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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

angebrochen sei. Wir thaten einfach, was uns beliebte, und daß es uns nicht beliebte, übermäßig zu arbeiten, ist vielleicht begreiflich.

Wären nicht Herr Konrektor Müller und ein paar Hilfslehrer gewesen, wir hätten gewiß gar nichts gelernt.

Zur ersten Morgenstunde pflegte Fräulein Nunnemann – das war ein für allemal feststehende Regel – stets etwa dreißig Minuten zu spät zu erscheinen und die nächsten zehn Minuten mit lebhaften Scheltworten über ihre Hauswirtin auszufüllen, welche sie „wieder einmal nicht rechtzeitig geweckt hatte, die abscheuliche Person“. Dann begann sie, ihre Toilette während des Unterrichts zu vervollständigen. Zuerst wurden die blonden Haarstränge von großen Papierpapilloten abgelöst und über einen Lockenstock gewickelt, eine Manipulation, die uns anfangs mit dem maßlosesten Staunen erfüllte, da keine von uns etwas Aehnliches je gesehen oder auch nur geahnt hatte, die uns aber bald völlig gleichgültig ließ und gewohnheitsmäßig gar nicht weiter beachtet worden wäre, wenn nicht Fräulein Nunnemann dann und wann selbst ganz ungeniert gerufen hätte: „Seht, Kinnings“ – sie war Mecklenburgerin – „so drehe ich meine Locken!“

War die Frisur beendet, so wurde die himmelblaue Taille, die bis dahin ein barmherziger Seelenwärmer bedeckt hatte, nicht ohne Mühe geschlossen, wobei gelegentlich ein Knopf ab und weit in die Stube hineinsprang. Zwischendurch überhörte sie uns pflichtschuldigst unsere englischen Vokabeln oder unsere Geschichtstabellen, doch nahm sie es, gutmütig wie sie war, nicht eben genau damit; und war die umständliche Toilette mit Hilfe eines kleinen Handspiegels beendet, so schlug es auch allemal schon neun auf dem Flur. Dann erhob sich Fräulein Nunnemann fröhlich und jugendschön, und es konnte geschehen, daß sie aus der Wärme ihres guten Herzens heraus ganz glücklich rief: „So, Kinnings – wer will mir nu mal ’n Kuß geben?“ Eine Aufforderung, der, soviel ich weiß, nur ein einziges Mal eine barmherzige kleine Seele aus Mitleid entsprach, da sich niemand sonst melden wollte.

Konnte Fräulein Nunnemann einmal durchaus nicht vermeiden, eine von uns zu bestrafen, so geschah dies nie, ohne daß sie mit Thränen in den Augen versichert hätte, es thäte ihr selbst unendlich leid, aber diesmal könnte sie wirklich nicht anders.

Kurz, sie war, wie man sieht, eine wirklich grundgute Person.

Eine kindliche und uns höchst erfreuliche Vorliebe legte sie für eine Verlängerung der Frühstückspause an den Tag. Um dieselbe würdig und in passender Weise auszufüllen, brachte sie regelmäßig eine Ledertasche mit in die Schule, aus welcher sich am gehörigen Ort und zur rechten Zeit eine umfangreiche Flasche mit kaltem Milchkaffee, drei große Buttersemmeln und eine Tüte mit Streuzucker entpuppten. Den süßen Inhalt der letzteren schüttete sie sich nach und nach in kleinen Portionen direkt in den Mund. Die Buttersemmel zerpflückte sie in kleine Fetzen und schleuderte dieselben – ich weiß keine andere Bezeichnung dafür – dem Zucker und dem Kaffee nach. Außerdem war Fräulein Nunnemann in des Wortes verwegenster Bedeutung empfänglich für jede Art von Obst, mochte sich ihr dasselbe auch nur in Gestalt eines einzigen Apfels darbieten, und wir hatten deshalb unter uns ein wohlgeordnetes System eingerichtet, nach welchem die tägliche Obstlieferung von uns abwechselnd zum allgemeinen Nutzen besorgt wurde.

Freilich, diese Liebhaberei für Früchte wurde uns eines schönen Tages schmerzlich verhängnisvoll. Wir waren sämtlich zu einer Kindergesellschaft eingeladen, und auch Fräulein Nunnemann hatte sich, ich habe vergessen, ob auf den Wunsch der Gastgeber oder aus freiem Antriebe, eingefunden. Gegen Abend wurde eine große Schale mit wunderschönem Obst gebracht, welche für uns alle auszureichen bestimmt war. Natürlich trug die liebenswürdige Hausfrau dieselbe zuerst zu Fräulein Nunnemann, als zu einer Respektsperson.

„Nehmen Sie, liebes Fräulein, bitte!“

„Aber das ist ja reizend!“ rief Fräulein Nunnemann, kindlich in die Hände klatschend. „Die prachtvollen Früchte sind für mich? Es ist zu viel! Sie sind gar zu freundlich!“ Und ehe wir noch recht begriffen hatten, was sie eigentlich meinte, hatte sie ihren riesigen Handarbeitsbeutel geöffnet, und der ganze Inhalt der Schale, auf die wir schon lange lüsterne Blicke geworfen hatten, verschwand in seinen dunklen Tiefen.

