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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

„Jawohl! Also, abgemacht, Gnädigste! Sie schweigen?“

„Wo haben Sie sie denn gesehen?“

„Eine Frau, die alle Tugenden hat, darf auch nicht neugierig sein.“

Fanny machte aber keine Ausnahme von ihrem Geschlecht und wollte eben ihre Frage noch einmal wiederholen, als der Hauptmann die Thür öffnete. „Berlau will nicht mehr warten,“ rief er herein. „Er muß nach Hause.“

Mit einem Handkusse entfernte sich Wolf, und das Ehepaar war allein.

„Was hast Du denn mit dem Schindler gesprochen?“ fragte der Hauptmann.

„Geheimnisse, Alterchen! Er ist in mich verliebt,“ lachte Frau Fanny mit schelmischer Miene.

Lachend zog sie der Hauptmann in seine Arme, indem er sich für „den glücklichsten Ehemann Europas und der umliegenden Staaten“ erklärte.




Marie Sinders wurde nicht, wie sie gefürchtet hatte, entlassen, sondern im Gegenteil galt sie schon nach einigen Wochen als der ausgesprochene Liebling des Publikums. Mit jeder neuen Rolle eroberte sie sich die Gunst der Zuschauer mehr, während ihre Leistungen wiederum durch dieses Bewußtsein von Tag zu Tag freier und bedeutender wurden. Auch ihre gesellschaftliche Stellung gestaltete sich anders als je zuvor in einer andern Stadt. Frau von Schmidtlein führte sie mit der Mutter in die ihr befreundeten Familien ein und hatte die Genugthuung, daß die beiden Damen dort festen Fuß fassen konnten – Frau von Sindsberg durch ihre lebhafte und amüsante Unterhaltung, die einen frischen Zug in das Alltagsgespräch brachte, und Marie durch ihre sanfte, bescheidene Liebenswürdigkeit. Alle Damen schwärmten von ihr, und der Höhepunkt ihres Lobes gipfelte stets in den Worten: „Und sie ist absolut nicht kokett!“

Die Männer, die diese Schwärmerei teilten, konstatierten dasselbe mit einer kleinen Umänderung: „Sie ist reizend, aber absolut nicht kokett!“

Wurde eine solche Aeußerung in Berlaus Gegenwart gemacht, so lächelte er triumphierend und rieb sich erfreut die zarten blendendweißen Hände, als hätte man ihm persönlich eine Schmeichelei gesagt. Er machte kein Hehl daraus, daß er rasend in die junge Schauspielerin verliebt sei, und hatte zu seinem besonderen Vertrauten Wolf von Schindler erwählt. Als er diesem zum erstenmal davon sprach, hatte Wolf seine blitzenden blauen Augen weit geöffnet und ihn maßlos erstaunt angeblickt, dann über seinen blonden Bart gestrichen und gelächelt.

„Wie denken Sie sich denn das?“ hatte er gefragt und auf Berlaus verständnisloses Achselzucken mit merkwürdig drohendem Ton hinzugefügt: „Fräulein von Sindsberg ist keine kleine Choristin!“

Berlau schwieg verblüfft, nahm aber zu Hause, nachdem er seine Thür vorsichtigerweise verschlossen hatte, das Freiherrliche Taschenbuch und den Hofkalender zur Hand und zählte die Mesalliancen nach, welche in hohen und höchsten Häusern geschlossen worden waren. Zwar lag in seinem Fall die Sache eigentlich anders. Die Angebetete stammte aus einem alten, wenn auch verarmten Adelsgeschlecht, und er war ein Bürgerlicher. Sein Urgroßvater sollte ein schlesischer Weber gewesen sein. Aber jetzt war er reich und sie arm; er ein hochangesehener Gutsbesitzer, sie eine kleine Provinzschauspielerin. Eine Mesalliance war es also unbedingt, wenn er sich herabließ, sie zu heiraten. Anderseits aber war er völlig in sie vernarrt. Die Mama zwar würde sich mit aller Macht dagegen sträuben, aber das war das wenigste; schließlich geschah ja doch, was er wollte. Aber ob er überhaupt wollte, darüber war sich Kurt Berlau noch nicht ganz klar. Jetzt war es Januar, also hatte er noch volle vier Monate Zeit, bis die Saison zu Ende ging. Bis dahin konnte er sich die Sache noch gründlich überlegen. Und Marie? O, die würde schon wollen! Einen Kurt Berlau schlägt man nicht aus. Bei diesem tröstlichen Gedanken angelangt, klappte er beruhigt und siegessicher das Taschenbuch zu, ohne sich weiter mit unnützen Grübeleien aufzuhalten.

Als er Schindler das Resultat seiner Erwägungen mitteilte, blickte ihn dieser spöttisch an und murmelte: „Helena entfloh mit Paris … warum sollte Ihnen nicht auch das Glück blühen?“

Berlau suchte krampfhaft nach dem Zusammenhang dieser Bemerkung mit seinen Heiratsentschließungen, ohne indes einen solchen zu finden.

