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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

malerisch um sich drapiert, Fräulein Nunnemann, einen Teller mit einer sehr großen Portion Eis vor sich. Sie löffelte vergnügt und nickte und lächelte, lächelte und nickte den Damen zu, die noch vor einer Stunde die Zeuginnen ihrer Niederlage gewesen waren und nun gruppen- und Paarweise langsam an ihr vorüberzogen.

Als aber die Herren Examinatoren endlich auch aus dem Hause traten und bei ihrem Anblick pflichtschuldigst den Hut zogen, da erhob sie sich von ihrem Sitze, machte ihnen einen tiefen und ausnehmend gut gelungenen Knix und lächelte geradezu triumphierend dabei.

Ich hatte ganz still gestanden und ihr verwundert zugeschaut, bis auch die letzten Nachzügler vorüber waren, und nun erst schien sie mich zu bemerken. Sie winkte lebhaft, ich möchte zu ihr hinüberkommen, und obschon ich einsah, daß ich sie vor Verzweiflung nicht zu retten brauchte, wußte ich doch nichts Besseres zu thun, als zu ihr hinzugehen. Zum erstenmal in den zwei Jahren, die ich in der Pension verlebt hatte, betrat ich die uns bis dahin streng verbotene Konditorei mit dem Bewußtsein, es ungescheut thun zu dürfen. Nicht, daß ich sie vorher wirklich niemals betreten gehabt hätte, aber es war bisher eben ohne dies stolze Bewußtsein geschehen.

Fräulein Nunnemanns sanftes Herz nährte offenbar keinen Groll mehr gegen mich. Vielleicht hatte sie inzwischen selbst begriffen, daß es wirklich nicht in meiner Macht gestanden hatte, ihr zu helfen. Sie streckte mir die Hände in der innigsten Weise entgegen.

„Komm her, Kindting, Du mußt mein Gast sein. Was magst Du? Eis? Chokolade? Es ist hier alles sehr gut. Ich habe bereits Verschiedenes durchprobiert. Das Eis empfehle ich Dir besonders.“

„Ja, ja,“ sagte ich ängstlich, „aber, bitte, nicht hier draußen auf offener Straße, liebes Fräulein Nunnemann, daran ist man hier nicht gewöhnt.“

„Nicht? Das thut nichts, Kindting, dann gehen wir hinein. Sie sind jetzt ohnehin alle vorbei und es zieht hier.“

„Aber warum sitzen Sie dann überhaupt hier?“ fragte ich verwundert.

Fräulein Nunnemann nahm ihren halbgeleerten Eisteller in die Hand, schob ihren Arm unter den meinen und zog mich in den Laden.

„Das will ich Dir sagen,“ erklärte sie dabei, einen letzten Blick auf die Straße zurückwerfend. „Ich habe hier schon eine Stunde gesessen – nicht weil mir dieser Aufenthaltsort besonders anziehend gewesen wäre – wirklich nicht, Kindting – sondern weil ich das meiner Ehre schuldig bin. Alle die kleinen Gänse, die da eben vorbeischnatterten und in ihrem Herzen vorhin über mich hohngelacht haben, und die hochnäsigen Herren Schulräte, oder was sie sonst sein mögen, brauchen sich nicht einzubilden, daß ich mir auch nur für einen Pfennig aus ihnen und ihrem Examen mache. Natalie Nunnemann hat sich vorhin zum Gespötte des versammelten Publikums hergeben müssen, das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen, Kindting.“

Ich sah sie mit großen Augen an, sagte aber nichts. Fräulein Nunnemann führte mich nun in einen einsamen Winkel der ohnehin beinahe menschenleeren Konditorei, bestellte Eis für mich und machte es sich an einem Tischchen bequem. Dabei verschwand der kampfesmutige Ausdruck ganz auf einmal von ihrem Gesichte, dasselbe wurde kummervoll und ernst, und nun sagte sie mit einer ganz anderen, niedergeschlagenen und kleinlauten Stimme: „Dir kann ich es ja sagen, Kindting, es hört uns niemand von den anderen, und ich glaube nicht, daß Du über mich hohnlachst, Du hattest immer ein gutes Herz – das Wasser geht mir bis an die Kehle! Ich weiß buchstäblich, wirklich buchstäblich nicht, was nun aus mir werden soll. Die Wahrheit zu sagen, ich finde es ungerecht, Dinge von einem zu verlangen, die man doch nun einmal nicht leisten kann. Die Leute müssen ja doch Rücksicht auf die Verhältnisse nehmen. Ich frage Dich nun, Kindting – was wird aus mir?“

