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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

umwoben und über der in der Ferne sich verlierenden Flucht der Felswände, in deren Schattendunkel keine Form sich klar unterscheiden ließ, hoben sich die vom ersten dünnen Schnee überhauchten Kuppen und Zinnen mit feinen Linien in das wolkenlose Blau des Himmels.

Wie im Märchen die Gestalt der guten Fee von einem wundersamen Zauberschleier umflossen ist, so war dieses weite, farbenschöne Bild der Landschaft übersponnen von einem immerwährenden Flimmern und Geglitzer; es ging von jenen weißen Sommerfäden aus, welche zu Abertausenden die reine, linde Luft durchgaukelten; bald waren es nur winzige Dingerchen, die einem schwebenden Fünklein glichen, bald wieder lange fast endlos scheinende Fadenschlangen, welche stiegen und sanken, sich spielend rollten, große Schlingen bildeten und sich langsam wieder streckten. Dieses fliegende Wunder in den Lüften hatte all die kleinen Vögel in seltsame Erregung versetzt; mit lautem Gepisper flatterten sie ab und zu, stachen auf die schwebenden Fünklein nieder, als ob es Mücken wären, haschten die schwimmenden Fäden und huschten mit dem erbeuteten Schatz wieder in den Schatten der Bäume zurück. Alle Hecken und Gesträuche waren überzogen von dem blitzenden Gespinst; auf den welken Wiesen lag es umher und schimmerte; an kahlen Bodenstellen, von denen der Rasen in langen Wulsten niedergebrochen war, glitzerten die weißen Fäden, als träte pures Silber in feinen Adern aus der verwundeten Erde hervor; und an ein Fichtengehölz, das sich aus breiter Schlucht gegen die höheren Berge emporzog und einen seltsam müden Anblick gewährte – fast den Anblick eines an Dürre sterbenden Waldes – war das leuchtende Gespinst in solcher Menge angeflogen, daß die schräg durcheinanderstehenden Fichten einer Schar geplünderter Weihnachtsbäume glichen.

Draußen auf den offenen Halden lag, obwohl der Oktober schon begonnen hatte, die Morgensonne mit linder Wärme. Doch im Schatten des Waldes hauchte eine empfindliche Kühle, und an dem welken Kraut des Bodens hing noch der graue Reif der vergangenen Nacht. Der Wald schien öde zu sein, und dennoch herrschte in ihm eine merkwürdige Unruhe. Heiser kreischende Rufe und erregte Stimmen klangen von den bewohnten Gehängen herüber, dumpf hallten zwischen den Bäumen die schweren Schläge wieder, mit denen irgendwo auf den Halden Pfähle in den Boden getrieben wurden, und überall im Walde ließ sich ein seltsam gedämpftes Rauschen und Gurgeln vernehmen wie von reichlich strömendem Wasser. Es hatte in der vergangenen Woche stark geregnet und hoch droben in den Felswänden schmolz die Sonne den früh gefallenen Schnee; aber nirgends im Walde rann oder sickerte ein Tropfen, alle Wasserrinnen und die tief ausgewaschenen Furchen der Gießbäche lagen trocken. Und dennoch dieses rastlose Gurgeln und Geriesel! Es klang wie versunken, tief aus der Erde herauf.

Schwere Steine rollten, und zu dem lauten Hall, mit dem sie gegen die Stämme schlugen, gesellte sich das Klirren eines eisenbeschlagenen Bergstockes.

Ueber den Waldhang kam auf steilem Pfad ein Jäger herabgestiegen – kein Berufsjäger, wie die Kleidung verriet, sondern einer, der die Jagd zu seinem Vergnügen betrieb; nur der verwitterte Rucksack, das grüne Filzhütchen mit der Spielhahnfeder und die schweren Nagelschuhe erinnerten an die landesübliche Jägertracht; doch statt der Joppe trug er einen Flaus aus braunem Velvet, dazu eine grüne Weste mit silbergefaßten Hirschgranen und eine graue Tuchhose, die unter den Knieen von Ledergamaschen umschlossen war; eine neue englische Expreßbüchse, die wohl den Erlös eines Ochsengespannes gekostet hatte, vollendete die Ausrüstung dieses Bauern, der sich als Gutsbesitzer fühlte. Er mochte einige Jahre über dreißig zählen und man sah es ihm an, daß er einmal ein hübscher Bursch gewesen war; noch heute stand ihm der schwarze Schnurrbart gut zu Gesicht und ein Zug behaglichen Wohlwollens spielte um die vollen Lippen; aber die derben Wangen zeigten jene feinen rötlichen Aederchen, die an Mengen fleißig vertilgten Rotweins denken lassen, und die unruhig schwimmenden Augen verrieten, daß Toni Purtscheller auch den Jähzorn zu seinen Untugenden zählte.

Er hatte auf seinem Wege ein mühsames Niedersteigen; immer wieder fand er den Pfad von klaffenden Spalten unterbrochen; wohin er den Fuß setzte – überall lag der Boden locker und rutschte unter seinem Tritt, und rings um ihn her war aller Grund in einer steten, leisen Bewegung; in das sachte Knirschen, das aus der Erde quoll, mischte sich manchmal ein dumpfer Knall – da war unter dem Boden eine starke Baumwurzel entzweigerissen.

