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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

hervorrief. Die Meeresbecken auf dem Mars, sagt er, beherbergen keineswegs mehr gewaltige, tiefe Wassermassen wie die irdischen, sind aber auch noch nicht ausgetrocknet wie die auf dem Monde, sondern sie dienen nur als wenig tiefe Behälter für das Wasser, welches noch auf der Marsoberfläche sich findet. Kurz gefaßt, kann man sich die Sache so vorstellen, daß im Frühling auf jeder Marshemisphäre eine bedeutende Ueberschwemmung infolge der Schneeschmelze eintritt und daß die Wasser sich gegen den Aequator hin ausbreiten, wo sie durch die Kanäle tief in das Innere der trockenen Festlandmassen geleitet werden. Darüber kann gegenwärtig kein Zweifel mehr herrschen.

Aber die Kanäle selbst, woher stammen sie? Schiaparelli sagt: „Das von ihnen gebildete Netzwerk war wahrscheinlich von Ursprung her bedingt durch die geologische Beschaffenheit des Planeten und wurde im Lauf der Zeit durch das Wasser langsam ausgearbeitet. Man braucht nicht anzunehmen, daß die Kanäle das Werk intelligenter Wesen sind, und trotz des fast geometrischen Aussehens ihres ganzen Systems bin ich jetzt zu dem Glauben geneigt, daß sie hervorgebracht wurden durch die Entwicklung des Planeten, wie wir auf der Erde den englischen Kanal haben, oder jenen von Mozambique.“ Trotz des großen Gewichts, welches jedem Ausspruche Schiaparellis zukommt, muß ich doch sagen, daß dieser Vergleich sehr hinkt. Die Aehnlichkeit des englisch-französischen Kanals oder der Straße von Mozambique mit einem der zahlreichen schmalen, scharfen und völlig geraden Marskanäle ist, wie schon der Anblick der beiden Karten (auf Seite 509) lehrt, gleich Null. Lowell tritt dieser Meinung daher auch entgegen und erklärt die Kanäle durchaus für künstlichen Ursprungs. „Ihr Aussehen allein,“ sagt er, „genügt schon vollständig, um alle Hypothesen, welche sie als Risse der Oberfläche bezeichnen, sogleich hinfällig werden zu lassen. Dagegen ist ihre eigentümliche Anlage im höchsten Grade geeignet, zu tiefem Nachdenken anzuregen. Die ganze Anordnung hat durchaus das Aussehen, als wenn sie nach einem bestimmten und sehr zweckmäßigen Plane getroffen worden wäre. Durch das System der Kanallinien wird die Oberfläche des Mars in ein Netzwerk von Dreiecken zerlegt, welches sogleich die Vermutung einer Absicht erweckt. Wo sich mehrere Kanäle treffen, zeigt sich stets ein dunkler Fleck, und es scheint, daß eine überaus große Menge von kleinsten Punkten dieser Art vorhanden ist.“ Dazu kommt, daß mehrere Beispiele aufgefunden sind, in welchen sich zwei Kanäle vollkommen genau unter rechten Winkeln kreuzen. Der erste Fall dieser Art wurde von Schiaparelli in der Landschaft, welche den Namen Hellas erhalten hat, beobachtet, den zweiten entdeckte der Mitbeobachter von Lowell in der Marslandschaft Oenotria, gerade als diese Insel sich von ihrer dunklen Umgebung abzuheben begann. Diese Fälle sind höchst bezeichnend: auf keinem einzigen andern Planeten, die Erde eingeschlossen, zeigt sich etwas Aehnliches. Wenn man aber, wie Schiaparelli gethan hat, darauf hinweist, daß in der Natur doch sonst auch sehr regelmäßige Gestalten vorkommen, wie z. B. der Regenbogen, die Krystalle, ja die Blumenblätter, so fühlt jeder sofort, daß derartige Vergleiche nicht statthaft sind. Man betrachte die Karte der Erde und die des Mars und man wird eher geneigt sein, die fast geometrische Anordnung der Kanäle für Phantasiegebilde zu halten, als ihnen eine natürliche Entstehungsweise beizulegen. Wer vorurteilslos dieses Kanalnetz in seiner Anordnung betrachtet, wird sagen, daß Naturgebilde so niemals aussehen!

Fig. 3. Vermutliche Umrisse der irdischen Meere, nachdem die oceanischen Wassermassen bis über die Hälfte zurückgegangen sind.

