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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

derselben freudigen Dankbarkeit wie die im Augenblick heimatlosen Gäste des „Margaret Louisa Home“, wenn sie, von einem harten Tagewerk geistig und seelisch ermattet heimkehrend, im ersehnten Ausruhen Auge und Herz an dem Anblick und Duft der herrlichen Blütensträuße erquicken.

Die stete Bedachtnahme auf Behagen und Gesundheit der Einwohnerinnen kennzeichnet alle Einrichtungen dieses Hauses. Die Schlafzimmer sind ganz ebenso sorgfältig und gut ausgestattet wie die Wohnräume, die Betten sind vorzüglich; große Waschtische, geräumige Kommoden und Kleiderschränke, ein Bücherbort und mehrere Stühle in jedem Zimmer erfüllen alle billigen Anforderungen an Bequemlichkeit. Saubere Kommodendecken, Nadelkissen und ein Atlasband mit poetischem Gruß an den Gast befriedigen auch den feineren Geschmack, sie nehmen den Räumen den kasernenmäßigen Charakter.

Im ersten und dritten Stock befinden sich die vortrefflich eingerichteten Badezimmer, Waschkabinette und ähnliches; heißes und kaltes Wasser kann in jedem Stockwerk geschöpft werden. Auf jedem Flur findet sich gekühltes Trinkwasser sowie eine große Uhr. Das ganze Haus ist durch Wasserdampf gleichmäßig zu erwärmen und mittels Glühlichts zu erleuchten. Jedes Zimmer erhält durch einen Ventilator frische Luftzufuhr vom Dache aus. Ein ziemlich großer Hof mit Grasplatz, im Sommer durch Blumen belebt und mit Bänken versehen, bietet einen Sitzraum im Freien, den das New Yorker Klima ganz besonders wünschenswert macht; derselbe findet seine Ergänzung auf dem ziegelbelegten Dache, dessen Sitzplätze an heißen Sommerabenden willkommene Kühlung gewähren. Kaum bedarf es der Erwähnung, daß der bequeme, geräumige Aufzug von sieben Uhr morgens bis zehn Uhr abends ohne Unterbrechung auf und nieder fährt.

Der Bodenstock des Hauses dient als Waschküche, die ebenso wie die Küche und Wirtschaftsräume im Keller mit den schönsten neuen Maschinen und Geräten ausgestattet ist; nicht Geldersparnis bei der Einrichtung, sondern Kraft- und Zeitersparnis bei der Bewirtschaftung waren der Maßstab, den Mrs. Shepard ihrem Werk zu Grunde legte. Das Kleinste ist hier mit der gleichen Sorgfalt bedacht wie das Größte und daraus ergiebt sich überall eine bedeutende Zeit- und Müheersparnis. Als Beispiel diene die Besorgung der Wäsche. Am Sonntag früh findet jeder Gast in seinem Zimmer einen gedruckten Wäschezettel, auf dem er nur die Ziffern auszufüllen hat. In jedem Schranke hängt ein Wäschebeutel zur Aufnahme der schmutzigen Wäsche. Montags holt ein Mädchen aus jedem Zimmer Beutel und Wäschezettel ab; Freitags findet der Gast die reine Wäsche auf seinem Bette; Verwechslungen fallen nicht vor; denn Wäschestücke, welche nicht deutlich gezeichnet sind, erhalten in der Waschküche die Zimmernummer des Besitzers in Tinte. Das Waschen und Plätten wird trefflich und sorgfältig ausgeführt; die Preise sind fast um die Hälfte niedriger als sonst in New York.

Geradezu musterhaft ist die Organisation des Betriebes in den großen Speisesälen, welche täglich von etwa 1000 auswärtigen Gästen außer den Insassen des Hauses besucht werden. Es sind nur zweihundert Sitzplätze vorhanden, also findet ein steter Wechsel statt, der auch durch die verschiedenen Beschäftigungen der Damen und ihre verschiedene Essensstunde bedingt ist. Nur zwölf Mädchen bedienen mit vollendeter Ruhe und Sicherheit diese Gäste innerhalb der zwei Stunden, welche für jede Mahlzeit gegeben sind. Der Platz, den ein Gast verläßt, wird alsbald von einem andern eingenommen. Die Mahlzeiten sind im allgemeinen nach Art einer table d’hôte eingerichtet, d. h. zwei oder drei Gänge werden für einen bestimmten Preis geliefert; aber zugleich bietet die Speisekarte eine etwas reichere Auswahl für denjenigen, welcher etwas vermehrte Kosten nicht scheut. Die Zusammenstellung der Speisen für jeden Tag entspricht den Grundsätzen zweckmäßiger Abwechslung in der Ernährung; alles ist vorzüglich bereitet, einfach und schmackhaft gewürzt, wie im Wirtshaus in Portionen angerichtet, die auch einen hungrigen Magen völlig befriedigen; zu jeder Mahlzeit gehört Butter und Brot nach Belieben und eine Tasse Kaffee, Thee oder Chokolade; geistige Getränke werden nicht verabreicht. Dabei ist der regelmäßige Preis für Frühstück und zweites Frühstück bei zwei warmen Gängen je 20 Cents, für das Mittagessen bei drei Gängen 30 Cents. Wenn man diesen Preis in europäisches Geld überträgt und zu dem Ergebnis gelangt, daß die drei täglichen Mahlzeiten somit 3 Mark kosten, so ist man geneigt, das teuer genug zu finden; in Deutschland und Frankreich sind freilich nicht viele von ihrer eigenen Arbeit lebende Frauen, die außer der Miete noch 3 Mark täglich ausgeben können. Aber in New York hat der Dollar (4 Mark) eine Kaufkraft von höchstens 2 Mark, und das „Margaret Louisa Home“ bietet seinen Gästen für 75 Cents dasselbe wofür sie in einem guten, einfachen Restaurant 1.25 Dollar bis 1.50 Dollar zahlen würden.

