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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

warme Seebäder, ihrem Knaben die stärkende Seeluft verordnet. Sie war hierher gegangen, in dies stille abgeschiedene Stranddörfchen, und hatte sich vorgesetzt, hier den Entschluß, der ihr all diese letzten Jahre vorgeschwebt, endgültig zu fassen, denn zum Herbst brauchte ihr Gut einen neuen Herrscher – da hatte sie der Zufall, das Schicksal in eine schwere, schwere Versuchung geführt. Sie hatte den Kürassierlieutenant Hans Henning von Trutzberg kennengelernt.

Frau Hildegard wußte recht gut, daß ein tief leidenschaftlicher Zug in ihrer Natur lag, und sie gestand sich denselben auch zu – aber, wohlverstanden, nur in ihrem Verhältnis zu ihrem Kinde. Ihrem Gatten gegenüber war diese Leidenschaft kaum zum Wort gekommen. Er war sehr ruhig gewesen, bedeutend älter als sie – ihre ganze Seele hatte ihm gehört und sie war redlich bestrebt gewesen, dem Flug seines Geistes zu folgen, seine Interessen zu den ihrigen zu machen – aber den heißen Quell in ihrem Innern, den hatte nur die Liebe zu dem Kinde, die Angst um das Kind zu entfesseln vermocht.

Und jetzt – und jetzt! Mit einem Schlage war sie dagewesen, ihr ganzes Sein durchrüttelnd – die Leidenschaft für den schönen Reiteroffizier! Ja, Leidenschaft war es, was da beim ersten Sehen, beim ersten Wort von seinen Lippen in ihr aufgelodert war, jäh und plötzlich, so daß ihr Herz ins Stocken kam und es sie überfiel wie ein rascher Schwindel. Sie war keine haltlose Natur, sie nahm ihr Herz fest in den Zügel und sagte sich selbst mit zorniger Energie: „Dies darf – dies soll nicht sein!“ Auch wollte sie sich nicht feig zeigen und fahnenflüchtig werden – fest wollte sie der Gefahr ins Auge sehen, um sicher, sicher dann zu erkennen, daß es überhaupt gar keine Gefahr gewesen, sondern nur eine Blendung, eine Täuschung! Und so mied sie nicht den Verkehr mit dem Mann – eher suchte sie ihn, denn sie wollte Mut beweisen und rasch mit sich fertig werden.

Das nun hatte sich als ein gefährliches Wagstück ausgewiesen, denn ihre Leidenschaft fiel keineswegs bei dem täglichen Verkehr in nichts zusammen – im Gegenteil, sie wuchs und wuchs. Ueber die ruhige Frau kam ein innerliches Zittern, sowie sie nur den Schritt des Mannes vernahm; sie hatte alle Mühe, ihre Aufregung zu verbergen, sobald er in ihre Nähe kam, sein Blick den ihrigen suchte. Ihre Hand wurde kalt in der seinen und lag wie hilflos darin, und wenn seine Lippen diese Hand berührten, flutete es ihr wieder heiß zum Herzen, daß sie zu vergehen meinte. Umsonst, daß sie es sich zurückrief, wie so ganz anders, wie viel reiner und tiefer ihre Liebe zu dem Gatten gewesen war – umsonst, daß sie sich den alten, treuen Freund vorstellte und sich sagte, wie nahe, nahe sie daran gewesen war, mit ihm einen neuen Bund zu schließen, der noch vor wenigen Wochen ihr Herz vollauf befriedigt, ihr die Zukunft in einem hellen, freundlichen Licht gezeigt hätte … es war alles wie ausgelöscht in ihr – nur eines war für sie Leben und Wirklichkeit: Hans Henning von Trutzberg.

Was wußte sie von ihm, seinem Wesen, seinem Charakter! Ein schöner Mann war er, mit ritterlichen Manieren, mit gewandter Unterhaltungsgabe, die aber nie die landläufigen Gebiete überschritt und – sie gestand sich das frei – sich in ziemlich eng gezogenen Grenzen bewegte. Denn in dem Punkt war Hildegard Bingen verwöhnt. Ihr Mann hatte sie nie als eine Frau, die von so und sovielen Dingen nichts verstehen kann und soll, angesehen, er hatte sie als ein ihm vollständig ebenbürtiges Wesen behandelt, ihre vielen Fragen klar und sachgemäß beantwortet, vieles aus eigenem Antrieb ihr mitgeteilt und so, wenn auch ohne System, ihren Geist ganz regelrecht geschult. Sein Freund hatte das alles miterlebt, er hatte von Hildegards Verstand und Kenntnissen eine sehr hohe Meinung, er that, wie der Verstorbene gethan: er besprach alles mit ihr, was in Politik, in Kunst und Wissenschaft irgend sein Interesse erregte, und das war nicht wenig, da er aus allen Kräften bestrebt war, nicht einseitig zu werden, „geistig zu verbauern“, wie er das nannte.

Von alledem nichts bei dem jungen Baron! Dinge, von denen er nichts verstand, wußte er mit einer gewissen hochfahrenden Manier abzuthun, die vielen an dem stolzen Kavalier ohne weiteres imponierte. Sich in Sachen, „die ihn nichts angingen“, zu vertiefen, fiel ihm gar nicht ein, und er fand, daß ihn sehr viele Fragen kalt ließen, um die sich die übrige Menschheit abmühte. Wenn er als Offizier das seinige leistete, sich auf Pferde gründlich verstand, im Ballsaal eine brillante Figur machte und mit den Kameraden auf gutem Fuß stand, so leistete er, nach seiner Ansicht, übergenug, und mit sonstigem „ödem Kram“ sollte ihm keiner kommen.

