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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

landesüblich. Jeder Mann läßt sich auf der Straße von Negerhänden den Rock bürsten und die Stiefel wichsen; die ihrer Fesseln entledigten Frauen dieses freien Landes aber müssen das eben selbst thun, nicht nur im „M. L. Home“, sondern auch in Privat- und Gasthäusern, in denen nicht gerade Luxus herrscht. Dagegen ist wieder die Annehmlichkeit hervorzuheben, daß man nirgends ein Trinkgeld zu geben hat und somit einer unnützen Ausgabe sowie der Sorge um das etwaige Zuviel oder Zuwenig völlig enthoben ist.

Die Leitung des „M. L. Home“ durch eine tüchtige, erfahrene Vorsteherin ist geradezu musterhaft zu nennen; dank ihrer Wirksamkeit und der jener vorerwähnten Sekretärinnen hat sich das Haus in der kurzen Zeit seines Bestehens ungemein gedeihlich entwickelt.

Seine Stifterin konnte natürlich nicht daran denken, das Schicksal einer so wichtigen Anstalt für die Zukunft in den Händen von Einzelnen zu lassen. Sie hat deshalb das auf ihre Vornamen getaufte Heim dem Christlichen Frauenverein der Stadt New York geschenkt und den Bauplatz desselben so gewählt, daß es von der Rückseite mit dem Gebäude dieses Vereins durch einen Gang verbunden ist.

The Young Womens Christian Association“ heißt dieser seit 1870 bestehende ganz eigenartige Frauenverein, der seinen arbeitenden Mitgliedern praktische, gesellschaftliche und geistliche Stärkung gewährt, letztere in durchaus unaufdringlicher Weise durch die einzige Veranstaltung einer Bibelklasse, d. h. einer von der Kaplanin des Vereins geleiteten religiösen Unterrichts- und Erbauungsstunde, an welcher aber bis jetzt nur die Hälfte der Mitglieder beteiligt ist. Die übrigen empfangen trotzdem den Fachunterricht in den Schulen des Vereins, welcher bezweckt, die zur Arbeit Willigen auch dafür tauglich zu machen und ihnen somit die größte Wohlthat zu erzeigen. Denn wer in Amerika vorwärts kommen will, muß bestimmte Leistungen in seinem Fach aufweisen können.

Das Haus des Vereins, dessen Ansicht unsere Leser ebenfalls auf Seite 380 finden, liegt in der 15. Straße zwischen der Fünften Avenue und dem Broadway, also in der besten Geschäftsgegend. Trotzdem herrscht die größte Ruhe in dem schönen, geräumigen Gebäude; zwölfhundert Frauen durchschnittlich gehen binnen 24 Stunden darin ein und aus und genießen die Wohlthaten seiner vorzüglichen Einrichtung.

In erster Linie ist hier zu nennen der Fachunterricht der verschiedenartigsten Schulen (Näh-, Schneider- und Putzmacherkurse, Handels- und Kunstgewerbeschulen, Unterricht im Maschinenschreiben und Stenographieren, Haushaltsschulen zur Heranbildung von Beschließerinnen und Haushälterinnen, in welchen auch den eingewanderten Europäerinnen Gelegenheit geboten wird, die Erfordernisse eines amerikanischen Haushalts kennenzulernen u. a. m.). Ebensoviel als die hier gebotenen Kenntnisse bedeutet für so viele, die mangelhaft erzogen herkommen, die Gewöhnung an Ordnung, Pünktlichkeit, Geduld, Aufrichtigkeit und Höflichkeit, kurz, die von der Lehre unzertrennliche Erziehung, deren sie teilhaftig werden.

Die weiteren, von jährlich über zweitausend Frauen in Anspruch genommenen Leistungen des Vereins sind die Stellenvermittelung, die Wohnungsvermittelung, das allen Besucherinnen offen stehende Wohnzimmer und die Bibliothek.

Die Stellenvermittelung besonders bewältigt ihre ungeheure Aufgabe dank einer vorzüglichen Organisation mit einer angesichts der riesenhaften Zahlen unmöglich erscheinenden Berücksichtigung der persönlichen Eigenschaften und der Bedürfnisse des Arbeitsmarktes. Jede weibliche Arbeiterin, mit Ausnahme der Dienstboten, die sich im Vereinsbureau vorstellt und annehmbare Zeugnisse über Charakter und Leistungsfähigkeit vorlegt, erhält vorläufig anständige Unterkunft und womöglich entsprechende Beschäftigung nachgewiesen. Gleichzeitig werden durch Briefwechsel nach allen Erdteilen die Angaben der Betreffenden geprüft und das Ergebnis sowie die fernere Führung in übersichtlichen Listen niedergelegt. Unter keinen Umständen, und scheine der Fall noch so dringend, wird die Betreffende einem Arbeitgeber empfohlen, ehe der Verein die Sicherheit hat, daß sie Empfehlung verdient. Aus dieser Gepflogenheit stammt das große Vertrauen der Arbeitgeber. Sie zahlen willig vierfach soviel Einschreibegebühr als die Arbeiterin – im Gegensatz zu Europa, wo man sie durch das entgegengesetzte Prinzip anzuziehen sucht – weil sie ihre Rechnung bei dieser Art der Geschäftsführung finden.

