Seite:Die Gartenlaube (1896) 0354.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

wenige Schritte hinter ihr sich jemand besand, der sie nicht minder aufmerksam betrachtete. Plötzlich fuhr sie erschrocken auf und erhob sich unwillkürlich. Wolf von Schindler stand mit seiner gewohnten blasierten Hochmutsmiene vor ihr und lüftete leicht seinen Hut.

„Mein Fräulein!“

„Mein Herr?“

„Wie gefällt Ihnen die Aussicht?“

Marie, deren bleiches Gesicht eine helle Röte überzog, richtete ihre Augen mit einem befremdeten, stolzen Ausdruck auf den Sprecher.

„Danke, gut!“ sagte sie kühl und trat von ihm fort an die Steinbarriere, welche das Plateau umsäumte.

Schindler folgte ihr lächelnd. Teufel, die Kleine war bei Tage bedeutend hübscher als auf dem Theater, wo ihre feinen Züge nicht so augenfällig wirkten wie manches gröber geschnittene Gesicht! Sie besaß wohl nicht die landläufige Schönheit mit dem weichen Gesichtsumriß, dem Kindermund und kleinem Näschen, sondern eine Anmut von feinem seelischen Reiz, jene durchgeistigte Schönheit, die auf eine vornehme Denkungsweise und auf Charakter schließen läßt. Auch die ruhige damenhafte Haltung unterschied sich auffallend von der Manier so mancher Kollegin. Zögernd blieb er in einiger Entfernung stehen und überlegte. Es war doch verdammt peinlich, von der heikeln Sache selbst anzufangen und sich als Grobian zu bekennen, dem jede Entschuldigung fehlt … Ohne alle Not noch dazu, denn erkannt hatte sie ihn offenbar nicht! Warum also ihr eine unangenehme Aufregung und sich selbst einen höchst wahrscheinlich sehr fatalen Rückzug bereiten? … Je mehr er sie betrachtete, um so weniger geneigt fühlte er sich zu solcher Aufopferung im Dienste der Wahrheit. Es ging auch ohne das.

Also, ganz einfach – vorläufig eine kleine Unterhaltung anknüpfen! Das übrige findet sich dann von selbst. Diesen Schlußgedanken begleitete ein leichtes, frivoles Lächeln, dessen Ursprung in den Erfahrungen lag, welche Wolf mit einzelnen Damen vom Theater gemacht hatte.

„Sie haben gestern reizend gespielt, mein Fräulein,“ begann er, an ihre Seite tretend, leichthin.

Wieder der große, befremdete Blick aus den braunen Augen, der ihn beinahe in Verlegenheit setzte! Aber nur beinahe! Als er keine Antwort erhielt, wurde er ärgerlich.

„Haben Sie heute keine Probe?“ frug er von oben herab und sah ihr hochmütig ins Gesicht.

Wieder keine Antwort! Statt dessen wandte sich die junge Dame kurz ab und schritt, nicht zu schnell und nicht zu langsam, just als gäbe es gar keinen Wolf von Schindler, der ihr die Ehre seiner Unterhaltung hatte gönnen wollen, an ihm vorbei und über den freien Platz hinweg. An der ersten Biegnug des Weges verschwand sie im Walde.

„Das ist stark,“ murmelte der Baron verblüfft. „Laufe ich am frühen Morgen hier herauf, um dieser kleinen Schauspielerin etwas Angenehmes zu sagen, und sie dreht mir einfach den Rücken zu. Nun aber auch genug damit!“ Mit einer heftigen Bewegung warf er sich auf die Bank und begann, die Landschaft zu betrachten.

Die klare, reine Luft gestattete den Ausblick bis zu den Höhenzügen, die wie aus blauem Dunst gebildet ihre vielgestaltigen Häupter gegen den Himmel streckten. Dazwischen im Thal, so weit man sehen konnte, die Spuren menschlicher Kultur und menschlichen Fleißes – Dorf an Dorf, Feld an Feld.

„Ebensogut könnte ich eigentlich vom Berge herunter meine eigene Scholle betrachten,“ dachte er. „Es ist, weiß Gott, kein besonderes Vergnügen, in diesem langweiligen Nest seine Tage zu versitzen. Mein Alter würde es nicht leiden, wenn er noch lebte, soviel ist gewiß! Aber Krautjunker werden und bei seiner ‚tüchtigen Thätigkeit‘ so allmählich verbauern – brr! … Dazu muß man jung schon angehalten werden. Früher hätte ich’s einfach nicht gekonnt, da trieb es mich zu stark in die Welt. Jetzt kommt’s mir manchmal vor, als habe ich genug davon gesehen … Wenn ich ein ‚Muß‘ hätte, wie die da drunten, die ihre Felder mit Mühe und Schweiß bebauen, wär’ mir’s vielleicht auch recht … Ob die wohl arbeiteten, wenn sie nicht müßten? Kaum! Der Mensch ist von Natur zur Faulheit geboren, lehnen wir uns also nicht gegen die Naturbestimmung auf!“

Er blickte noch eine Weile dem Silberstreifen des Flusses nach, der zwischen Feldern und Wäldern sich schimmernd dahin wand, dann erhob er sich.

