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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Den Ausgang bildete eine eigentümliche, in unserem deutschen Vaterlande verhältnismäßig seltene Krankheit, das „Myxoedem“, ein schleichendes Siechtum, dessen Opfer vor allem durch zwei Erscheinungen auffallen: eine, zwar nicht wie der Name besagt, schleimigwässrige, sondern vielmehr an derben Speck erinnernde Verdickung und Schwellung der Haut des Körpers, zumal des Gesichts, und bis zur Stupidität, ja selbst zum Kretinismus gesteigerte geistige Stumpfheit. Von besonderem Interesse ist nun die Thatsache, daß dieses Leiden durch eine intensive Erkrankung der Schilddrüse, der „Thyreoidea“, veranlaßt ist, also jener Drüse, welche vor dem Kehlkopf und der oberen Luftröhre lagert und deren krankhafte Vergrößerung den „Kropf“ bildet. Regelmäßig zeigt sich nun bei den Myxoedemkranken die Schilddrüse verkleinert bis geschwunden, und es ist wohl keinem Zweifel unterlegen, daß sie entgegen früheren Anschauungen ein für den Haushalt unseres Organismus notwendiges wertvolles Organ darstellt. Wie wir uns ihre Funktionen zu denken haben, soll uns als ungemein schwierige Frage, welche die verschiedensten Beantwortungen gefunden, nicht weiter beschäftigen. Genug, der Ausfall ihrer Funktionen bedingt die Krankheitserscheinungen des Myxoedems und es beansprucht der Umstand wohl das ungeteilte Interesse der Fachleute wie gebildeten Laien, daß beim Menschen nach operativer Entfernung der Schilddrüse eine dem Myxoedem relativ vollständig entsprechende Krankheit sich entwickelt. Bei dieser befruchtenden, durch die Chirurgen, insbesondere Professor Kocher, vor etwa einem Jahrzehnt gemachten Entdeckung der Uebereinstimmung des operativen Entkropfungssiechtums mit dem selbst entstandenen Myxoedem setzen die grundlegenden Untersuchungen der Schilddrüsenbehandlung des Myxoedems ein. Physiologen, Kliniker und Aerzte wetteiferten in gleich zahlreichen wie belangvollen, die letzten sechs Jahre unserer Litteratur füllenden Bestrebungen,beide Krankheiten bei Mensch und Tier durch die künstliche Zuführung gesunder Schilddrüsen oder ihrer wirksamen Bestandteile zu beeinflussen. Und siehe da, es gelang! Die Tiere, welche man ihrer Schilddrüse beraubte, erkrankten nicht, wenn man die Schilddrüse anderer Tiere in ihre Bauchhöhle einbrachte, und zahlreiche Myxoedemkranke wurden wesentlich gebessert, ja geheilt durch Füttern mit Schaf- und Kalbsschilddrüsen oder Einspritzung von Extrakten derselben unter die Haut, resp. Darreichung trockener Auszugsformen. Ein berauschender Triumph brach aus, zumal in England, dem Lande des Myxoedems, das jetzt sein „new and wonderful remedy“, sein „neues, wunderbares Heilmittel“, hatte. Fehlte es auch nicht an Mißerfolgen, schien sich auch hier dem aufmerksamen Späher nach unliebsamen Nebenwirkungen der hinkende Bote in die glänzende Versammlung der Lobpreiser drängen zu wollen – die Thatsache, daß die Einverleibung der Schilddrüse geeignet ist, mit Erfolg die körperliche und geistige Schwäche der Myxoedematösen und nicht minder die plumpe Anschwellung des Körpers und sonstige Krankheitssymptome unter namhaftem Gewichtsverlust zu bekämpfen, ist eine unleugbare Thatsache.

Was lag näher als der Gedanke, es könne unsere „abmagernde“ Schilddrüse vielleicht auch imstande sein, gleich der eigentümlichen fettähnlichen, die Haut der Myxoedemkranken durchsetzenden Substanz, das wahre Fett der Fettleibigen zum Schwund zu bringen. Dem Gedanken, der freilich nicht mit der Wahrscheinlichkeit rechnete, daß die Fettleibigkeit nichts mit der Schilddrüse zu thun hat, folgte der Versuch, dem Versuche der Erfolg auf dem Fuße. Amerikanische Aerzte berichteten zuerst vor drei Jahren über stattliche Gewichtsverluste. Besonderes Aufsehen in Deutschland veranlaßte dann ein Jahr später Professor Leichtenstern durch die Veröffentlichung seiner Resultate an 27 Fettleibigen. Nicht weniger als 24, also nahezu 90 Prozent, erfuhren eine Entfettung, welche während einer mehrwöchigen Kur bis zu 9,5 Kilo, in der Woche bis zu 5 Kilo betrug! Dabei ging der eine Teilerscheinung der Thyreoidwirkung darstellende Gewichtsverlust ohne „entfernt beängstigende“ Zustände vor sich. Das Ideal aller Entfettungskuren, d. i. die Abmagerung des Körpers ohne Angriff auf seinen Eiweißbestand, schien insofern erreicht, als die Erfolge sich im wesentlichen durch Entziehung von Fett und Wasser – die harntreibende bis zu 6 Litern Tagesquantum liefernde Eigenschaft der Schilddrüse war durch eine Reihe von Forschern festgestellt – erklärten. Mit diesem Nachweis großartiger Erfolge einer zielbewußten Heilmethode bei einer unserer häufigsten und wichtigsten Krankheiten hatte sich die Schilddrüsenbehandlung zu einem der bedeutsamsten Ereignisse auf medizinischem Gebiet gestaltet. Noch in frischem Gedächtnisse stehen mir die überschwenglichen Aeußerungen zahlreicher Klienten in meinem Sprechzimmer, welche mit unentwegter Ueberzeugung allen „früheren“ Entfettungsmethoden nach berühmten Mustern den schleunigen Untergang weissagten.

