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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

gereiztem Zustande ordentlich um sich schlagen. Das sah ja gestern aus, als ob die Jungen zum Mitspielen ‚befohlen‘ wären.“

„Die Einladungen werden von Doktor Weichselreis geregelt,“ erwiderte der junge Kollege und sah nach der Uhr.

„So?“ versetzte die Frau Collega. „Na, das freut mich, denn dann hat er sich doch wenigstens in einem vergriffen. Der eine, den ich gestern dabei sah, der Junge vom Schneidermeister Hirsemann am Markt, der ist nicht so. Ich habe ihn vorigen Herbst von meinem Reineclaudenbaum dahinten heruntergeholt, und seitdem sind wir gute Freunde, denn es gehört etwas dazu, ohne Leiter auf den Baum zu kommen!“

Der Kollege Schneider schaute nochmals nach der Uhr und erinnerte sich, daß es die höchste Zeit für ihn sei. Die Frau Collega ging in den Garten zu ihren Hühnern, und wenn ihr neuer Freund, der Quartaner Hans Hirsemann, ihr in diesem Augenblicke auf verbotenen Wegen im Garten begegnet wäre, so würde ihm doch das Herz in die Hosen gefallen sein; denn sie sah unheimlich kampflustig aus.

Etliche Tage darauf widerfuhr der Frau Collega eine merkwürdige Ungeschicklichkeit: sie scheuchte ein neben der Hecke kratzendes Huhn so verkehrt, daß es, anstatt in den Hof, gackernd durch ein Loch in der Hecke in den Nebengarten flatterte, wo der junge Prinz eben mit einem Buche auf einer Bank saß.

„He, Junge, sei so gut und jag’ mir mal das Huhn herüber!“ rief die Frau Collega.

Der Knabe streifte die alte Frau mit einem sonderbar unkindlichen Blick und sagte: „Ich bin der Prinz Alfons Theodor von Rosenstein-Waldau!“

„Ei sieh ’mal,“ meinte die Frau Collega, „hast Du einen schönen Namen! Ich habe einen Jungen gekannt, der hieß einfach Hans Müller und ging barfuß, aber ein Huhn hätte er immer noch scheuchen können, wenn ihn eine alte Dame darum gebeten hätte.“

Der Knabe errötete heftig und fing an, das Huhn zu bedrohen, so daß es ängstlich und ratlos herumgackelte.

„Aber du lieber Himmel, Junge, wo hast Du denn mit Hühnern umgehen gelernt?“ rief die Frau Collega. „Jetzt scheuch’ es einmal ordentlich auf das Loch hier zu, und ich rufe tuk tuk dazu. Siehst Du, so macht man das. Und jetzt haben wir es, siehst Du wohl, mein Sohn!“

Der Knabe guckte neugierig über die Hecke. „Sie haben aber viele Hühner,“ sagte er. „Legen sie nun alle auch Eier?“

„Die kleinen da natürlich noch nicht,“ erklärte die Frau Collega und begann, hingerissen von dem Gegenstande, ihm ihre Hühner der Reihe nach vorzustellen.

Mitten in ihrem Vortrag wurde sie aber unterbrochen durch das Erscheinen eines Lakaien, der nach einem verwunderten Blick auf das sonderbare Paar meldete: „Durchlaucht, es ist angespannt.“

Daraufhin wandte sich der Knabe noch einmal zu der Frau Collega und verabschiedete sich von ihr mit einer so erwachsenen Verbeugung, daß ihr vor Entsetzen das Wort im Munde stecken blieb.

Am nächsten Sonnabend waren wieder einige Schulgenossen bei der kleinen Durchlaucht „zum Spielen befohlen“, wie es die Frau Collega bezeichnete. Hans Hirsemann war auch dabei. Als er am Sonntagmorgen aus der Kirche kam, rief ihn die Frau Collega an und sagte: „Na hör’ mal, mein Junge, hat denn Dein Vater für Dich den langen Rock mit den gelben Knöpfen schon fertig?“

„Was für einen Rock?“ fragte Hans Hirsemann angenehm überrascht.

„Ach, ich dachte nur so,“ meinte die Frau Collega. „Weißt Du, ich habe euch da gestern wieder zugesehen, wie ihr euch bei euerm Prinzen benahmt, und da dachte ich, ihr bekämt nun auch nächstens solche Röcke wie der Bediente, der euch den Kaffee brachte.“

Hans Hirsemann sah sie groß an und wurde sehr rot, dann zog er sich langsam zurück, und die Frau Collega wandelte nach Hause mit der vollen Befriedigung eines Menschen, der sich seinen freien Sonntagnachmittag redlich verdient hat.

