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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Die Frau Collega.

Novelle von Ernst Lenbach.


Es ist wunderlich, wie die Menschen zu ihrem Spitznamen kommen. Die einen verdanken ihn irgend einer körperlichen Eigenheit, die gefühlsarmen Mitmenschen Gelegenheit zu einem billigen Witz bietet, etwa einem Paar auffallend großer Ohren oder einer allzu entschieden vordringenden Nase. Bei anderen heftet sich der Spitzname an eine Eigentümlichkeit ihres Wesens, die ungefähr auch wie eine Nase aus der Ebene ihrer geistigen Züge vortritt; und auf manche fliegt er wie ein Gummiball zurück in Gestalt einer Anrede, mit der sie ihre Umgebung so lange ärgern, bis man sie nur noch unter diesem Losungswort kennt und fürchtet.

In diesem Falle war die „Frau Collega“. Eigentlich hieß sie Frau Christina Heydrich – sogar Frau Doktor Heydrich, wenn sie das lieber wollte; denn ihr Mann war Doktor der Philosophie und Oberlehrer an dem berühmten Gymnasium einer kleinen westdeutschen Stadt gewesen. Da sie aber die Gewohnheit hatte, jeden Herrn, der eine Brille auf der Nase und einen Pack Aufsatzhefte unter dem Arm trug, kurzweg als „Herr Collega“ und jede mit einem solchen Herrn verehelichte Dame als „Frau Collega“ anzureden, so blieb der Name an ihr selber hängen, ebenso treu wie der Plaid von schottischem gevierteten Tuch, mit dem sie nun schon seit einem Menschenalter allen Wandlungen der Mode trotzte.

Unter diesem Namen und mit diesem Plaid war sie eine gefürchtete Person für viele. Wenn sie just um die Zeit des Schulschlusses am Gymnasium vorüberging, so befleißigte sich die herausströmende Jugend eines so höflichen und angemessenen Benehmens, als scheute sie die Hand der grauhaarigen großen Frau mehr denn sämtliche Paragraphen der Schulordnung. Selbst der Herr Direktor konnte außer Fassung geraten, wenn ihn die Frau Collega unversehens mit den Worten begrüßte: „Nun, Herr Collega – Herr Direktor, wollte ich sagen – Ihre Aelteste hat sich ja eine recht hübsche neue Bluse zugelegt – knallrot, nicht wahr? Schade, daß das Mädchen so blaß ist. Sie müssen wirklich einmal darauf achten, daß sie mehr ißt und weniger Klavier spielt!“ Und wenn sie beim Geflügelhändler den ersten Gänseeinkauf der jüngsten Frau Gymnasiallehrer mit den Worten unterbrach: „Nein, liebe junge Frau Collega, das Tier bekommen Sie in diesem Leben nicht weich! – Was fällt Ihnen denn ein, Herr Trillering, der jungen Frau so einen gerupften Methusalem aufschwatzen zu wollen? Man darf die Unerfahrenheit nicht ausnutzen!“ so war es der jungen Frau nicht zu verargen, wenn sie die freundliche Helferin im Grunde ihrer Seele für eine „ungebildete Person“ erklärte. In diesem Urteil stimmte übrigens der gesamte weibliche hohe Rat des Städtchens überein, trotz aller oft erprobten Hilfsbereitschaft der „ungebildeten Person“. Denn allerdings war die Frau Collega eine Autorität in der Kinderpflege und besaß einen unerschöpflichen Schatz von Kochrezepten und Hausmitteln, aber sie pflegte ihre Rezepte und Ratschläge mit allerlei moralischen Nutzanwendungen zu verbrämen, und es war nicht ratsam, ihren scharfen grauen Augen mit einem schlechten Hausfrauengewissen zu nahen.

Die Frau Collega wohnte noch immer draußen vor der Stadt in dem kleinen Hause mit dem großen Garten, in dem sie vor etlichen vierzig Jahren Hochzeit gefeiert hatte und vor zehn Jahren Witwe geworden war. Neben dem Hause lag eine prächtige Villa, die zum Besitze der Fürsten Rosenstein-Waldau gehörte und seit langem nur von einem alten Kastellan bewohnt wurde. Eine ziemlich verwilderte Schlehdornhecke schied die Gärten. Jenseit dieser Hecke blühten zwischen breiten Kieswegen kostbare Blumen, diesseits zog die Frau Collega ihren Salat, ihre Levkojen und Heliotrop und vor allem ihre Hühner. Das war ihr Stolz. Wenn sie von ihren Erfolgen in der Hühnerzucht sprach, konnte sie poetisch, ja ein wenig ruhmredig werden. Es war ein Glück, daß sie schon die „Frau Collega“ war, sonst hätten sie ihre guten Freunde und Freundinnen vielleicht zur „Hühnertante“ ernannt. Aber das Urteil der Welt war ihr nirgendwo so gleichgültig, als wenn es ihre Liebhaberei traf. „Ein selbstgelegtes frisches Ei ist so gut wie ein Stück Kalbsbraten,“ sagte sie, „und wenn eines nicht mehr legt, giebt es immer noch eine gute Suppe. Sie können doch Hühnersuppe kochen, liebe junge Frau Collega? Denken Sie nur, wenn Ihr Mann einmal krank wird, wie der Herr Collega Schneider, der jetzt bei mir oben auf dem ersten Stock wohnt. Dem habe ich mit meiner Suppe wieder auf die Beine geholfen.“

Es wohnte immer einer von den unverheirateten jungen Lehrern bei der Frau Collega. Sie hatten es gut bei ihr, und wenn einer es überhaupt die ersten vier Wochen bei ihr aushielt, so blieb er auch möglichst lange und lernte manches, was in keinem Kolleg und keinem Seminar gelernt wird und doch einem Bildner der Jugend von Nutzen sein kann.

