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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Ein unbedachtes Wort.

Novelle von M. Misch.
(1. Fortsetzung.)


Der nächste Morgen brachte herrliches Wetter. Ein lauer Wind hatte die Nässe vom Boden aufgetrocknet. Die Sonne bemühte sich, nach Kräften noch ein wenig Wärme auszustrahlen. Hell und warm schien sie auf die beiden Lindenbäume nieder, die vor einer reizenden Villa am Ende der Stadt ihre Zweige ausbreiteten, und ließ die großen gelben Blätter durchsichtig schimmern, als wären sie aus flüssigem Gold.

Ringsum herrschte vornehme Ruhe, und selbst der alte Straßenkehrer am oberen Ende der Straße scharrte das abgefallene Laub mit seinem Besen so vorsichtig zusammen, als scheute er sich, die tiefe Stille durch das raschelnde Geräusch zu unterbrechen.

Die kleine, einstöckige, in zierlichem Renaissancestil gebaute Villa gehörte Wolf von Schindler. Er hatte sich dieselbe vor einem Jahrzehnt nach dem Tode seines Vaters bauen lassen. Das große Gut, auf dem er geboren war, gab er in Pacht. Erst müsse er mindestens vierzig Jahre alt sein, ehe er sich „ins Joch“ spanne, erklärte er damals den alten Freunden seines Vaters, die ihm diskret zu verstehen gaben, daß ihm eine Beschäftigung not thäte. Dann war er auf Reisen gegangen und erst nach Jahren wieder heimgekommen. Das Gut blieb verpachtet, und die kleine Villa wurde nun der Schauplatz einer auf Junggesellen sich beschränkenden Gastlichkeit, von welcher sich die nachsichtigen Mitbürger ganz Erstaunliches zu erzählen wußten.

Die alten Freunde seines Vaters, soweit sie noch am Leben waren, zuckten über dieses Treiben die Achseln. Wolf von Schindler war nun bereits sechsunddreißig Jahre alt, alt genug, um zu arbeiten, wie die Väter – alt genug, um zu heiraten, wie die Mütter meinten. Wolf aber kümmerte sich weder um die einen noch um die anderen; er lebte, wie er wollte, und wartete, bis er seiner Freiheit überdrüssig werden würde. –

Durch die kalte, klare Luft drangen gerade neun Schläge von der großen Turmuhr herüber, als ein Fensterflügel im ersten Stock der Villa aufgestoßen wurde und Schindlers rotblonde Mähne zum Vorschein kam. Im braunsammetnen Morgenjackett, das ihm vortrefflich zu Gesichte stand, beugte er sich weit hinaus und sog in tiefen Zügen die frische Morgenluft ein. Die Sitzung im Klub mußte wohl lange gedauert haben; er sah müde und abgespannt aus, und einige kleine Fältchen um die Augen ließen ihn älter aussehen, als er war.

Welch herrlicher Morgen! Keine Spur war von dem gestrigen verfrühten Schnee übrig geblieben. „Die Sonne, die gegen ihn zu Felde zieht wie eine schöne Frau gegen den ersten Schnee auf ihrem Haupte, hatte ihn hinweggefegt“ – dachte er sich. Wolf von Schindlers Stärke bestand im allgemeinen nicht in poetischen Bildern; deshalb schüttelte er sorgenvoll das Haupt, als er sich bei obigen Gedanken überraschte.

„Nächstens fange ich noch an zu dichten,“ murmelte er bekümmert. „Schauderhafter Gedanke!“

Der alte Straßenkehrer war indes mit seiner Arbeit immer weiter vorgerückt und näherte sich langsam der Villa. Als er Schindlers ansichtig wurde, beeilte er seine Schritte und blieb unter dem Fenster stehen.

„Guten Morgen, Herr Baron!“

Die Hand mit dem dicken Fausthandschuh legte sich salutierend an das rote Sacktuch, das er sich zum Schutz um die Ohren gebunden hatte.

„Morgen, Josef! Wie geht’s der Frau?“

„Danke scheen, Herr Baron, sie jeht, weil se nich fahren kann! Aber Spaß beiseite, ich soll von ihr dem Herrn Baron millionenundeenmal danken wejen dem Wein. Aber wat wahr is, muß wahr sind: der Wein, sagt der Doktor, den der Herr Baron die Jüte hatten, meiner Ollen zu schicken, bringt sie wieder uff’n Damm. – Des is eine von die neien Schauspielerinnen“ – wechselte er plötzlich das Thema, als er, dem Blicke Schindlers folgend, die Straße herauf eine junge Dame kommen sah. „Ich kenn’ sie, weil sie meinen kleenen Friedel zum Korbtragen ins Theater engaschiert hat. Eene sehr anständige Dame – hat meinem Friedel umjehend eine Mark und’n Theaterbillet jeschenkt“ …

„Gehen Sie zum Teufel, Josef, und machen Sie, daß Sie da von meinem Hause wegkommen!“ sagte Wolf halblaut, sein Monocle einklemmend.