Die überraschendste Erscheinung, welche die Marskanäle darbieten, ist aber ihre zeitweise Verdoppelung, und zwar scheint sie vorzugsweise einzutreten in den Monaten, welche der großen Ueberschwemmung vorausgehen oder ihr folgen. Schiaparelli schildert diese Erscheinung in seiner neuesten Publikation wie folgt: „Nach einem schnellen Vorgange, der sicherlich höchstens ein paar Tage oder vielleicht nur wenige Stunden dauert und dessen Eigentümlichkeit mit Sicherheit zu bestimmen noch nicht möglich gewesen ist, ändert ein vorhandener Kanal sein Aussehen und man findet ihn nach seiner ganzen Länge umgewandelt in zwei Linien oder gleichmäßige Streifen, welche mit der geometrischen Genauigkeit zweier Eisenbahnschienen einander parallel verlaufen. Diese beiden Linien folgen sehr nahe der Richtung des ursprünglichen Kanals und endigen dort, wo dieser aufhört. Eine von ihnen erscheint oft genau der frühern Linie überlagert, während die andere neu ist; aber in diesem Falle verliert die ursprüngliche Linie die kleinen Unregelmäßigkeiten und Krümmungen, welche sie ursprünglich besessen. Es kommt aber auch vor, daß beide Linien an den entgegengesetzten Seiten des frühern Kanals sich befinden und auf ganz neuem Gebiete liegen. Der Abstand zwischen beiden Linien ist bei den verschiedenen Verdoppelungen, welche beobachtet wurden, verschieden und schwankt zwischen 600 Kilometern und darüber bis zur kleinsten Entfernung, in welcher man zwei Linien an großen Fernrohren noch getrennt sehen kann, nämlich weniger als 50 Kilometern. Die Breite dieser Kanäle kann von der Grenze der Sichtbarkeit, die wir zu 30 Kilometern annehmen können, bis zu über 100 Kilometern schwanken. Die Farbe der beiden Linien wechselt zwischen Schwarz und Hellrötlich, welches kaum von der Farbe der Oberfläche des festen Landes unterschieden werden kann. Der Raum zwischen beiden Linien ist meist gelb, aber in vielen Fällen erscheint er weißlich. Die Verdoppelung ist übrigens nicht notwendig auf die Kanäle beschränkt, sondern strebt sich auch in den Seen auszubilden. Oft sieht man einen derselben in zwei kurze, dunkle, breite, einander parallele Linien umgewandelt und von einer gelben Linie durchquert. In diesen Fällen ist die Verdoppelung natürlich kurz und überschreitet nicht die Grenzen des ursprünglichen Sees. Die Verdoppelung zeigt sich nicht an allen Kanälen zu derselben Zeit, sondern, sobald die Jahreszeit gekommen ist, beginnt sie sich bald hier, bald da in unregelmäßiger Weise oder wenigstens nicht in erkennbarer Ordnung zu bilden. Nachdem sie einige Monate bestanden hat, verblassen die Konturen allmählich und verschwinden bis zu einer spätern für ihre Bildung gleich günstigen Jahreszeit. So kommt es vor, daß in gewissen andern Jahreszeiten wenige gesehen werden oder auch gar keine. In verschiedenen Jahren kann die Verdoppelung desselben Kanals verschiedenes Aussehen zeigen in Bezug auf Breite, Stärke und Anordnung der beiden Streifen, in einigen Fällen kann auch die Richtung der Linien schwanken, indem sie, wenn auch nur um eine kleine Größe, von dem Kanal abweicht, mit dem die Linien direkt verknüpft sind. Aus dieser wichtigen Thatsache erhellt unmittelbar, daß die Verdoppelungen keine festen Bildungen auf der Oberfläche des Mars sein können wie die Kanäle selbst.“

Eine Deutung des Wesens dieser Verdoppelungen zu geben, erklärt sich Schiaparelli außer stande; alles, was in dieser Beziehung von der Zukunft zu hoffen sei, ist nach seiner Meinung, daß sich höchstens herausstellen werde, was die Verdoppelungen nicht sein können, falls nicht aus einer unverhofften Quelle ein Lichtstrahl unsere Vermutungen aufhellt. Lowell hat auch die Verdoppelung der Kanäle beobachtet und seine Karte führt eine Anzahl von Beispielen derselben auf. Er sieht in diesen Verdoppelungen erst recht Anlagen zur Erreichung bestimmter Zwecke, die mit den großen Ueberschwemmungen in Zusammenhang stehen, und betont, daß der offenbare Versuch, solche Zwecke zu erreichen, durchaus nicht charakteristisch für die unbelebte Natur sei, also auch hier die Thätigkeit intelligenter Wesen hervorleuchte. Alles in allem genommen, bin ich durchaus geneigt, der Anschauung Lowells zuzustimmen und in dem System der Marskanäle das erste und bis jetzt einzige Beispiel der Thätigkeit vernünftiger Geschöpfe außerhalb des Bereichs unserer Erde, auf einem fremden Planeten, zu erkennen. Allerdings würden Menschen ein derartiges Kanalnetz, wenigstens mit den heutigen technischen Hilfsmitteln, nicht herstellen können; aber wenn wir einmal annehmen, daß Marsbewohner dieses Netz ausgeführt haben, so dürfen wir unbesorgt den ferneren Schluß ziehen, daß sie diese Riesenarbeit wahrlich nicht zum Vergnügen, sondern nur, von der bittersten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 510. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0510.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)