Wir konnten Fräulein Nunnemann manches verzeihen, weil wir in der Schule jetzt ein gar so vergnügliches Leben führten – dies aber konnten wir ihr lange nicht vergessen. Freilich, sie vergaß es auch uns lange nicht, daß wir sie, trotz ihrer vorhergegangenen sehr deutlichen Anspielungen, weder zum Geburtstage, noch zum Weihnachtsfeste beschenkten. Als wir diese beiden Feste hatten vorübergehen lassen, ohne ihr ein Angebinde zu bringen, weil das überhaupt in unserer Schule nie Sitte gewesen war, kühlte sich ihre innige Liebe zu uns merklich ab, und sie nahm sogar keinen Anstand, in öffentlicher Klasse zu erklären, welche Familien sie für wohlhabend genug hielte, um der geliebten Lehrerin ihrer Kinder gelegentlich ein hübsches Geschenk zu machen.

Fühlten wir uns nachmittags für die Schule nicht aufgelegt – dergleichen kann ja vorkommen – so erlaubten wir uns allerlei niedliche Scherze, um eine Lehrstunde zu vereiteln. Unsere Klassenzimmer befanden sich in einem herrlichen, uralten ehemaligen Kloster mit einer Menge von Schlupfwinkeln und so dicken Wänden, daß ich mir damals einbildete, dickere könnte es auf der ganzen Welt nicht geben. Erschien nun Fräulein Nunnemann pflichtgemäß zur gewohnten Lektion, so fand sie das Zimmer anscheinend leer. Wir hatten uns sämtlich irgendwo verkrochen, und Fräulein Natalie mußte uns einzeln aus den unmöglichsten Winkeln hervorsuchen, was sie stets mit viel Vergnügen und in der besten Laune so langsam that, daß, wenn sie uns endlich alle beisammen hatte, es nicht der Mühe wert war, noch mit dem Unterricht zu beginnen.

Oder wir spannten alle unsere nassen Regenschirme auf, befestigten sie mit vieler Mühe an einem großen Lampenhaken in der Mitte der Zimmerdecke und setzten uns, Fräulein Nunnemann erwartend, sittsam auf unsere Plätze.

„Aber Kinnings!“ rief die liebe Dame natürlich beim Eintreten, die dicken kleinen Hände zusammenschlagend, „was habt ihr aufgestellt?“

„Wieso, Fräulein Nunnemann?“

„Was habt ihr mit den Schirmen gemacht?“

„Wir haben sie nur zum Abtropfen ein bißchen aufgehängt, Fräulein Nunnemann!“ riefen wir einstimmig.

„Aber das geht doch nicht, Kinnings! Gleich nehmt sie herunter.“ Damit setzte sich Fräulein Nunnemann bequem zurecht, stützte die Ellbogen auf den Tisch und sah lächelnd zu, wie wir, der wilden Jagd gleich, über Tische und Bänke kletterten, um ihrer Weisung nachzukommen, worüber natürlich abermals viel Zeit verging.

Oder wir zogen im Winter, wenn Schnee lag, mit unseren sämtlichen Schlitten vor Fräulein Nunnemanns Haus, um sie zur Schule abzuholen. Freudig überrascht ob solcher liebenswürdigen Aufmerksamkeit, setzte sie sich in das erste Gefährt, vor welches sich zwei von uns als Pferde spannten, während zwei andere nachschoben – denn leicht zu fahren war Fräulein Nunnemann nicht. Alle anderen Schlitten folgten, und mit Jauchzen und Geschrei fuhren wir – nicht etwa zur Schule, das würde unserem Zwecke wenig entsprochen haben, sondern kreuz und quer durch die ganze kleine Stadt, nicht eher in den Klosterhof einbiegend, als bis wir wußten, daß es gleich voll schlagen müßte.

Für solche kleinen Scherze hatte Fräulein Nunnemann stets ein wohlwollendes Verständnis, und wenn unser Höchstgebietender, der Herr Konrektor, sich bei ihr nach unserem Betragen erkundigte, so erklärte sie uns stets aus innigster Ueberzeugung für „liebe, fleißige Kinder“, stellte uns auch Zeugnisse aus, welche zu Hause wegen ihrer wahrhaft unerhörten Vortrefflichkeit geradezu Sensation erregten.

Ueberhaupt, ein weiches Herz hatte sie! Ein niedliches „Kindting“, welches ihr auf der Straße begegnete, ein „süßer kleiner Polli“, der vor einer Hausthüre saß, verursachte stets und unfehlbar, daß Fräulein Nunnemann mit lauten Ausrufen des Entzückens auf offener Straße bei dem Gegenstande ihres Wohlgefallens niederkniete, wobei das himmelblaue Kleid oft recht innige Bekanntschaft mit wenig erfreulichen Dingen machte.

Am allerliebevollsten aber schlug Fräulein Nunnemanns sanftes Herz für den Herrn Kandidaten Beseler. Dieser Herr, ein ältlicher Junggeselle von keineswegs bestrickender Schönheit, den wir Kleinen „gräßlich langweilig“ fanden, für den aber die erste Klasse in Ermangelung eines würdigeren Gegenstandes schwärmte, und der auch in der That alle Hochachtung verdiente, war unser Religionslehrer. Seine Stunden lagen so, daß sie auf diejenigen von Fräulein Nunnemann folgten. Nun war es uns Mädchen sehr ergötzlich, zu beobachten, wie Fräulein Nunnemann stets an solchen Tagen, an welchen Herr Beseler erschien, irgend eine selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnliche und abenteuerliche Schleife oder Spitzenkrause anzulegen pflegte und während ihrer ganzen Unterrichtsstunde sich in freudiger und ungeduldiger Erwartung befand.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0530.jpg&oldid=- (Version vom 13.10.2022)