Das mußte Hildegard bald durchschauen und als Mangel empfinden, aber dennoch – dennoch!!

Daß er ihr huldigte, ihr auf alle Weise seine Ergebenheit bewies, lag zu Tage …. aber er war ein armer, wahrscheinlicherweise stark verschuldeter Offizier, und sie war eine reiche Frau, eine der besten Partien in der ganzen Provinz. War sein Gefühl echt, würde es auch standhalten, wenn sie arm wäre? Wer konnte ihr dafür einstehen?

Und er, der gute Freund, der zartfühlend, wie er war, nie mit Blick und Wort direkt um sie geworben, von dessen tiefem und starkem Gefühl sie aber überzeugt sein durfte – er, der bescheiden gewartet hatte, bis sie selbst es ihm gestatten würde, ihr näher zu treten, und jetzt sich der Erfüllung seines höchsten Wunsches nahe glauben durfte …. wie würde er diese plötzliche Wandlung auffassen?

Dann aber eins noch, das hauptsächlichste: wie durfte sie, die zärtlichste, fürsorglichste Mutter, daran denken, ihrem Knaben einen zweiten Vater zu geben, der ihm offenbar antipathisch war!

Und wenn sie sich tausendmal sagte, das könne nicht so bleiben, das müsse sich später ganz anders gestalten, aus anfänglicher Abneigung sei oft die herzlichste Liebe entstanden, und ein so junges Kind könne unmöglich ein so starkes Empfinden dauernd bewahren –, wenn sie sich tröstete, es sei eine unbewußte kindische Eifersucht, es sei Trotz und Eigensinn und diese Eigenschaften müßten gebrochen werden …. für jetzt blieb die Thatsache bestehen. Der glänzende, gefeierte Offizier mit dem schönen Gesicht und dem stolzen Namen warb um das blasse, unscheinbare Kind, warb beinahe dringender und eifriger als um des Kindes Mutter …… und warb bis jetzt vergebens!! –0000Der Knabe war zu jung noch, zu still auch und in sich gekehrt, um sich und anderen – in erster Linie der Mutter – in klaren Worten Rechenschaft davon abzulegen, weshalb er den Offizier nicht mochte. Vielleicht auch hätte er dies nicht gekonnt, wenn er mehr als doppelt so alt gewesen wäre. Vermögen doch selbst ganz reife, gescheite Menschen oft nicht, sich über rasch aufkeimende Sympathien oder Antipathien klar zu werden. Das Kind hatte sich von der ersten Stunde an gegen Hans Henning von Trutzberg kalt und ablehnend gezeigt, und das war trotz häufigen Beisammenseins, trotz guter Worte und reicher Geschenke bis heute so geblieben.

Fredy war kein leicht erregbares Kind, das jedem beliebigen Fremden in die Arme flog. Aber es gab Leute, zu denen er beim ersten Wort und Blick Zutrauen faßte – Lutz Bredwitz war einer von ihnen gewesen! – und solche, die sich monatelang um ihn abmühten, ohne auf ihn irgend welchen Einfluß auszuüben. Man konnte den Kleinen eigentlich nicht darum schelten, denn er betrug sich niemals unartig, er setzte nur aller Liebenswürdigkeit einen passiven, beharrlichen Widerstand entgegen. Frau Hildegard wußte nicht recht, wie sie ihr Kind hier fassen sollte. Sie konnte ihm sagen: „Sei höflich und freundlich, ich wünsche es!“ aber sie konnte ihm nicht sagen: „Diesen oder jenen mußt Du lieben, denn ich wünsche es!“

Ach, und es hätte sie so glücklich gemacht, wenn Er, der Sieghafte, der Eine, es auch noch verstanden hätte, sich ihres Kindes Herz zu gewinnen, wie er das ihrige erobert hatte – rasch, im Sturm, auf einen Schlag! Nun, es mußte kommen, ja, es mußte! Aber bis es kam, hieß es für sie: warten, denn sie durfte ihrem einzigen Kinde den Jammer nicht anthun, sein Herz zu knebeln, jetzt, da Fredy ohnehin nicht mehr die erste Rolle in ihrem Leben spielen sollte!

Frau Bingen war mit ihrem Brief noch nicht über die zweite Seite hinausgekommen. Sie las durch, was sie geschrieben, es kam ihr furchtbar konventionell und trocken vor; allerdings handelte es sich augenblicklich nur um eine Geschäftssache: eine Hypothek war ihr gekündigt worden, und sie wünschte den einfachsten, kürzesten Weg zu wissen, um die Sache abzuthun – aber ihr Ton war doch sonst ein anderer, freierer gewesen, heute klang etwas Erzwungenes daraus hervor. Sie seufzte – wie sollte sie das ändern? –

Draußen knirschte der Kies unter dem Rad eines kleinen Sandkarrens – ungleiche, trippelnde Kinderschrittchen näherten sich ....

„Mein Kleines! Fredy!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0482.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2023)