Am nächsten Sonnabend fiel die Gesellschaft bei ihrem kleinen Nachbarn aus, dafür aber empfing ihr Mietsherr den Besuch des Doktors Weichselreis. Der elegante junge Gelehrte kam, wie er sagte, „in einer diskreten, um nicht zu sagen peinlichen Angelegenheit“, und er verbrauchte erstaunlich viel Komplimente, Händereiben und Lächeln, bis er mit dieser Angelegenheit herausrückte. „Ihre Frau Wirtin, Herr Doktor, ist ja ohne Zweifel eine – hm – eine sehr achtunggebietende alte Dame. Ja! Aber ich weiß doch nicht, ob sie die geeignete Persönlichkeit wäre, um auf meinen durchlauchtigen Zögling im Sinne Ihrer Durchlaucht der Frau Fürstin zu wirken … Ja … Ich denke da nicht bloß an einen gewissen, durch die Nachbarschaft ermöglichten Verkehr über die Hecke sozusagen, der ja leider wohl nur durch eine entsprechende einsichtsvolle Zurückhaltung der würdigen Dame ganz zu beseitigen wäre … Aber auch sonst … Es sind da leider Störungen in dem so wünschenswerten geselligen Umgang des Prinzen mit seinen Altersgenossen eingetreten … Die Knaben stellen Ansprüche, welche diesen Verkehr in der That ungehörig modificieren würden … um den Kern der Sache hervorzuheben: sie verkennen ganz, daß in diesem Verkehr immerhin eine gesellschaftliche Bevorzugung für sie liegt … Es sind darüber Erörterungen unter den Knaben gewesen, durch welche die naturgemäß isolierte Stellung des Prinzen innerhalb der Klasse mit der Zeit etwas Peinliches bekommen könnte … und ich habe Grund, anzunehmen, daß auch hier eine Beeinflussung der betreffenden Knaben, beziehungsweise ihrer Eltern durch Ihre an sich gewiß so sehr achtungswerte Wirtin mitspielt … Könnten Sie, mein hochverehrter Herr Doktor, denn nicht im Sinne einer Verhinderung weiterer derartiger Zwischenfälle auf die Dame wirken? Ich habe leider nicht die Ehre, mit ihr bekannt zu sein …“

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und die Frau Collega erschien in der Küchenschürze, einen Teller dampfender Pfannküchlein in der Hand.

„Ach,“ sagte sie, „da muß ich um Entschuldigung bitten. Ich dachte, Sie seien ausgegangen, Herr Collega, und wollte Sie bei Ihrer Rückkehr mit einer Probe von meinen Kuchen überraschen. Und nun erlebe ich ja selber eine Ueberraschung! Der Herr Doktor Weichselreis, nicht wahr? Wollten mir gewiß auch einen Besuch machen, um die alte Freundschaft zu erneuern?

Aber wie Sie sehen, ich bin eben beschäftigt. Wollen Sie nicht auch einmal versuchen, Herr Doktor Weichselreis? Ich backe sie noch nach demselben Rezept wie damals im Dorfe, wo Sie mir die drei vom Teller gestohlen hatten, den ich vors Küchenfenster gestellt, und wo ich Ihnen zwei Ohrfeigen gab, einmal fürs Stehlen und dann fürs Lügenwollen. O, ich weiß noch genau, was für ein durchtriebener Schlingel Sie damals waren. Und nun sind Sie so ein feiner Herr geworden und steuern ja wohl direkt auf den Hofrat los! Da sieht man doch: man soll keinen jungen Hund ins Wasser werfen, man kann nie wissen, was aus ihm werden kann. Na, wollen Sie meine Kuchen nicht ’mal probieren?“

Doktor Weichselreis lächelte ungemein künstlich. „In der That, gnädige Frau,“ stotterte er – – „sehr verbunden – aber ich will wirklich nicht länger stören, Herr Doktor! Ihr Diener, gnädige Frau!“

„Wissen Sie, Frau Collega,“ sagte der Kollege Schneider, nachdem er den Besuch hinausgeleitet hatte, „er hat mir eigentlich etwas an Sie aufgetragen, ich weiß nur nicht recht, ob ich’s bestellen soll –“

„Dann lassen Sie ’s nur ruhig, Herr Collega,“ antwortete die alte Dame. „Benutzen Sie lieber den freien Nachmittag zu einem Brief an Ihre liebe kleine Braut und vergessen Sie den Gruß von mir nicht.“

Doktor Weichselreis ließ sich nicht wieder sehen. Aber am nächsten Montag stellten sich jenseit der Hecke etliche Maurer ein, um die schadhafte Gartenscheide durch eine nette kleine Schutzmauer gegen Hühner und Menschen zu verstärken. Die Frau Collega sah ihnen vom Fenster aus mit vielem Behagen zu, und Doktor Weichselreis that dasselbe von der Villa aus, während er über den Entwurf des ersten Bandes seiner „Geschichte des fürstlichen Hauses Rosenstein“ nachdachte.

Am Mittwoch nachmittag war das Mäuerchen fertig. Die Arbeiter zogen mit höflichen Grüßen an dem kleinen Prinzen, der ihnen eine Weile neugierig zugesehen hatte, vorüber, um in der nächsten Kneipe das Werk zu begießen, und ließen ihr Handwerkszeug zurück.

„Das soll eine Mauer gegen Hühner sein?“ sagte die Frau Collega verächtlich und guckte über die Hecke. „Nicht gegen meine! Da fliegt ja ein Kücken drüber.“

„Sollen wir sie noch etwas höher machen?“ fragte der Prinz eifrig und griff nach einer Kelle. „Da liegen noch Steine.“

„Meinetwegen, mein Junge – aber sag ’mal, wie nennen Dich Deine Lehrer?“

„In der Schule werde ich Alfons gerufen,“ berichtete der Prinz.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0322.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)