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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Gestalt zu erblicken. Das ärgerte ihn eigentlich, denn er sagte sich nicht ganz mit Unrecht, daß die junge Dame wohl deshalb nicht zurückkäme, weil auch sie eine Begegnung mit ihm vermeiden wolle.

Zu Hause angelangt, beauftragte er seinen Diener, das Rollenheft, das er säuberlich einpackte, Fräulein Sinders mit seiner Karte zu überbringen. Die Adresse solle er im Theater erfragen.

„Und nun fertig mit dieser Dummheit!“ beendigte er die Angelegenheit bei sich selbst. Etwas ermattet von der ungewohnten Morgenpromenade und der unerwarteten Aufregung, warf er sich in seinem Arbeitszimmer auf das Ruhebett, das ein riesiges Tigerfell bedeckte, um in behaglicher Ruhe die neuesten Morgenzeitungen zu studieren.




Am Nachmittage desselben Tages läutete es an der Wohnung des pensionierten Hauptmanns von Schmidtlein. Das öffnende Dienstmädchen sah eine ältere Dame vor sich.

„Die gnädige Frau zu Hause?“

„Jawohl.“

„So bringen Sie ihr meine Karte!“

Die Dame entnahm einem eleganten, goldgestickten Juchtentäschchen eine Visitenkarte, auf welcher das Dienstmädchen während des Hineingehens mühsam den Namen „Erna von Sindsberg“ entzifferte.

„Herein, schnell herein!“

Fanny von Schmidtlein warf die Weste ihres Gatten, an welcher sie eben genäht hatte, beiseite und eilte freudig dem Gaste entgegen. „Willkommen, Erna, in meinem Heim!“

„Guten Tag, Fanny!“ erwiderte diese und schlug herzlich in die dargebotene Hand. „Ich komme ein wenig schnell, aber Du wirst das begreifen, wenn Du bedenkst, daß ich nur noch in den alten Erinnerungen lebe; und ein Teil derselben, sogar einer der schönsten, hängt ja mit Dir zusammen!“ Die Dame streifte dabei ihre Handschuhe von den überaus zarten Händen, an welchen mehrere schöne und kostbare Ringe funkelten.

„Es geht Dir gut, Erna; das freut mich,“ sagte Frau von Schmidtlein, hielt aber befremdet inne, als ihr Gast in ein schrilles Lachen ausbrach.

„Gut!?“ rief die Dame aus. „O, wie sehr Du Dich irrst! Mir geht es so schlecht wie möglich. Als wir uns heute vormittag in dem Geschäftsladen trafen, mochte ich Dir nichts von meinen Verhältnissen erzählen, weil ich mir die Freude, Dich wiederzusehen, nicht verderben wollte. Aber ich hätte es doch thun sollen, Du würdest Dich dann vielleicht gehütet haben, mich einzuladen!“

„Erna!“

„Na, man kann nicht wissen; ich habe schlechte Erfahrungen gemacht. Im übrigen brauchst Du mich morgen schon nicht mehr zu kennen, ganz nach Belieben!“

„Ich begreife Dich nicht, Erna! Habe ich das verdient?“ fragte Frau von Schmidtlein ganz erschreckt und schlang den Arm um die Freundin.

Diese wehrte kühl ab. „Laß diese Zärtlichkeiten, meine Liebe, bis ich Dir alles gesagt habe! Weißt Du, wen Du hier vor Dir siehst? Eine Theatermutter! Verstehst Du? Eine alte Frau, die mit ihrer Tochter von Bühne zu Bühne heimatlos herumzieht. Ja, so weit habe ich es gebracht, oder vielmehr nicht ich, sondern andere!“ Ein hysterisches Schluchzen hinderte die Sprechende, fortzufahren.

„Aber Erna, ich begreife nicht,“ fragte kopfschüttelnd Frau von Schmidtlein, die ganz fassungslos dasaß.

„O, Du begreifst es schon, wenn Du bedenkst, daß mein Alex, mein guter Mann, gestorben ist und mir nichts hinterlassen hat!“ antwortete diese, sich die Augen trocknend. „Absolut nichts als eine kleine Pension und sehr viel Schulden. Ich will damit keinen Vorwurf gegen den armen Mann aussprechen, nein, gewiß nicht! Er hat die Schulden nur meinetwegen gemacht; ich war von Hause so sehr an Luxus gewöhnt, und er liebte mich so! Mit seiner Hauptmannsgage konnte er keine großen Sprünge machen, das weißt Du am besten, Fanny, und so ging er eben zum Wucherer. Dann starb er plötzlich und ließ mich hilflos zurück mit Marie und Paul.“