So weit sind wir nun aber noch nicht gekommen. Es hat sich manches geändert. So fand man – und meine eigenen Beobachtungen führten zu gleichen Resultaten – daß die renitenten Fälle gar nicht spärlich gesät waren, ja, daß so mancher Patient enttäuscht aus der Kur ging, um einige Pfunde – schwerer. Gewiß erklärt sich ein Teil solcher Mißerfolge aus den Extravaganzen in Speise und Trank, welche die Hilfsbedürftigen sich nunmehr gestatten zu können glaubten. Allein ich habe eine wenn auch nicht belangvolle Gewichtszunahme auch bei solchen feststellen können, die sicher bei ihrer gewohnten mäßigen Kost geblieben waren. Also jedenfalls kein sichtlicher Erfolg. Auch scheint mir, daß man bereits in der Aufstellung bestimmter Kategorien geeigneter Fälle zu weit gegangen. Einstweilen habe ich ebensowenig wie Professor Ewald finden können, daß gerade die wahren Fettsüchtigen im Sinne unserer Definition, die also ihr Konstitutionsfett sich keineswegs durch unzweckmäßige Nahrung angemästet haben, oder blutarme Fettleibige oder gar solche mit Schilddrüsenaffektionen besonders auf die Kur mit Abmagerung geantwortet hätten.

Auch die Hoffnung, daß die Schilddrüsenbehandlung den Eiweißbestand unseres Körpers unversehrt lasse, haben spätere Versuchsansteller nicht bestätigen können. Wenigstens lernte man Fälle mit erheblichen Stoffwechselschwankungen kennen, bei denen die durch das Mittel mächtig angeregten Verbrennungsprozesse sich auch am Eiweiß vergriffen. Also eine Steigerung des Gesamtstoffwechsels! Prof. von Noorden vergleicht die Thyreoidinwirkung bei Fettleibigen mit derjenigen eines Blasebalges, welcher ein vordem langsam glimmendes Feuer zur mächtigen Flamme anfacht.

Weiter hat die Beobachtung eine ganze Reihe von Nebenwirkungen kennen gelehrt, welche freilich – ich glaube das voranschicken zu sollen – in ihren besonders unangenehmen und bedenklichen Formen als Folgen des vom Arzte unkontrollierten Excesses gelten müssen, meinem Dafürhalten nach also im wesentlichen vermeidbar sind. Die häufigsten Klagen mir gegenüber bezogen sich auf leicht bis arg belästigende Symptome der reizbaren Schwäche des Nervensystems in der Form von allgemeinen mit verschieden lokalisierten ziehenden schmerzhaften Empfindungen einhergehender Zerschlagenheit des Körpers, Schwindel, Zittern, Schlaflosigkeit und Herzbeschwerden, insbesondere von Herzklopfen, Herzangst, jagendem oder aussetzendem Puls. Meist betrafen solche Beschwerden, über die so gut wie alle erfahrenen Beobachter berichten, Nervöse und Herzleidende; allein sie haben auch nicht bei Nerven- und Herzgesunden gefehlt. Hierzu kommt die von verschiedenen Autoren festgestellte gelegentliche, auf Störungen des Stoffhaushaltes deutende Ausscheidung von Eiweiß und Zucker mit dem Nierensekret. Alle diese Nebenerscheinungen pflegen mit dem allerdings oft genug dringend gebotenen Aussetzen der Kur verhältnismäßig schnell zu schwinden. Es begreift sich, daß die Gefahr bedenklicher Nebenwirkungen dem Publikum um so näher gerückt wird, je willfähriger sich die Apotheken und Droguenhandlungen einem Entfettungssport auf dem Wege des Handverkaufs der Schilddrüsenpräparate erweisen. Wer es an seinen eigenen Patienten erlebt, wie es vom „wilden“ Thyreoidingebrauch zum Mißbrauch nur ein kurzer Schritt ist, wird es auch verständlich finden, wenn Prof. Eulenburg seine warnende Stimme vor dem freien Vertrieb der Präparate erhebt und mit Nachdruck fordert, daß sie nicht anders als auf ärztliche Verordnung abgegeben werden. Es verfängt dabei nichts, ob die geschilderten Erscheinungen als mittelbar den durch die Medikation bedingten Stoffwechselstörungen entspringen oder direkte Folgen einer Vergiftung darstellen, und des Ferneren nichts, daß ein Teil der Beschwerden ihren Ursprung einer schlechten Beschaffenheit der Präparate verdankt, ein anderer als Giftwirkung der reinen Substanz, also, um einen nach Analogie des „Morphinismus“ gebildeten, besonders in England beliebten Ausdruck zu wählen, als „Thyreoidismus“ zu gelten hat. In letzterer Beziehung kann von einer scharfen, sicheren Abgrenzung der Symptome noch nicht gut die Rede sein. Daß Ekel, Erbrechen, Magenschmerz, Verdauungsstörungen, Krankheitsgefühl eine Wirkung giftiger Beimengungen, insbesondere zersetzter Eiweißkörper, sogenannter „Ptomaïne“, also eine Art fauliger Blutvergiftung, sein können, erweist das Ausbleiben dieser Erscheinungen da, wo an Stelle etwas zweifelhaft schmeckender oder riechender

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0463.jpg&oldid=- (Version vom 25.7.2022)