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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Gendarm die Umstände seiner Flucht mit allen Einzelheiten, seine weiteren Schicksale, wie er im Holzhandel Beschäftigung gefunden, unter falschem Namen, durch einen Verwandten, der drüben lebte … ihre Blicke ruhten immer mit heimlicher Angst auf dem Wiedergefundenen, der in dieser Begleitung heimkehrte, mit einem Geheimnis auf dem Herzen, an das nicht gerührt werden durfte ... War es denn nur wirklich so, daß sie glauben durfte, ihn zu behalten? Ja, wenn er morgen gekommen wäre, und ohne diese Begleitung! So hatte sie es ja erwartet. War er ein Gefangener, dem man nur auf Stunden die Vergünstigung gewährte, sie wiederzusehen?

Das Herz schnürte sich ihr zusammen bei diesem Verdacht, und ihr wurde eiskalt und ganz schwach im Kopfe.

Belog er sie? Um ihr ein paar glückliche Stunden zu schaffen? Aber das konnte nicht ganz stimmen … in seinem ganzen Benehmen war noch etwas anderes angedeutet. Was? – ja was?

Die Viertelstunden schlichen. „Vorläufig bis Zwölf“, hatte er gesagt. Sie tranken – Zellin wurde immer aufgeregter, der Gendarm bekam eine schwere Zunge, wurde müde und weigerte sich am Ende, mehr zu trinken. „Eh,“ rief Zellin überlustig, „ist das alles, was Sie vertragen können? Nur zu, noch mal auf meine Frau …“

„Ich soll mir einen antrinken, Herr Zellin. Das giebt’s nicht,“ sagte der Gendarm, sich stramm machend und mißtrauische Blicke werfend. „Ich halte mein Wort, aber weiter nichts …“

„Meinetwegen ja; ich will auch weiter nichts. Seien Sie kein Frosch, Möbius … ist gut, ich will Sie nicht elenden –“ Der Gendarm hatte sich schwerfällig und sehr ernsthaft erhoben, nun setzte er sich wieder. Und Zellin sah nach dem Regulator an der Wand, der zehn Minuten vor Zwölf zeigte, und seine Wimpern zuckten und er war plötzlich wie geistesabwesend, so starrte er vor sich hin in die Luft und dann wieder auf seine Frau, worauf seine breite Brust schwer Atem holte.

Frau Zellin war seinen Augen gefolgt. Dicht vor Zwölf … und um Zwölf geschieht etwas, aber was? Etwas Großes oder etwas Furchtbares … seine Augen sagen es. Ihr wurde aufs neue eiskalt zu Mut, tot im Kopf und Herzen, als müßte sie ohnmächtig werden.

Zellin spricht auf einmal wieder sehr ruhig, spricht zu ihr, will wissen, was sie für Kutschpferde jetzt hat. Sie muß Auskunft geben, dabei zittern ihre Lippen. Haarklein fragt er sie aus, wie sie aussehen, wie alt sie sind, von wem gekauft. Was sie vorher für welche gehabt – ob der alte Schlitten noch da sei – dann erzählt er von schwedischem Fuhrwerk, von Schneeschuhfahrten im Winter . . .

Der Gendarm beobachtet ihn wie eine Katze die Maus, obwohl es ihn Mühe kostet, die Augen zu spannen. Der Himmel weiß – ihm ist ein Mißtrauen gekommen, das ihn, wo er schon etwas viel getrunken, wie eine fixe Idee gefangen nimmt, immer ausschließlicher beherrscht. Und Zellin sieht es; ein paarmal fängt er diesen Blick des Gendarmen auf, ohne, so scheint es, Notiz davon zu nehmen, dann nickt er ihm verständnisvoll zu und winkt mit dem Kopf zu dem Regulator hinauf. „Geduld, Möbius – übernehmen Sie sich nicht, wir sind gleich soweit.“

Frau Zellin muß das hören. Sie kann sich nicht mehr halten. Totenblaß fährt sie auf. „Was ist, Adolf? Was habt ihr vor?“

„Ruhig, Mieke,“ sagt er, steht plötzlich neben ihr, umfaßt ihren Kopf und hält ihr wie zufällig den Mund zu. „Sorge Dich nicht, es giebt nur eine Ueberraschung … Sie haben doch Ihre Uhr bei sich, Möbius – dort oben ist’s jetzt Zwölf – stimmt das mit Ihrer Kartoffel?“

Der Gendarm zieht seine Uhr und nickt. „Bei mir ist’s schon fünf Minuten drüber. Ja, Herr Zellin, dann kann ich Ihnen nicht helfen – im Namen des Gesetzes: Sie sind verhaftet; ich kann’s nicht ändern, Frau Zellin …“

Er ist aufgestanden, die Hausfrau jäh in die Höhe gefahren, aber der Gatte drückt sie nieder. „Mieke,“ sagt er, schwerer und immer schwerer atmend, und es preßt ihn, daß er aufschreit: „Mieke – ich bin ja frei – jetzt, von jetzt ab ..“ Und er schluchzt aus tiefster Brust und der schreckliche Krampf, der ihn zusammengeschnürt hat, löst sich mit diesem Schluchzen. „Mein Weib, mein liebes armes Weib – meine Mieke …“ Er umschlingt sie, neben ihr knieend, und drückt seinen Kopf in ihren Schoß. Ihre Augen starren ihn entsetzt an, ihre Gedanken werden ganz verwirrt. „O mein Gott, Adolf, was heißt das, ich begreife ja das alles nicht …“

Er murmelt bloß, was sie nicht versteht, er braucht Zeit, bis er wieder verständlich reden kann. Der Gendarm steht in nächster Nähe, schüttelt den Kopf und sieht um sich, als ob er an Zellins gesundem Verstand zweifelte.