Wolf von Schindler wurde überhaupt im Laufe der Zeit überaus launisch. Nicht nur, daß er sich im Klub beim Spiel weigerte, bis zum frühen Morgen Revanche zu geben, er wurde auch sonst ein Spaßverderber. Die tollsten, lustigsten Streiche machte er nicht mehr mit, und seine besten Freunde beklagten sich: „Es ist nichts mehr mit ihm los, Schindler wird alt.“ Aber gerade damit trafen sie das Falsche. Schindler fühlte sich so jung wie seit langem nicht, „jünglinghaft“, wie er es selbst spöttisch bezeichnete. Wider seinen Willen hatte ihn eine starke Neigung gepackt. Mit aller Macht kämpfte er dagegen, rief seinen Pessimismus, seine Uebersättigung am Dasein zu Hilfe – umsonst, das Gefühl war stärker als alles und nahm triumphierend von seinem Herzen Besitz.

Jetzt waren es gerade fünf Wochen her, daß er die ersten Symptome an sich bemerkt hatte, bei einem ganz zufälligen Zusammentreffen. Und an welchem Orte! Die Klubgenossen würden sich schütteln vor Lachen, wenn sie es wüßten! Mußte ihn auch der Teufel am Weihnachtsabend zu der kranken alten Schachtel, dem Weibe des Straßenkehrers Josef hinführen! Nicht etwa, daß er den großherzigen Wohlthäter mit dem Weihnachtsbaum hatte spielen wollen, Gott bewahre! – es handelte sich einfach darum, einen Eselsstreich des besagten Josef zu verhüten. Schindler liebte es, sich und sein Haus gelegentlich auf eigene Faust medizinisch zu behandeln. Und da er neben seinen harmlosen Gaben stets doppelt reichliche Nahrung und guten Wein verschrieb und spendete, fand er dankbare Patienten, die den Ruhm ihres Herrn verkündeten. Als nun die Frau des alten Josef, der in der Villa allerhand Hilfeleistungen verrichtete und bei der Dienerschaft beliebt war, trotz der Behandlung durch den Armenarzt gar nicht wieder zu Kräften kommen wollte, da trug Karl seinem Herrn die Sache vor und dieser stürzte sich mit dem Eifer des Liebhabers auf den neuen Fall. Es war ihm Ehrensache, daß das Weib unter seinen Händen sich schleunigst wieder herausmache, und er hatte, als dies trotz Wein und Fleisch nicht rasch genug ging, gerade an jenem Tag durch Karl eine Flasche Pepton nebst Gebrauchsanweisung zu dem Alten hintragen lassen. Hinterher stiegen ihm Zweifel auf, ob dieser nicht am Ende das einfach für eine nene Suppenart ansehen und der Kranken unverdünnt reichen würde. Da hieß es, selbst nachsehen, damit keine Dummheit passierte, obgleich ihn ein solcher Besuch eine ziemliche Ueberwindung kostete. So tappte er denn, ohne viel nach rechts und links zu sehen, durch den schmutzigen Hof in das Hinterhaus. Und wie er durch die Thür, an welcher er sich noch tüchtig den Kopf anstieß, in die dumpfige niedere Stube mit dem schwülen Krankengeruche trat, schrie die Alte trotz ihrer kranken Lunge laut auf und brachte richtig den „edlen Wohlthäter“ aufs Tapet, dem der Himmel sein „mildthätiges Erbarmen“ lohnen werde! Er mußte den Redestrom über sich ergehen lassen. Beim Scheine des blakenden, qualmenden Petroleumlämpchens erkannte er dann Marie Sinders, die neben dem dürftigen Bett auf einem hölzernen Schemel saß. Sie stand auf, reichte ihm die Hand und sah ihn mit ihren großen Kinderaugen so bewundernd und liebevoll an, daß er – Wolf Schindler! – rot wurde. Wahrhaftig, er wurde rot; er fühlte es ordentlich!

Seit der ersten mißglückten Begegnung auf der „Schönen Aussicht“ hatte er sie öfters bei Frau von Schmidtlein und in anderen Familien getroffen und sich in seiner hochmütigen, herablassenden Weise mit ihr unterhalten. Auch an diesem Abend schlug er diesen Ton an; aber war es nun die Weihnachtsabendstimmung oder der Blick ihrer guten strahlenden Augen oder ihre süße Stimme, er fand seine kühle Gleichgültigkeit nicht wieder. Sie gingen miteinander fort, nachdem er der Kranken unbemerkt ein Zwanzigmarkstück zugeschoben hatte, und so schritten sie schweigend nebeneinander die Straße hinunter bis zum großen Marktplatz. Dort blieb sie stehen und verabschiedete sich, weil sie zur Bescherung für Mama noch Einkäufe zu machen hätte. Sie stand vor ihm wie damals auf der „Schönen Aussicht“ – in demselben Kleide. Ein kurzes, dunkelbraunes Plüschjackett, darunter ein schwarzer Rock, der die feinen, schmalen Füße sehen ließ.

„Du könntest notwendig einen warmen Pelzmantel brauchen, arme Kleine,“ fuhr es ihm durch den Sinn, als er sie in der Winterkälte zusammenschauern sah. Doch sie lächelte freundlich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0370.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)