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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Eine Stunde etwa vor dem Anfange des Examens versammelten wir uns alle in dem Garten unseres Seminars, um dort miteinander Bekanntschaft zu machen; wir waren ja nun während fünf langer Tage Kameraden und vielleicht Leidensgefährten. Eine sehr feierliche und sehr stille Versammlung bildeten wir, sämtlich in schwarze Seide oder schwarze Wolle – unseren Examensfrack, wie wir sagten – gehüllt. Hier oder da hatte eine ein buntes Schleifchen gewagt, aber das waren Ausnahmen, die meisten trugen nur Weiße Spitzen oder Leinenstreifen an Hals und Handgelenken. Würdig, würdig und bescheiden wollten wir erscheinen.

Ich, im durchbohrenden Gefühle meines Nichts, ging abseits und allein meine Pfade, und allerlei konfuse Gedanken zogen mir durch den Kopf. Bald ertappte ich mich darauf, daß ich mir mechanisch das „kleine Einmaleins“ aufsagte, bald darauf, daß ich allerlei Orakelfragen an das Schicksal stellte.

„Wenn die nächste, die mir begegnet, nachdem ich um diese Ecke biege, schwarze Haare hat, so falle ich durch, hat sie braune, so komme ich leidlich davon, ist sie blond, so wird es mir sehr gut gehen.“ Da war die nächste Begegnende so blond, daß es mir nur eine Eins bedeuten konnte. An ein so großes Glück wagte ich natürlich nicht zu glauben; also stellte ich eine neue Frage.

„Begegnen mir jetzt vier auf einmal, so bedeutet das Durchfallen, drei sind gleichbedeutend mit der dritten, zwei mit der zweiten und eine mit der ersten Censur.“ Da begegneten mir vier; ich sollte also durchfallen.

Unmöglich – nein, so schlecht konnte es schließlich doch nicht um mich stehen. Das Orakel wurde zum drittenmal befragt.

„Ist die nächste, die mir begegnet, mir persönlich bekannt, so geht mir’s gut, kenne ich sie nicht, so muß ich aufs schlimmste gefaßt sein.“

Da begegneten mir in eifrigem Gespräche zwei, von denen mir die eine eine liebe Freundin war, während ich die andere nie gesehen hatte.

„Wenn mir, bis ich hundert zählen kann, etwas ganz unerwartetes passiert, so –“

Ich kam nicht mehr dazu, den Schlußsatz zu machen, denn das Unerwartete geschah bereits, ehe ich noch wußte, ob es mir Gutes oder Uebles verkünden sollte.

Es tauchte nämlich, als ich um eine Ecke bog, plötzlich ein sehr lebhaft gefärbtes blaues Kleid vor mir auf, eine Erscheinung, die mir, da wir ja sämtlich schwarz gingen, als sehr verwunderlich auffallen mußte.

Aber die Person, zu der das blaue Gewand gehörte, schien auch im übrigen ungewöhnlich zu sein, wenigstens vermochte ich nicht, meinen Blick wieder von ihr zu wenden, und als ich noch ein paar Schritte gemacht hatte, rief ich überrascht: „Fräulein Nunnemann, ist es möglich – sind Sie es wirklich?“

Die Dame blieb stehen, sah mich verblüfft an, zwinkerte mit den kleinen, wasserblauen Augen und machte offenbar einen erfolglosen Versuch, sich meiner zu erinnern.

Aber es war Fräulein Nunnemann, darüber konnte kein Zweifel herrschen. Sie hatte sich merkwürdig wenig verändert in den letzten neun Jahren, wenigstens war sie nicht hübscher geworden. Das runde Gesicht hatte eine Anzahl von feinen Fältchen mehr erhalten, die kleine Gestalt hatte sich noch etwas üppiger abgerundet und das Himmelblau des Gewandes hatte sich zu einem Kornblumenblau vertieft; aber der Ausdruck der schwimmenden, gutmütigen Augen, der kunstvolle Lockenaufbau und auch der bis auf einige der herrschenden Mode gemachte kleine Zugeständnisse ganz besondere Schnitt des Kleides war noch derselbe wie damals. Nie, auch nur für eine Minute, hätte ich Fräulein Nunnemann verkennen können.

„Sie erkennen mich gewiß nicht,“ sagte ich, „es ist so lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben, und ich war damals –“

„Ich weiß allerdings nicht,“ unterbrach mich Fräulein Nunnemann mit einem jener Knixe, deren ich mich so lebhaft entsann, „mit wem ich das Vergnügen habe, zu – vermutlich eine frühere Schülerin? – Sie müssen es entschuldigen; ich habe so unendlich viel verschiedene Schülerinnen gehabt, daß es mir leicht passieren kann – aber wenn Sie mir gütigst Ihren werten Namen nennen wollten, so –“ und sie knixte wieder.

Ich nannte Namen und Heimat und auch das Jahr, in welchem ich die Ehre gehabt hatte, Fräulein Nunnemanns Zögling zu sein.