Josef hob verblüfft seinen Besen auf und marschierte auf die andere Seite, von wo er mit gekränkter Miene zu Schindler hinüber sah. Die schlanke hohe Mädchengestalt näherte sich elastischen Schrittes und wollte eilends vorübergehen, als Josef sie aufhielt.

„Hat Friedel den Korb jut getragen, Freilein?“ fragte der gesprächige alte Bursche und fügte auf den verwunderten fragenden Blick der jungen Dame hinzu: „Ick bin nämlich der Vater von Ihrem Korbjungen.“

„Ah so! O ja, es scheint ein gefälliger, braver Junge zu sein! Geht es hier nach dem hohen Aussichtspunkt?“

Sie zeigte mit der elegant behandschuhten Hand die lange Allee hinauf, in welche die Straße mündete.

„Jawoll, immer jrade aus, den Pappelbäumen nach!“ bestätigte eifrig der glückliche Vater, worauf Marie lächelnd und ihm freundlich zunickend ihren Weg fortsetzte.

Wolf von Schindler hatte die Scene aufmerksam beobachtet und trat nun hastig zurück. Ein Druck auf die elektrische Klingel rief seinen Diener herbei.

„Karl, ich will ausgehen!“

Mit Karls Hilfe machte der Baron Toilette. Alles, was er anlegte, entsprach der neuesten Mode, von den spitzen Lackstiefeletten angefangen, bis zu der langen, moosgrünen Krawatte aus indischer Seite, die er gewandt zu einem kunstvollen Knoten schlang. Schnell und ohne seinen Gebieter mit Fragen zu belästigen, brachte Karl den für so einen frühen Ausgang geeigneten Ueberrock, spritzte einen Strahl feinsten Parfums darüber, legte einen weichen Hut, dicke Handschuhe und ein kleines Stöckchen auf den Tisch.

„Cigaretten!“ befahl Schindler kurz.

Er trat vor den hohen Spiegel und musterte sich befriedigt. Verschwunden war das übernächtige, verdrießliche Aussehen. Frisch, elegant, selbstbewußt blickte ihm sein Spiegelbild entgegen. Den Stock zwischen den Fingern drehend, eilte er hinunter. Vor der Thür, in einem großen Haufen welker Blätter stochernd, stand Josef, der die Kränkung bereits wieder vergessen hatte und ihm diensteifrig zulächelte.

„Zur ‚Scheenen Aussicht‘ is sie,“ flüsterte er mit verständnisvollem Augenzwinkern, hatte aber auch diesmal kein Glück bei seinem Gönner, der ihm in barschen Tone zurief: „Kümmern Sie sich um Ihre Straße, Josef!“ Wolf schritt elastischen Ganges die Allee hinauf, deren Bäume in der Sonne in herrlichstem Gelb und Rot leuchteten.

Gewöhnlich lag er um diese Stunde noch unter der seidenen Decke, um den Schlaf nachzuholen, den er des Nachts im Klub versäumt hatte. Heute war er ausnahmsweise früh aufgestanden. „Der Zufall kommt ihr zu Hilfe,“ murmelte er lächelnd und fühlte sich merkwürdig mild und reuevoll gestimmt.

Die „Schöne Aussicht“ befand sich auf dem Plateau eines mäßig hohen Berges, um den sich der Weg in weiten Windungen und fast unmerklichen Steigungen hinaufschlängelte.

Am Nachmittag pflegte hier die Gesellschaft der Stadt zu lustwandeln. Ein gutgeführtes Restaurant krönte die Höhe. Um diese frühe Zeit aber war es hier meist ganz einsam. Auch heute begegnete dem rasch Dahinschreitenden kein Mensch, und mit Entzücken genoß er die köstliche Ruhe, den tiefen Frieden ringsumher, den nur hier und da das lärmende Gezwitscher zankender Spatzen oder das rauhe Gekrächze einer Krähe unterbrach.

Vor der letzten Windung des Weges blieb er stehen. Noch ein paar Schritte, und er war oben. Aber was, zum Teufel, wollte er eigentlich hier? Etwa die Schauspielerin um Entschuldigung bitten? Nein, das denn doch nicht! Doch wozu ihr dann nachlaufen? Er spitzte die Lippen zu einem leisen Pfiff, strich sich verlegen über den Schnurrbart und suchte an anderes zu denken.

Als er das Plateau erreicht hatte, sah er sie am Fuße eines Denkmals auf einer kleinen Bank sitzen, die schlanke biegsame Gestalt in sich zusammengesunken, den Ellbogen auf das Knie gestützt. So starrte sie träumerisch in die Weite. Sie war eigentlich nur heraufgestiegen, um hier in Ruhe eine Rolle zu lernen. Aber das Heft war ihren Händen entglitten, ganz versunken bewunderte sie das herrliche Landschaftsbild. Sie ahnte nicht, daß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0352.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)