Ich wußte es natürlich nicht und fragte, ob Fräulein Nunnemann keine Verwandten hätte, bei denen sie sich einige Zeit aufhalten und auf ein neues Examen gründlich vorbereiten könnte, aber sie schüttelte die Locken. Sie besaß nur einen alten Onkel, bei dem sie in ihrer Jugend gelebt zu haben schien, und der sich, wie sie sagte, in guten Verhältnissen befand, ohne gerade reich zu sein. Mit demselben hatte sie sich jedoch bereits vor vielen Jahren so gründlich überworfen, daß er, wie sie sich ausdrückte, den Wunsch geäußert hatte, sie möchte sich aus seinem Hause entfernen und es nicht wieder betreten. Und warum? Nur weil Fräulein Nunnemann sich nicht hatte entschließen können, in sein Geschäft, in dessen Geheimnisse er sie bereits völlig eingeweiht hatte, einzutreten, um dasselbe später ganz zu übernehmen. Sie hatte nun einmal den unbezwinglichen Drang nach höheren Lebenszielen in sich gespürt! Was kann man denn dafür, wenn man so idealistisch veranlagt ist? Welches Geschäft der cholerische alte Herr betrieb, erwähnte Fräulein Nunnemann nicht, und es interessierte mich auch nur mäßig.

Dagegen that es mir wirklich aufrichtig leid, als sie fortfuhr: „Du hältst mich meinem ganzen Auftreten nach vielleicht für vermögend, Kindting,“ – worin sie übrigens irrte. „Ich bin es nicht. Ersparnisse macht man nicht, wenn man kein Talent zum Rechnen hat. Ein paar Wochen kann ich mir wohl noch helfen, aber dann hat das Lied ein Ende. Wenn ich nicht bald eine Stellung wiederfinde, weiß ich, wie gesagt, buchstäblich nicht, was aus mir werden wird.“

Ich erbot mich, an meinen Vater ihretwegen zu schreiben, um seinen Rat zu erbitten. Hatte er doch, wie ich wußte, schon vielen Menschen geholfen.

Sie ergriff diesen Gedanken mit großer Behendigkeit und schon halb getröstet. Zunächst, so erklärte sie, wollte sie versuchen, auf eigene Hand noch eine Stellung zu finden, mißlänge ihr das, so würde sie mir schreiben, damit ich meinem Vater die Sache darlegen könnte. Als dies abgemacht war, hatte Fräulein Nunnemann ihre gute Laune bereits fast ganz zurückgewonnen. Sie zog mit fröhlicher Miene ihre Börse, um den Konditor zu bezahlen, steckte sie aber ebenso bereitwillig wieder ein, als ich es wagte, dieses Vorrecht für mich in Anspruch zu nehmen, obgleich die großen Portionen Eis, Kuchen und Chocolade, die sie im Laufe des Nachmittags vertilgt hatte, ein recht bemerkbares Loch in meinen kleinen, bescheidenen Beutel machten.

Und sie trennte sich endlich, da sie mit dem nächsten Zuge abreisen wollte, unter Versicherungen der innigsten Freundschaft von mir.

Ich glaube nicht, daß mein Vater, als ich eine Woche später glückstrahlend in die Heimat zurückgekehrt war und, vom Examen und von allem, was drum und dran hing, berichtend, auch von Fräulein Nunnemann erzählte, sehr entzückt war über die Aufgabe, die ich ihm zugedacht hatte, aber er sagte nichts darüber.

Mutter freilich konnte sich nicht enthalten zu bemerken: „Wenn Du uns da nur nicht etwas Schönes eingebrockt hast. Am Ende kommt sie nun hierher, wenn sie nichts anderes findet, und was sollen wir dann mit ihr beginnen?“

„Sie wird ja wohl nicht,“ sagte mein lieber Vater gutmütig, mir mit seiner schmalen Hand über die dicken, schwarzen Flechten, die sein Stolz waren, und über die heißen, in der letzten Zeit ein wenig schmal gewordenen Wangen streichelnd, „und wenn auch! Für einige Zeit wollen wir der armen alten Seele einen Zufluchtsort nicht versagen.“

Jedoch ein solches Opfer wurde nicht von uns verlangt. Als ich etwa vier Wochen wieder daheim war, traf eines Tages ein großer, mit sehr breitem Trauerrande versehener Brief von unbekannter Hand an mich ein. Banger Ahnungen voll, sah mir Mutter auf Hände und Augen, als ich ihn verwundert und ängstlich in der Hand hin und herdrehte, den Poststempel zu entziffern suchte und vergebens nachsann, wo ich die Handschrift schon möchte gesehen haben.

„Aber so öffne doch – dann wissen wir’s ja!“ rief sie endlich, von Ungeduld gefoltert.

Das war ein Vorschlag zur Güte. Ich öffnete, und heraus fiel ein vier Seiten langer, „Natalie Nunnemann“ unterzeichneter Brief. Auch eine Photographie lag dabei, Kabinettformat – Natalie Nunnemann in tiefster Trauer, in Krepp gehüllt bis an das Kinn und an die Handgelenke, mit einer Miene würdevoller, aber heiterergebener Wehmut – kurz, Natalie Nunnemann in ihrem Schmerze um ihren leider aus diesem irdischen Jammerthal im siebenundsiebzigsten Jahre seines reichgesegneten Lebens vor acht Tagen abgeschiedenen Onkel Peter Nunnemann. (Schluß folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 547. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0547.jpg&oldid=- (Version vom 20.10.2022)