unmittelbarer Nachbarschaft des Unausstehlius – aufhielt, wo er auch schon ein Stückchen Fleisch erschnappt hatte.

Da entdeckte die unselige Brunhilde das Freundespaar und machte es mit dem jauchzenden Ruf „Wauwau“ kündbar! Ein Gemurmel „Der Hund ist hier – zwei Hunde!“ durchlief die Tafelrunde; der Direktor trat wild um sich und verabfolgte Männe mit seinem Absatz einen wohlgezielten Puff.

Männe entfloh unter lautem Aufheulen, Max hinterher – und der Unausstehlius erklärte, unbekümmert um die vorwurfsvollen Blicke der Anwesenden, „wenn er in eine Hundehütte gehen wollte, brauchte er nicht fünfunddreißig Mark Pension zu bezahlen!“

Karl, als verantwortlicher Redakteur, stürzte nun auf den gestattenden Wink des Vaters hinter den Hunden her, beförderte Max mit einem Tritt in die freie Natur hinaus und band Männe, bis man ihn mit an den Strand nehmen könnte, an den Luftkegelpfahl, der unweit des Hauses stand. Männe fühlte sich daselbst unglücklich und brach sofort in ein langgezogenes, mißtönendes Geheul aus, das er mit einer Ausdauer fortsetzte, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre.

Landgerichtsrats thaten natürlich so unbefangen, als ob sie gar nichts hörten, und das Gespräch der Tischgesellschaft, das den bedauerlichen Vorfall mit mehr oder weniger Humor behandelte, wurde für die nächste Zeit so lebhaft, daß Männe sich wieder einmal als maître de plaisir für die allgemeine Unterhaltung hätte betrachten können, wozu ihm in seiner augenblicklichen Lage nur leider die nötige Objektivität fehlte. Unmittelbar nach Tisch begab man sich zum Kaffeetrinken auf die Veranda. Der Direktor erlöste die Gesellschaft für eine Weile von seiner Gegenwart, indem er sofort auf sein Zimmer ging, um ein Schläfchen zu thun.

Die anderen atmeten erleichtert auf.

„Wie ideal könnte der Aufenthalt hier sein,“ nahm einer der Badegäste das Wort, „wenn man diesen Kerl weggraulen könnte! Herr Landgerichtsrat – Sie sind Jurist – fällt Ihnen kein gesetzmäßiges Mittel ein?“

Der Angeredete schüttelte den Kopf.

„Ich bin Partei – wegen Männe!“ sagte er lachend, „ich muß den Direktor ertragen!“

„Wenn wir ihn ersäuften!“ schlug ein anderer nachdenklich vor.

„Es wäre das Einfachste,“ meinte der Landgerichtsrat, „aber es könnte am Ende darüber gesprochen werden!“

„O, wie böse sind die Herrschaften!“ warnte der „eingehakte Pastor“, dessen Ehehälfte mit unsäglichen Schwierigkeiten an seinem Arm Kaffee trank, „wir sollten doch lieber in Güte versuchen, durch die, wie ich gern zugebe, rauhe Schale des alten Herrn zu dem vielleicht sehr edlen Kern durchzudringen!“

Während alle noch beschämt diesem Uebermaß von Menschenliebe gegenüber in Schweigen verharrten, ertönte lautes Stimmengeräusch und der Direktor, mit einem vom Schlaf geröteten Bäckchen, das Sofakissen wurfbereit in der Hand, erschien und erklärte, fast erstickt vor Zorn, er könnte kein Auge zuthun. „Der Hund der Herrschaften“ – mit einem Wutblick auf den Landgerichtsrat – „ist unter meinem Fenster angebunden und heult, daß man rasend werden möchte! Wenn ich die Bestie nicht eines schönen Tages vergifte, kann sie von Glück sagen,“ setzte der alte Herr fauchend hinzu, dessen Seelenzustand übrigens in diesem Fall erklärlich war.

Der tief beschämte Landgerichtsrat stürzte ohne ein Wort der Entgegnung nach dem Thatort und schnitt Männes Strick durch,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0304.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)