„Aber ich verstehe nicht, wieso Du jetzt beim Theater –?“

„Ach so! Nun, ganz einfach! Als alles zu Ende war und wir unsere ganze Habe verkaufen mußten bis auf meine Schmucksachen, die ich noch rettete, da zogen wir nach Berlin, weil wir dort in der Weltstadt unser Elend am leichtesten verstecken konnten. Die Verwandten steuerten eine Kleinigkeit zusammen, und so konnte ich mit den Kindern wenigstens leben. Meine Marie malte auf Porzellan, während sie noch zur Schule ging, und verdiente ein Paar Pfennige und ich – ich weinte über unser Unglück. Ich habe ja sonst nichts gelernt! Es war ein jämmerliches Leben, das wir in Berlin führten, aber wir hatten wenigstens ein Heim. Da kommt meine Marie plötzlich auf die Idee, zum Theater zu gehen. Das heißt, nicht plötzlich, denn schon als Kind war sie ganz theatertoll. Sie studierte und studierte, lernte alle Rollen auswendig und wenn sie ja einmal einen Wunsch aussprach, war’s um ein Billet für die Galerie. Schließlich nahm sie Unterricht, und auch der Professor meinte, daß sie ein großes Talent besäße. Was hätte ich thun sollen? Meine Marie setzt durch, was sie will! Sie ist nun Schauspielerin. Hoffentlich wird sie jetzt auch bald berühmt. Ich habe es satt, von einem Engagement ins andere zu reisen. Die Gagen sind klein, die Toilettenansprüche furchtbar, kurz, es ist ein schreckliches Leben!“

Frau von Schmidtlein sah überrascht auf. Jetzt fing sie an zu begreifen.

„Deine Tochter ist hier engagiert?“ fragte sie gespannt.

„Ja, unter dem Namen ‚Sinders‘!“ – Errötend fügte Frau von Sindsberg hinzu: „Ich verlange nicht, daß Du meine Tochter zu Dir einladest, trotzdem sie an Bildung und Takt sich mit jedem Mädchen aus der Gesellschaft messen kann.“ Das feine, bleiche Gesicht der Dame, das noch Spuren großer Schönheit zeigte, sah bei diesen Worten so gedemütigt und traurig aus, daß Frau Fanny sich schmerzlich berührt fühlte. Innig schlang sie den Arm um die Freundin und küßte sie herzlich.

„Du und Deine Tochter, Ihr seid mir stets von ganzem Herzen willkommen, und ich hoffe, Du kommst recht, recht oft zu mir. Ich habe sie übrigens gestern auf der Bühne gesehen, sie ist reizend!“

„So? Findest Du? Sie sieht meinem armen Alex ähnlich; aber sie ist sehr gut und lieb und verhätschelt mich, auch hat sie seine schönen Augen!“

Frau von Schmidtlein dachte bei diesen Worten an Wolf von Schindlers beleidigende Aeußerung über das Aussehen der jungen Künstlerin und freute sich innerlich auf seine verblüffte Miene, wenn er einmal die Damen bei ihr träfe. Vorläufig aber war die Reihe, verblüfft zu sein, an ihr, als Frau Erna plötzlich mit harmloser Miene fragte: „Kennst Du einen Herrn von Schindler?“

„Jawohl, wie kommst Du auf den? Kennst Du ihn denn?“

„Nein, er hat uns mit einem von Marie verlorenen und von ihm gefundenen Buch seine Karte geschickt.“

Mariens Mutter ließ in der so entstandenen Pause ihre Augen forschend durch den behaglichen Raum gleiten und seufzte dabei tief auf. „Ihr seid auch arm, aber es ist doch etwas anderes! Wo ist denn Dein Mann?“

„Er geht jeden Nachmittag ins Kasino, um die Zeitung zu lesen und Kaffee zu trinken. Das letztere wollen wir nun auch thun!“

Der Kaffee kam, und die Damen setzten sich an den gedeckten Tisch und schwelgten in alten Erinnerungen aus der Pensionszeit, wo man sie die beiden Unzertrennlichen genannt hatte. Sie hatten sich sehr lieb gehabt, trotzdem oder vielleicht weil sie so grundverschieden waren. Fanny nicht schön, aber energisch und thatkräftig, Erna ein reizendes, anschmiegendes, aber haltloses Geschöpfchen, das stets andere für sich sorgen ließ!

Leider ähnelten sich ihre späteren Schicksale mehr, als für ihre verschiedenen Temperamente gut war. Beide Töchter vornehmer, aber armer Familien, heirateten sie junge Offiziere, denen es gleichfalls an Vermögen fehlte. Der Unterschied zwischen ihnen zeigte sich bald. Fanny kämpfte mit frohem Wagemut gegen die Sorgen an und bereitete ihrem Gatten mit dem Wenigen, was sie besaßen, ein behagliches Heim. Erna hingegen stand allen Geldfragen verständnislos gegenüber. An Luxus gewöhnt, forderte sie ihn auch in ihrer neuen Lebensstellung, ohne sich über das „Woher“ den Kopf zu zerbrechen.

„Ich hätte nur einen Millionär heiraten dürfen, Fanny,“ versicherte sie ihrer Freundin, eine Wahrheit, von welcher diese jetzt nach all dem Gehörten erst recht durchdrungen war.

(Fortsetzung folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0355.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)