Genug des Nachdenkens und der Naturbetrachtung! Dazu war er nicht hierher gekommen; die eigentliche Expedition war mißglückt. Die Kleine lief davon wie ein scheues Reh. Schien merkwürdig empfindlich zu sein! Wolf hatte Schauspielerinnen kennengelernt, die bedeutend weniger zart besaitet waren. Nun, wie sie wollte!

Eine Operettenmelodie pfeifend, die Hände in den Taschen seines Ueberrocks vergraben, wandte er sich zum Gehen, als sein Blick auf ein weißes Heft fiel, das neben der Bank auf dem Boden lag. Zögernd hielt er inne. Lange konnte es noch nicht auf der Erde liegen, dafür war es zu sauber, also war es wohl von der Kleinen bei der schnellen Flucht vergessen worden. Mit zwei Fingerspitzen nahm er es mißtrauisch auf und betrachtete es von allen Seiten.

Mit großen Buchstaben stand auf dem Titelblatt: „Maria Stuart“, darunter ganz klein: „Fräulein Marie Sinders, Titelrolle.“

Richtig, das Eigentum der Schauspielerin! Das Heft langsam umblätternd, setzte er sich wieder auf die Bank. Er hatte zwischen den leidenschaftlichen und rührenden Reden der verstorbenen schottischen Königin, oder vielmehr des ebenfalls längst verstorbenen Schiller, welche ihn gerade jetzt nur wenig interessierten, kurze Aufzeichnungen der noch lebenden, ihm eben davongelaufenen anderen Maria entdeckt, und diese interessierten ihn viel mehr.

„Wird wohl kaum orthographisch schreiben können!“ lachte er leise und begann zu lesen.

Die Anmerkungen der jungen Künstlerin waren wegen des geringen freien Raumes ziemlich klein an den Rand der einzelnen Blätter gekritzelt, und es kostete ihn Mühe, sie zu entziffern: aber die Handschrift war nicht übel und die Orthographie tadellos. Wolf las mit immer größerem Interesse die Einschaltungen, welche Geist und volles Verständnis der dichterischen Absicht verrieten.

Als er die letzte Seite umwandte, fiel ihm ein kleines Heft entgegen. Ohne viel über die Berechtigung zum Weiterlesen nachzudenken, schlug er es auf und fand in Form von kürzeren und längeren Aphorismen eine ganze Menge von klugen und hübschen Sätzen über Menschen und Leben. Sie beobachtete gut, diese junge Person, und hatte eine merkwürdige Treffsicherheit im Ausdruck. Und keine Gefühlsduselei! Nichts von Liebesklagen und Herzensschmerzen: dies erfüllte den Leser mit besonderer Hochachtung. Aber hier, auf dem letzten Blatt, was war das?! … da stand:

„Gegen den Schicksalsschlag können wir uns waffnen mit Geduld und Ergebung, der gemeinen Roheit gegenüber sind wir wehrlos. O trauriger Stand der Schauspielerin! Die freche Beleidigung ins Gesicht empfangen und nicht mit der Wimper zucken dürfen, angstvoll erwarten, ob Direktor oder Publikum sich durch das Urteil eines solchen ‚Tonangebenden‘ nicht einschüchtern lassen; im Fall dies zutrifft, wieder den Wanderstab weiter setzen … o Gott, wie bitter ist dies alles! Wo soll ich in dieser furchtbaren Gedrücktheit die Kraft hernehmen, die ‚Maria‘ zu spielen, von der alles abhängt? Und wer soll mich schützen vor neuen Beleidigungen, wenn …“

Hier brach die Schrift ab. Schindler hielt sie in Händen und starrte darauf nieder, er brauchte lange Zeit, um die wenigen Zeilen noch einmal zu lesen. Hochrot im Gesicht, mit dem Gefühl des Horchers an der Wand, der seine eigene Schande eben gehört hat, klappte er endlich das Heftchen zu und legte es zwischen die andern Blätter hinein. Gemein und roh hatte sie ihn genannt! An diesen starken Ausdrücken richtete sich sein verwundetes Selbstgefühl zuerst wieder auf und allmählich fühlte er einen ganz gehörigen Zorn in seinem Innern aufsteigen. Er war wütend über den Zufall, der gerade ihm dieses Heft in die Hände spielen mußte, wütend über sich selbst und über „diese Person“, die so entsetzlich empfindlich war und aus der harmlosen Sache eine tragische Begebenheit zusammenphantasierte. Zwar konnte ihm die ganze Geschichte höchst gleichgültig sein, da er das dumme Mädel außer auf der Bühne vermutlich nie mehr wiedersehen und nie mehr sprechen würde. Im übrigen wußte sie ja auch nicht, daß er der „Tonangebende“ gewesen, und würde es hoffentlich auch nie erfahren. Und wie gesagt, es war ihm schließlich auch ganz gleichgültig!

Damit hatte Wolf von Schindler seine kühle Ruhe wiedergewonnen und machte sich hastig auf den Heimweg. Es war ihm plötzlich eingefallen, daß der Verlust bereits entdeckt sein müßte und die Verliererin sehr bald zurückkehren würde. Er hatte keine Lust, ihr wieder zu begegnen, der rabiaten, kleinen Person! Suchend schweifte sein Auge über den Weg hin, ohne indes die geschmeidige, schlanke

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0354.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)