Eines Tages im Vorfrühling begann eine große Neuigkeit ihren Schatten auf das Gymnasium und auch auf die Villa neben der Frau Collega zu werfen. Die Villa bevölkerte sich mit Handwerkern und Dienern, es wurden Möbel angefahren, viel mehr, als nach Ansicht der Frau Collega in einen halbwegs vernünftigen Haushalt gehörten, und im Konferenzzimmer des Gymnasiums versammelte der Direktor, begleitet von einem eleganten schwarzgekleideten Herrn, die Lehrer, um die Bedingungen festzustellen, unter denen unbeschadet der beiderseitigen Würde ein Prinz Rosenstein-Waldau, Durchlaucht, der Quarta des Gymnasiums angehören dürfe.

Kurz nach Ostern kam die Frau Fürstin mit ihrem Söhnchen angereist, empfing und erwiderte den Besuch des Direktors und reiste wieder ab. Der junge Prinz blieb in der Villa zurück, unter der Obhut des eleganten schwarzgekleideten jungen Herrn, und das neue Schuljahr begann, mit dreihundertsechzig gewöhnlichen und einem durchlauchtigsten Schüler.

Die Frau Collega hatte unterdes außer den Fortschritten ihrer Hühner noch verschiedenes andere beobachtet, und es war einiges darunter, was ihr nicht gefiel.

„Also das ist Ihre junge Durchlaucht, Herr Collega,“ sagte sie etliche Tage nach dem Beginn des Schuljahres zu ihrem dermaligen Mietsherrn und deutete ungeniert zum Fenster hinaus in den Nachbargarten, wo ein schmal aufgeschossener, blasser Knabe neben dem schwarzgekleideten Herrn gemessen auf und ab wandelte. „Komisch! Und das neben ihm ist ja wohl sein Gouverneur, der Herr Doktor Weichselreis? Den kenne ich noch von früher, sein Vater war ja Küster in dem Dorfe, wo mein Bruder Tierarzt war. Damals war er ein nichtsnutziger, durchtriebener Schlingel, ein bischen schleicherisch; ich habe ihm einmal ein paar Tüchtige um die Ohren gegeben, als er meines Bruders altem Schimmel eine Distel an den Schwanz binden wollte, und es schickte sich eigentlich, daß er mir jetzt einen Anstandsbesuch machte, von wegen alter Freundschaft und neuer Nachbarschaft. Und so was ist jetzt Prinzenerzieher! Man soll nicht sagen, was aus einem Kücken werden kann. Und die Frau Fürstin habe ich auch von Ansehen gekannt, als sie’s noch nicht war. Damals wohnte sie ja eine Zeit lang hier mit ihrer Mutter, es war eine Hauptmannswitwe und hieß Schneider, gerade wie Sie, Herr Collega. Es waren ganz ordentliche Leute, und ich habe es dem Mädchen von Herzen gegönnt, daß es eine so gute Partie machte. Was nämlich die Zuthaten angeht; denn mit dem alten Fürsten Theodor, ihrem Gemahl, war nicht viel Staat zu machen – in einer von den eisernen Rüstungen seiner Vorfahren, die mir mein Mann auf unserer letzten Reise in Schloß Waldau gezeigt hat, hätte er bequem logieren können. Na, und nun sehen Sie sich einmal das arme Kind da unten an! Blaues Blut soll es ja wohl haben, aber ich fürchte, es hat überhaupt zu wenig Blut, und was helfen ihm alle seine Ahnen, wenn es keine Waden kriegt! Wie sind Sie denn mit dem Jungen zufrieden, Herr Collega, Sie haben ihn ja auch in der Arbeit?“

Der Kollege Schneider errötete etwas verlegen, denn es waren ihm verschiedene Bemerkungen eingefallen, mit denen man sich in der Konferenz über die merkwürdige Nachbarschaft der Frau Collega und des prinzlichen Hofhalts ausgelassen hatte. „Nun,“ sagte er, „bis jetzt hält sich der Prinz ganz brav. Etwas schüchtern mündlich – er ist eben noch nicht an die Klasse gewöhnt. Seine häuslichen Aufgaben erledigt er sehr löblich.“

„Das ist ein Wunder,“ bemerkte die Frau Collega, „denn es ist unglaublich, was das Kind alles schon zu thun hat, um seiner Ahnen würdig zu bleiben. Na, wie ich gestern sah, darf er ja auch ab und zu Besuch von etlichen Kameraden empfangen. Da suchen Sie ihm doch ja ein paar recht rauhbeinige aus, die in

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0320.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)