„Ich muß ihn mit fortnehmen, Frau Zellin,“ sagt er, „ich thue meine Pflicht, wenn es auch hart ist. Wir müssen ein Gespann haben, es geht mal nicht anders …“

„Mieke,“ spricht Zellin und hebt den Kopf, und in seinem Gesicht leuchtet alles, „jetzt, gerade um Zwölf, ist alles verjährt – verjährt! Sie können mir nichts mehr anhaben! Bei Gott, wie ich schrieb: es ist so, ich weiß es ganz genau. Jetzt nutzt alles Verhaften nichts mehr. Ich war ja leichtsinnig, daß ich einen Tag früher herfuhr, ich wollte so gern auf Deinen Geburtstag kommen und dachte nicht, daß das Unglück so grausam sein könnte, mir den einzigen Menschen in den Weg zu führen, der alles verderben konnte …“

„Alle Hagel, wenn das wahr ist, dann habe ich mich schön dumm machen lassen, Herr Zellin,“ bricht hier die Ueberraschung des Gendarmen heraus. „Wir wollen’s aber doch erst mal abwarten.“ Und er stemmt einen Arm auf die Hüfte.

„Machen Sie, was Sie wollen, Möbius. Ich lasse anspannen und fahre mit, wenn Sie dafür sind; wir werden mit dem Richter reden und Sie werden sehen, daß ich recht habe. Ich weiß ja die Strfsgesetzbuchparagraphen auswendig wie das Einmaleins: – in zehn Jahren ist die Strafverfolgung verjährt, an dem Tage, wo das Verbrechen begangen ist, und heute war’s, heute vor zehn Jahren, wo mich das grausame Unglück getroffen hat … malen Sie sich bloß aus, Möbius: man will nichts weiter wie einem frechen Menschen seinen Aerger hinter die Ohren schlagen, wie das jedem einmal gelüsten kann, und auf einmal ist man ein Mörder und zehn Jahre flüchtig wie Kain und schleppt außerdem das Grauen bis ans Lebensende mit sich! … Und wenn ich vor Zwölf noch vor den Richter kam, Mieke – wenn mich bloß einer bei ihm meldete und er sagte: Wird morgen vernommen – dann war alles umsonst, jede Handlung des Richters unterbricht die Verjährung! All die Vorsicht, die Angst, die zehnjährige schreckliche Trennung – alles umsonst! … Sie hätten mich ja meinetwegen verhaften können, Möbius – nur der Richter durfte vor Zwölf nichts davon erfahren!“ Er sprudelte das hastig hervor – was er an qualvollen Gedanken bei sich behütet, mußte heraus wie eine verborgene Krankheit, von der man genesen will. Nun hielt er erschöpft inne; so hatte er sich in Aufregung gesprochen, daß ihm der Schweiß in dicken Tropfen auf der Stirne stand.

Der Gendarm hatte mit gerunzelter Stirn zugehört. Ein Vorwurf traf ihn nicht darum, daß er Zellins Bitte nachgegeben; seine Instruktion verlangte nichts, was er versäumt hätte. Ja – im Grunde seines Herzens war er froh darüber, wie sich alles gefügt hatte. Aber die Thatsache war nicht aus der Welt zu schaffen, daß er, der Beamte, sich gründlich hatte nasführen lassen.

„Ich weiß nicht, ob das alles stimmt, Herr Zellin,“ sagte er grob und ärgerlich. „Das mögen sie auf dem Gericht untersuchen. Ich habe meine Pflicht zu thun, und ich muß darauf bestehen …“

„Jawohl, ja doch!“ unterbrach Zellin, sich erhebend. „Sorge, Mieke, daß der Kutscher geweckt wird und anspannt – bei dem Wetter ist die Kutsche besser als der Schlitten, denke ich.“

Auch die Frau stand jetzt auf. Die Hände auf die Brust gepreßt, hatte sie ängstlich dem Gatten während seiner Auseinandersetzung auf den Mund gesehen, nun irrten ihre Blicke von einem der Männer zum andern und plötzlich ergriff sie Zellins Hände: „Adolf,“ sagte sie mit zitternder Stimme, „bei Deiner Ehre: ist’s wahr, ist’s ganz sicher, daß jetzt alles verjährt ist, daß sie Dich nicht mehr einsperren können? Ich bin auf alles gefaßt.“

„Bei der Todesangst, die ich in diesen Stunden ausgestanden habe, Mieke, es ist so – der beste Advokat, den ich kenne, hat mir’s herausklamüsert.“

*  *  *

Die Männer fuhren in die Stadt, in geschlossener Kutsche vor dem Wettergraus dieser Nacht geborgen. Ein paar Stunden war Zellin in Gewahrsam, dann gab ihn der Richter vorläufig frei, mit einem lächelnden Glückwunsch.

Der arme Zellin war gut beraten gewesen!

Der Gendarm Möbius aber läßt sich gar nicht gern an die Sache erinnern, auch heute noch nicht, wo Jahre darüber vergangen sind. Er – solch ein Pfiffikus!


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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0515.jpg&oldid=- (Version vom 13.7.2023)