Während die Benutzung des Restaurants jeder Frau ohne Unterschied freisteht, ist das Unterkommen im „Margaret Louisa Home“ an gewisse Bedingungen geknüpft. Nur selbsterwerbende Protestantinnen finden Unterkunft; ihre Achtbarkeit muß durch mündliches oder glaubwürdiges schriftliches Zeugnis bestätigt werden. Ein Zimmer mit einem Bett kostet einen halben Dollar, ein solches mit zwei Betten achtzig Cents pro Tag. „Geld genug!“, wird der europäische Leser sagen. Allein in Hotels sowohl als in Boarding-Häusern stehen die Preise bedeutend höher! Das „M. L. Home“ nimmt keinen Gast länger als 35 Tage in einem Kalenderjahre auf. Als ich der Sekretärin der Anstalt gegenüber äußerte, diese Bestimmung scheine mir grausam, antwortete sie lächelnd: „Ohne dieselbe wären Sie nicht hier. Jede der zwölftausend Frauen, die in den drei Jahren seines Bestehens in diesem Hause eingekehrt sind, wäre ganz und gar hier geblieben oder schleunigst wiedergekommen, wenn die Bestimmung von den 35 Tagen nicht gälte.“ Bei näherer Prüfung mußte ich ihr recht geben: es ist zweckmäßiger, möglichst vielen vorübergehend Hilfe zu bieten, als etwa hundert dauernd zu beherbergen.

Selbstverständlich giebt es im „M. L. Home“ Hausgesetze, doch nur solche, die auch in jeder gesitteten Familie beobachtet werden. Das Haus steht durchaus im Dienst der Bewohner; die Verwaltung erhebt weder den Anspruch, die väterliche Vorsehung und Kontrolle der Gäste zu spielen, noch den, ihre Dankbarkeit in Anspruch zu nehmen. Der Eintretende hat vom ersten Schritt über die Schwelle bis zum Abschied das Gefühl, auf dem Boden eines sehr einfachen Rechts- und Geschäftsverhältnisses zu stehen, während anderseits jede Frage um Auskunft, jedes Ersuchen um Rat oder Beistand von den verschiedenen Sekretärinnen mit der größten Sicherheit und Höflichkeit beantwortet wird.

Die Menschen sind hier nicht in dem Sinne freundlich wie in Deutschland; sie fragen nicht leicht nach persönlichen Angelegenheiten oder erzählen von den ihrigen; es fehlt das gemütliche Gemeinsamkeitsgefühl, das auch Fremde leicht vertraulich macht. Dazu rauscht das Leben hier zu eilig dahin; es gilt auch nicht einmal für höflich, in die Angelegenheiten Fremder selbst in der freundlichsten Absicht einzudringen. Dagegen sind die Leute hier durchweg sehr hilfsbereit; sie erfassen mit schnellem Blick, was dem Nachbar fehlt, und leisten Beistand, noch ehe er erbeten worden ist, in der anspruchslosesten, natürlichsten Weise. Diese Schnelligkeit des Denkens, Sprechens und Handelns ist vielleicht einer der auffallendsten Vorzüge im geistigen Leben der Nordamerikaner und ganz besonders der gebildeten Frauen. Ihre Höflichkeit ist eine stille und steht ganz im Gegensatz zu der französischen, die sich in vielen artigen und verbindlichen Worten äußert. Dies tritt deutlich hervor, wo man wie im „M. L. Home“ viele Frauen auf verhältnismäßig engem Raume zusammensieht. Da nimmt in den Wohnzimmern keine der anderen eine Zeitung oder den Platz an dem einzigen Schreibtisch fort, ja, keine giebt sich je den Anschein, auf das zu warten, was die andere im Gebrauch hat, mag sie es noch so sehr wünschen; bei der allabendlich um 7 Uhr stattfindenden kurzen Familienandacht, an der man teilnimmt, wenn man will, und der man stillschweigend aus dem Wege geht, wenn man nicht teilnehmen will, sieht jede darauf, daß die andere und besonders der Neuankömmling einen guten Platz hat.

Es entsteht keine Reiberei um die Benutzung der Badezimmer oder der Plätze im Restaurant; mag der Andrang noch so stark sein, jede Besucherin hält stillschweigend ihre Reihenfolge inne; denn sie weiß, daß von der Ordnung und Gesetzmäßigkeit des Ganzen auch ihr eigenes Wohl abhängt. Niemand versucht, gegen die Hausordnung von den Stubenmädchen persönliche Dienste in Anspruch zu nehmen oder sie durch Verabreichung von Trinkgeldern zu besonderen Leistungen zu bestimmen. Für Botengänge stehen Leute gegen Entgelt zur Verfügung. Eine etwas bittere Entbehrung ist es für die Europäerin, daß sich niemand der Reinigung der Kleider und Stiefel unterzieht, was bei dem völlig morastartigen Zustand der Straßen im Winter und dem Staubmeer im Sommer zehnfach nötig wäre. Aber das ist nun einmal nicht

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0378.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)