Da ging ein helles Leuchten über Fräulein Nunnemanns ältliches Gesicht, und sie streckte mir in überwallender Zärtlichkeit ihre beiden kleinen dicken Hände entgegen.

„Aber Kindting – natürlich erinnere ich mich Deiner – selbstverständlich! Du hast ja noch ganz das alte Gesicht behalten. Aber wenn man so in der Welt herumkommt wie ich, da besinnt man sich nicht gleich. Ach, es war eine reizende Zeit, die ich bei euch verlebt habe – reizend! Eine meiner liebsten Jugenderinnerungen!“

Sie zog meinen Arm durch den ihrigen und ging mit mir weiter. „Was für ein großes Mädchen Du geworden bist – und wie geht es in eurem lieben Städtchen? Leben noch alle, mit denen ich mich damals so innig befreundete?“

Ich fing an, ihr einiges mitzuteilen, wovon ich meinte annehmen zu dürfen, daß es sie ein wenig interessieren würde. Aber sie unterbrach mich: „Was ist aus dem guten Beseler geworden, dem Kandidaten, weißt Du, Kindting, der mir damals so den Hof machte? Ist er verheiratet?“

„Machte er Ihnen den Hof?“ fragte ich halb lachend, und es ist nicht ganz unmöglich, daß ich einen leisen Nachdruck auf die Fürwörter legte.

„Nu natürlich, Kindting – fabelhaft! Aber es ist begreiflich, daß Du Dich dessen nicht entsinnst, Du warst noch zu klein, um auf dergleichen zu achten. – Wie ist es mit ihm? Hat er eine Frau?“

„Er ist seit fünf Jahren tot,“ sagte ich.

„Tot!“ Fräulein Nunnemann schüttelte traurig den Kopf.

„Also wirklich tot! – Ach, es war ein lieber Mensch! Aber ich war damals jung und thöricht und wußte nicht, was mir gut war.“ Sie seufzte tief auf. „Da könnte man nun vielleicht eine wohlsituierte Witwe sein, und statt dessen muß man – aber sage, Kindting, wie kommst Du eigentlich hierher? Und so feierlich, in schwarzer Seide? Du willst doch nicht etwa auch –?“

„Ich gehöre hierher,“ sagte ich, „ich habe das Seminar besucht und will mein Examen machen. Wie aber sind Sie eigentlich hierher verschlagen worden?“

„Du willst Dein Examen machen?“ rief Fräulein Nunnemann mit großen Augen. „Aber das ist ja einfach reizend! Das ist eine Fügung des Himmels! Dasselbe will ich ja auch eben!“

„Sie, Fräulein Nunnemann?“ Ich hatte auf der Zunge, hinzuzufügen: „in Ihrem Alter!“, aber ich verschluckte es glücklicherweise.

Fräulein Nunnemann seufzte sehr tief auf, und das eben noch so strahlende Gesicht wurde wehmütig.

„Diese neuen Einrichtungen, Kindting,“ sagte sie gedrückt, „diese neuen Einrichtungen zwingen einen ja dazu. Diese Seminare überall und diese neuen Gesetze – die Masse von geprüften Lehrerinnen, die einem jede Stelle gleich vor der Nase wegschnappen – wie gesagt, sie zwingen einen ja dazu, Kindting. In den Schulen wie in den Familien fragen sie ja jetzt allemal zuerst nach dem Prüfungszeugnisse. Ich sage Dir, Kindting, ich bin in unzähligen Stellungen gewesen, ich habe eine ganze Mappe voll der brillantesten Empfehlungen – mehr Zeugnisse als ich Jahre zähle, wirklich, Kindting, und eines immer besser als das andere, aber glaubst Du, es nützt mir etwas? Nicht so viel!“ Und sie schnippte mit den Fingern.

Ich schüttelte in Ermangelung einer anderen passenden Antwort bedauernd den Kopf und sagte: „Unglaublich!“

Fräulein Nunnemann seufzte noch einmal und noch tiefer als vorher.

„Ich für meine Person lege durchaus gar keinen Wert auf Prüfuugen – gar keinen, wirklich, Kindting! Es ist nur Glücksspiel. Es würde mir gar nicht eingefallen sein, mich darauf zu kaprizieren. Aber wenn einem der saure Apfel so dicht unter die Nase gehalten wird, kann man ja nicht gut anders, als hineinbeißen.“

„Aber Fräulein Nunnemann,“ meinte ich ermutigend, „so entsetzlich sauer kann er Ihnen doch nicht sein. Wenn man so lange unterrichtet hat wie Sie, ist man des Erfolges doch gewiß sicher.“

Fräulein Nunnemann schwieg ein Weilchen. „Das bin ich ja auch natürlich, Kindting,“ sagte sie dann etwas unsicher, „natürlich – selbstverständlich! Ich würde ja auch weiter gar kein Wort

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 544. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0544.jpg&oldid=- (Version vom 20.10.2022)