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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

jährlich einige Zeit mit ihrem Sohne auf den englischen Gütern zu verbringen. Zu diesem Opfer muß und wird sie sich verstehen. Percy ist in England geboren und darf seinem Vaterlande nicht ganz entfremdet werden.“

„Gewiß nicht,“ stimmte Ehrwald bei. „Aber jetzt, wo der Vater tot ist, hat die Mutter das alleinige Recht auf ihr Kind. Da hat das Schicksal einmal rettend eingegriffen! Zenaide war auf dem Wege, sich selbst zu verlieren, und Gott weiß, wie das geendet hätte. Das Kind wird ihr den Glauben an das Leben und an das Glück wiedergeben; seit ich sie am Bette Percys gesehen habe, fürchte ich nichts mehr für sie.“

Sonneck richtete das Auge ernst und forschend auf ihn.

„Und Ihr beide seid zu Ende miteinander? Ich weiß es, und es ist am besten so. Es gab eine Zeit, wo ich eine Verbindung zwischen euch wünschte und erhoffte, weil ich glaubte, ihr würdet das Glück miteinander finden; das war ein Irrtum. Zenaide hätte sich nie dem Berufe gefügt, der doch nun einmal der Deinige ist, sie hätte Dich nie von ihrer Seite lassen wollen und Dich selbst aus der Ferne mit ihrer Angst um Dich gequält. Du brauchst ein starkes Weib, das nicht jammert und verzweifelt, wenn es Dich in Gefahr weiß, und zur Not auch einmal die Gefahr mit Dir teilt.“

„Wie kommst Du darauf?“ fragte Reinhart befremdet. „Ich habe ja nie daran gedacht, mich zu vermählen, und jetzt, wo ich wieder auf Jahre hinausziehe, kann doch vollends davon keine Rede sein.“

Lothar ließ die Frage unerörtert, er wiederholte nur: „Auf Jahre! Und dann werden wieder Jahre vergehen, bis Du einmal nach Europa kommst. Wer weiß, ob Du mich dann noch findest, ich bin alt geworden, sehr alt. Vielleicht ist dies der letzte Abschied, den wir nehmen!“

„Thorheit, wer wird an so etwas denken!“ rief Ehrwald mit einem erzwungenen Lachen.

„Nun, der Gedanke liegt doch nah’ genug. Und wir haben in den zehn Jahren unsres Zusammenwirkens doch auch den Inhalt eines ganzen Lebens ausgekostet, denn es waren Kriegsjahre, die zählen doppelt. Das hat uns zusammengeschmiedet in Glück und Not und wir haben uns liebgehabt dabei – nicht wahr, Reinhart?“

„Ja,“ sagte Reinhart einfach, aber es lag mehr in dem einen Worte als in einer langen Beteuerung.

„Und das soll uns bleiben, auch wenn wir jetzt scheiden,“ ergänzte Lothar. „Doch nun geh’ auch hinunter zu Elsa und sag’ ihr Lebewohl!“

„Willst Du nicht mitkommen?“ fragte Ehrwald betroffen.

„Nein, ich – ich will zu Hartley. Ich habe versprochen, ihn im Hotel aufzusuchen, und muß ihn jedenfalls noch sprechen, wenn er von Zenaide kommt.“

„Dann begleite ich Dich zur Stadt,“ fiel Reinhart hastig ein. „Mein Abschiedsbesuch bei Deiner Frau wird nicht lange dauern, warte die paar Minuten.“

„Ich kann nicht, es ist ein Uhr und ich habe versprochen, pünktlich zu sein. So eilig brauchst Du es ja nicht zu machen mit dem Abschiede. Geh, Du findest Elsa unten im Wohnzimmer und wir beide sehen uns ja noch. Ich komme jedenfalls zu Bertram, um den letzten Abend mit Dir zu verbringen.“

Ehrwald zögerte noch einige Sekunden; als er aber sah, daß Lothar nach seinem Hute griff, blieb ihm nichts übrig, als sich zu fügen. Sie stiegen zusammen die Treppe hinunter und trennten sich erst dort. Sonneck war stehen geblieben und sah mit einem langen, düsteren Blicke dem Freunde nach.

„Er fürchtet dies Alleinsein!“ sagte er halblaut, „und ich schicke ihn geradeswegs hinein in die Versuchung, allein es hilft nichts, ich muß auch noch dies Letzte wissen. Wenn es unausgesprochen bleibt zwischen ihnen, wenn er geht ohne Geständnisse, vielleicht überwinden sie es dann beide. Wenn nicht – nun dann sollst Du das ‚Abschiedsgeschenk‘ haben, Reinhart, es ist das Kostbarste, was ich besitze.“

Er wandte sich um, aber nicht nach dem Ausgange, sondern nach dem Schlafzimmer Helmreichs, das jetzt verschlossen war. Er zog einen Schlüssel hervor und öffnete leise die Thür. Das Gemach stieß unmittelbar an das Wohnzimmer, man hörte jedes Wort, das dort gesprochen wurde.