Eine breite, frisch geöffnete Kluft versperrte den Pfad und Purtscheller mußte einen mühsamen Umweg machen. Als er den Steig wieder erreichte, blieb er stehen, legte das Kinn auf den vorgestemmten Bergstock und betrachtete den Wald. Einzelne Bäume waren schon gefallen, viele andere standen schief und hingen mit den Wipfeln über Kreuz und an mancher noch aufrecht stehenden Fichte verriet ein rötlicher Behauch der Nadeln, daß ihre Wurzeln seit geraumer Zeit schon außer Nahrung waren.

„Da kann’s noch ein schönes Unglück absetzen! Der ganze Berg is im Laufen!“

Mit sorgenvollem Unmut folgten seine Blicke den gähnenden Bodenspalten und glitten über all die gestürzten und krankenden Bäume. Es war ja sein eigener Wald, den er sinken und sterben sah.

Schwer atmend nickte er vor sich hin und murmelte: „Da verlier’ ich wieder ein’ ordentlichen Brocken Geld!“ Eine Furche grub sich zwischen seine Brauen, er schob verächtlich die Lippen vor und richtete sich auf. „Ach, was! Der Purtscheller halt’ so was aus!“ Nun lächelte er wieder und folgte dem Pfad.

Als er den Grund der Schlucht erreichte, hörte er zwei lustige Stimmchen und helles Kinderlachen. Verwundert blickte er auf und gewahrte zwischen den schiefen Bäumen ein kleines Bürschlein und ein noch kleineres Mädchen, die wie die Kinder armer Stadtleute gekleidet waren und unter Lachen und Jauchzen ein seltsames Spiel betrieben; sie suchten locker hängende Kanten des Moosgrundes auf, kletterten auf die unterhöhlte Stelle, trampelten und stampften mit den Füßchen und schaukelten sich so lange, bis der Klumpen Erde mit ihnen niederbrach. „Hopsala hüo!“ schrieen sie dann mit fidelen Stimmchen, überkugelten sich, von Sand umwirbelt, und sprangen lachend auf, um das Spiel von neuem zu beginnen.

„Kinderln! Kinderln!“ rief ihnen Purtscheller gutmütigen Tones zu. „Gebts obacht! Der ganze Boden is lebendig! Da kann ein Malör passieren, eh’ man sich umschaut! G’scheit sein, Kinderln! G’scheit sein!“

Die beiden Knirpse standen verlegen, faßten sich bei den Händchen und machten scheue Augen.

Kaum aber hatte Purtscheller den Rücken gewandt und etwa hundert Schritte sich entfernt, da hörte er hinter sich schon wieder den jauchzenden Kinderschrei: „Hopsala hüo!“

Er schüttelte den Kopf, sah über die Schulter zurück und lächelte. „Merkwürdig! Kein Unglück so groß … ein Kind kann noch eine Freud’ dran finden!“ Den Ellbogen auf den Lauf seiner Büchse gestützt und den Kopf auf die Seite geneigt, schritt er weiter. Als der Wald zu Ende ging und hinter ihm die lustigen Stimmchen der Kinder verklangen, philosophierte er vor sich hin: „Könnt’s nur einer ’s ganze Leben lang so halten, wie’s die Kinder machen! Lachen zu allem, was kommt! In jedem Schatten noch ein Lichtl finden!“ Er schmunzelte und drehte den Schnurrbart, als hätte er seine Freude daran, daß ihm ein so guter Gedanke gekommen war.

Noch deutlicher als im Walde zeigte sich auf dem offenen Berghang das Bild einer rastlos fortschreitenden Zerstörung: alle Wiesen verwüstet und überschüttet von kiesigem Erdreich, das aus höheren Lagen niedergeglitten war, Hunderte von Rissen und Klüften zogen sich nach allen Seiten, weite Strecken des ebenen Wiesengrundes waren senkrecht zu tiefen Gruben eingesunken, und in diesen von bröckelnden Erdwänden umgebenen Löchern standen schlammige Pfützen, aus denen quirlende Luftblasen aufstiegen.

Wirre Stimmen klangen, und über einen steilen, von grauen Furchen durchrissenen Wiesenhang sah Purtscheller ein Dutzend Leute emporsteigen, darunter einige, welche schwarze Röcke trugen.

„Natürlich! Die studierten Herren müssen ihre Nasen ’neinstecken! Bin neugierig, was die auskochen.“

Aus dem Tone dieses Selbstgespräches klang ein recht zweifelhafter Respekt vor den Männern der Wissenschaft. Aber in Purtscheller war die Neugier wach geworden – vielleicht gesellte sich dazu auch die Meinung: „Wo um das Wohl und Wehe des Dorfes geredet wird, muß ich dabei sein! Ich bin der Purtscheller!“ – und so suchte er raschen Schrittes die Leute einzuholen.

Es waren fünf Herren aus der Stadt, mit Brille oder goldenem Kneifer, bejahrte Männer mit ernsten Gesichtern; sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0390.jpg&oldid=- (Version vom 11.6.2021)