In einem besonderen Bureau werden die Adressen der vielen hundert von dem Verein beaufsichtigten Quartier- und Kostgeber, welche zu vorläufiger Aufnahme bereit sind, umsonst verabfolgt – eine unschätzbare Wohlthat für fremde, unerfahrene Mädchen! Dasselbe Bureau verwaltet zugleich das Sommerheim des Vereins an der See, das Frauen aller Berufsarten für zehn Dollar auf vierzehn Tage Kost, Logis und die Reise von New York dorthin gewährt.

Die sehr reichhaltige, vortrefflich eingerichtete und geleitete Bibliothek des Vereinshauses steht jeder Frau vom vierzehnten Jahr an offen, um nachzuschlagen, Auszüge zu machen oder Zeitschriften zu lesen; auch können die Bücher zu häuslicher Benutzung entliehen werden. Der Umstand, daß jede Leserin das gewünschte Buch selbst vom Bort nehmen darf, spricht für einen hohen Grad von Anstand und Haltung dieser aus allen Schichten der Bevölkerung zusammengesetzten Lesegesellschaft! In dem Zeitschriftenzimmer des Vereins liegen 123 Zeitungen und Zeitschriften aus. Zum Lobe der Ruhe, Ordnung und der behaglichen Stimmung, welche in den Bibliotheksräumen herrschen, kann man kaum genug sagen.

Eine ganz merkwürdige Blüte treibt das Vereinsleben der „Young Womens Christian Association“ in ihrer sogenannten „Society of United Workers“. Diejenigen Mitglieder der Bibelklasse, welche Zeit und Neigung dazu haben, bilden einen engern Verein im Vereine. Ihr Zweck ist, die Vorteile, welche die „Association“ bietet, weiteren Kreisen von Hilfsbedürftigen bekannt zu machen. Die Stätte ihrer Hauptwirksamkeit ist das sog. Wohnzimmer des Vereinshauses, ein schöner, großer und mit dem vollendetsten Komfort ausgestatteter Raum, der tagsüber den verschiedenen Komiteesitzungen dient. Abends aber ist er, nach Bedarf gut durchwärmt und erleuchtet, für alle die geöffnet, welche ihn besuchen wollen, also auch für Nichtmitglieder. Bücher, illustrierte Werke und Gesellschaftsspiele stehen ihnen zur Verfügung; jede fremde Besucherin wird von einer leitenden Dame bewillkommnet und mit den Veranstaltungen des Vereines bekannt gemacht. Aus diesen zwanglosen Abendbesuchen hat sich durch die Thätigkeit der „United Workers“ eine Kette von belehrenden und unterhaltenden Zusammenkünften herausgebildet.

Diese Abende sind immer, auch in den Sommermonaten gut besucht. In der heißen Zeit ist ja das Leiden derer, welche die dunstige Stadt nicht verlassen können und deren Wohnung keinen Schutz vor der Glut bietet, die durch jede Ritze eindringt, vollends unerträglich; Tausende von Unglücklichen suchen dann in Verzweiflung nach der Arbeit Kühlung auf der Straße und den freien Plätzen der unteren und mittleren Stadt; der Weg zum Central-Park ist zu weit, um zu Fuß zurückgelegt zu werden. Da gehen die „United Workers“ hinaus und bringen Hunderte von Mädchen, welche draußen allen Gefahren einer Weltstadt und einem qualvollen körperlichen Zustand preisgegeben sind, in ihr kühles Vereinshaus, wo sie dieselben durch verständnisvolle Teilnahme zu einer besseren, vernünftigeren Lebensführung anregen. Manche von diesen Gästen werden eifrige Mitglieder des Vereins und suchen dann ihrerseits seine Segnungen auszubreiten. Eine andere Gruppe der „United Workers“ widmet sich dem außerordentlich verdienstvollen Werk, unerfahrene Einwandrerinnen gleich am Landungsplatze in Empfang zu nehmen und für ihre Unterbringung und Weiterbeförderung Sorge zu tragen. Mit dem Schiff angekommene junge deutsche Mädchen können nichts Besseres thun, als sich diesen durch ein blaues Abzeichen mit der Inschrift: „Young Womens Christian Association, Travellers Aid“ kenntlichen Damen anzuschließen und sich sofort mit ihnen ins Vereinshaus zu begeben, um Unterkunft und Arbeit zu finden.

Nach dem Vorhergesagten ist es wohl einleuchtend, wie vorteilhaft dabei gute, durch Amt oder Geistliche beglaubigte Zeugnisse sind. Auch die Kenntnis der englischen Sprache hilft zum raschen Vorwärtskommen und sollte durchaus gewonnen werden, ehe man nach Amerika geht!

Großartige Leistungen, wie sie dieser Verein aufweist, sind nur durch eine ganz vorzügliche Organisation zu erreichen, durch zweckmäßigste Arbeitseinteilung, sowie durch Intelligenz und Thatkraft der leitenden Persönlichkeiten. Alles dies ist hier vorhanden, dazu herrscht eine weitgehende Teilung der Arbeit. Die Vereinsschützlinge von gestern sind schon morgen die Spender der praktischen Unterstützung und helfen andern, wie ihnen geholfen wurde. Die freiwillig arbeitenden Damen, 300 an Zahl, gliedern sich in 14 verschiedene Komitees mit Vorsitzenden, Sekretärinnen und wenigen besoldeten Beamten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 379. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0379.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)