Die junge Frau saß am Fenster und las, wenigstens hatte sie ein Buch in der Hand, aber ihre Augen folgten mechanisch den Worten, ohne daß ihr auch nur ein einziges davon zum Verständnis kam. Sie wußte ja, daß Ehrwald im Hause war und daß er kommen würde, um ihr Lebewohl zu sagen. Da öffnete sich die Thür und er trat ein, aber allein, und Elsa erbebte unwillkürlich. Sie hatte gehofft, daß der Abschied in Gegenwart ihres Gatten stattfinden würde – wo blieb Lothar?

Reinhart verneigte sich, so kühl und förmlich, wie er gewöhnlich mit der Gattin seines Freundes zu verkehren pflegte, und ebenso klang seine Anrede: „Ich komme, um mich zu verabschieden, gnädige Frau. Gestatten Sie mir, Ihnen nochmals Dank zu sagen für all die Freundlichkeiten, die ich in Ihrem Hause empfangen habe.“

Elsa neigte das Haupt und ihre Antwort klang ebenso förmlich: „Bitte, Herr Ehrwald, es ist Lothar und mir eine Freude gewesen. Sie wollen also morgen fort?“

„Morgen früh. Ich denke dann mittags die Bahnstation und den Eilzug zu erreichen.“

„Und dann gehen Sie direkt nach dem Süden?“

„Jawohl, ich reise ohne Aufenthalt nach Brindisi und schiffe mich dort ein.“

Es trat eine längere Pause ein; sie fühlten beide das drückende derselben und hatten doch nicht den Mut, weiter zu sprechen oder sich anzusehen. Ehrwalds Blick schweifte in den Garten hinaus und Elsas Augen blieben gesenkt. Die Zeit, wo sie sich über ihre Empfindungen täuschten, war vorüber, auch für die junge Frau; die grausamen Worte des sterbenden Großvaters hatten den Schleier von ihrem Inneren gerissen. Sie wußte es jetzt, welche geheimnisvolle, unentrinnbare Macht sie zu diesem Manne zog – er freilich hatte es längst gewußt! Dann kam jene Stunde der Todesangst, wo sie ihn auf der tobenden Flut wußte, und jene Minute, wo er gerettet ans Land sprang. Wenn auch noch kein Wort der Erklärung zwischen ihnen gefallen war, sie sahen beide klar genug.

„Sie werden diesmal lange fortbleiben?“ hob Elsa endlich wieder an.

„Wahrscheinlich jahrelang, es ist ein weiter Weg, den ich vor mir habe, und wenn ich an das Ziel gelangt bin, wird es noch Mühe und Arbeit kosten, uns die Früchte des Zuges zu sichern.“

„Aber Lothar hofft, daß Sie dann nach Europa zurückkehren, wäre es auch nur, um ihn wiederzusehen.“

„Gewiß, das hoffe ich auch. Wir nehmen ja nicht für immer Abschied.“

Er sprach die Unwahrheit aus, obgleich er wußte, daß sie nicht geglaubt wurde. Sie kannten ja beide die Bedeutung dieser Abschiedsstunde, das zeigte das bleiche Antlitz der jungen Frau und das dunkle Gesicht des Mannes, der ihr gegenüberstand. Wieder trat jenes bange, lastende Schweigen ein, das Minuten dauerte, dann richtete sich Ehrwald auf einmal jäh empor. Wozu denn die Qual verlängern, wozu lügenhafte Worte tauschen und sich hinter leeren Formen verschanzen! Es mußte ja doch ein Ende gemacht werden, so mochte es schnell geschehen!

„Leben Sie wohl,“ sagte er dumpf. „Denken Sie bisweilen meiner!“

Er wartete noch einige Sekunden auf eine Antwort, die nicht erfolgte, und ging dann. Aber an der Thür wandte er sich noch einmal um, sein Blick flog zurück und jetzt sah er die Augen, die sich ihm bisher verschleiert hatten, sah, wie sie ihm folgten, und das ganze herzzerreißende Weh des Abschieds stand darin. Da brach seine Selbstbeherrschung zusammen, in der nächsten Minute war er wieder an ihrer Seite.

„Elsa!“

Der Name kam zum erstenmal von seinen Lippen. Sie wich zurück. „Gehen Sie! – Ich bitte – gehen Sie!“

„Ich gehe ja,“ sagte er herb, „und für immer! Sie glauben es doch nicht, Elsa, daß ich zurückkehre?“

„Nein!“ war die leise Antwort.

„Nun, dann geben Sie mir auch ein Wort zum Abschiede mit. Ich warte darauf.“

„Leben Sie wohl – reisen Sie glücklich!“

„Glücklich?“ wiederholte Reinhart mit tief aufquellender Bitterkeit. „O gewiß, mein Glück in all den Gefahren ist ja beinahe sprichwörtlich geworden. Es war mir immer zur Seite, nur da, wo es sich um mein Lebensheil handelte, da wurde es mir treulos. Nun frage ich auch nicht mehr nach dem Leben überhaupt, wenn ich es diesmal lassen muß – mir ist es recht!“

Das Geständnis, das er bisher noch nicht ausgesprochen, lag in diesen grollenden Worten und auch Elsa machte keinen Versuch mehr, sich oder ihm die Wahrheit abzuleugnen, sie fuhr auf in bebender Angst.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0375.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)