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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Auf dem zweiten Bilde präsentierte sich ein breites, glattrasiertes, nicht eben häßliches, aber ziemlich gewöhnliches Männergesicht, und die dritte Photographie endlich stellte Fräulein Nunnemann, nun nicht mehr in Trauer, sondern in ein lichtes, vermutlich blaues Gewand gehüllt, in anmutiger und zärtlicher Gruppierung mit eben diesem breitgesichtigen Manne dar. Die Retouche hatte für Fräulein Nunnemann gethan, was irgend in ihren Kräften gestanden, dennoch sah man selbst jetzt noch dem Bilde an, daß der Mann der erheblich jüngere von beiden sein mußte. Das Bild sprach für sich selbst: Fräulein Nunnemann war verlobt.

Ja, Fräulein Nunnemann war verlobt! Der Traum ihres Lebens hatte sich erfüllt. Wie fremd es auch dem staunenden Ohre klingen mochte – Fräulein Nunnemanns Liebesfrühliug war endlich, endlich angebrochen. Was sie vergebens erstrebt hatte so viele Jahre hindurch, worauf sie im tiefsten Winkel ihres Herzens wohl schon zu verzichten begann, das war ihr nun plötzlich beschieden, der Mitwelt und ihr selbst zum freudigen Erstaunen.

Wenn je eine junge Braut ihrem Glücksgefühl einen überschwenglichen Ausdruck verlieh, so war Fräulein Nunnemann diese junge Braut. Der den Bildern beigegebene Brief quoll über von Wonne und Jubel. Ihr „Alex“ war ein herrlicher Mensch, mit dem eine tiefinnerlichste Sympathie der Seelen sie unlöslich verband. Auch von den prosaischen Äußerlichkeiten erfuhren wir einiges. Alex war, wie es schien, bis jetzt Commis in einem Manufakturwarengeschäft, beabsichtigte aber, sich nun selbständig zu machen. Kennengelernt hatte Fräulein Nunnemann ihn, als sie – seltsamer Zufall! – die Gewänder für die Trauer um den Tod ihres Onkels anschaffte. Eine wunderbare Fügung hatte sie damals eben in denjenigen Laden und zu demjenigen Verkäufer geführt, der ihr so glückbringend verhängnisvoll werden sollte.

Alex war Witwer, worauf ja schon das Bild mit der Kindergruppe hindeutete. Fräulein Nunnemann freute sich der Aussicht, ihr erzieherisches Talent den lieben kleinen Mädchen zu gute kommen zu lassen. Die Hochzeit sollte bereits im Laufe der nächsten Wochen gefeiert werden. Die Braut war noch zweifelhaft, ob sie weißen oder cremefarbenen Atlas anziehen würde, und gedachte, ihrem durch feinen Geschmack sich auszeichnenden Alex die Entscheidung in dieser wichtigen Frage zu überlassen.

Mein guter Vater schüttelte leise den Kopf, als er Brief und Bilder aus der Hand legte. „Arme Seele,“ sagte er halblaut. Mutter meinte ärgerlich: „Alter schützt ja leider vor Thorheit nicht,“ und schüttelte den Kopf etwas kräftiger als Vater. Wir Jungvolk fanden die ganze Geschichte eine Weile wahrhaft herzerquickend komisch, aber nach Verlauf einiger Tage, nachdem wir wieder einen Brief mit den nötigen Glückwünschen zur Post gegeben hatten, tauchte irgend etwas Neues auf, wir sprachen nicht mehr von Fräulein Nunnemann, und da sie von nun an auch nicht mehr an uns schrieb, dachten wir an sie und ihren Alex bald gar nicht mehr. War sie doch den jüngeren Hausgenossen persönlich gar nicht und den älteren nicht eben in der vorteilhaftesten Weise erinnerlich.


Jahre vergingen – ihrer sieben an der Zahl. Der Tod kam und trieb mich aus meiner alten, geliebten – ach, so heiß geliebten Heimat. Die Liebe folgte ihm auf dem Fuße und führte mich in eine neue. Der schöne Beruf, den ich mir erwählt hatte, wurde mir leise aus der Hand gewunden, und ein anderer, noch schönerer ward mir dafür geschenkt. In einem neuen Leben stand ich, es mit neu geöffneten Augen, frisch erwachtem Verständnis ansehend und genießend, eines guten, treuen Mannes glückliche Frau.

Unsere Hochzeit war in den Winter gefallen, und wir hatten es deshalb vorgezogen, da wir nicht reich genug waren, um nach dem Süden zu gehen, unsere bescheidene Hochzeitsreise nach Thüringen bis auf den Sommer zu verschieben. Und mochte sie nun bescheiden sein, es war eine herrliche Reise, auf der ich so viel Neues und Schönes sah, wie ich mir vorher nie hatte träumen lassen, und gewiß viel mehr, als mancher mit blasiertem Sinn und verwöhnten Augen in der Schweiz, in Italien oder Norwegen nur je entdeckt hat.

Als wir uns einige Tage in Friedrichroda aufhielten, wurde dort eben ein großes Wohlthätigkeitskonzert znm besten irgend eines Unternehmens, welches ich vergessen habe, gegeben. Wir wollten dasselbe gern besuchen, doch fürchtete ich mit Recht, in meinem einfachen Reisekleide, und ein anderes führte ich nicht bei mir, unter der Schar der eleganten Kurgäste aufzufallen. Zwar recht gute weiße Spitzen an Hals und Aermeln, die ja leicht zu kaufen waren, ein paar frische Blumen und elegante Handschuhe konnten, so meinte ich, den Anzug ziemlich präsentabel machen, wäre nur nicht meine ganz veraltete Frisur gewesen, die mir unter allen Umständen ein kleinstädtisches Aussehen verleihen mußte. Ich hatte ungewöhnlich reiches und langes Haar, auf welches ich, daß ich’s nur gestehe, ein wenig eitel war, und das ich bei dieser Gelegenheit gern zu seiner vollen Geltung gebracht hätte.

Also erkundigte ich mich, wo ich hübsche Spitzen kaufen und wo ich mich modern frisieren lassen könnte, und erhielt die Antwort, die Spitzen bekäme ich am schönsten und preiswürdigsten bei einem gewissen jungen Mädchen, welches sie selbst klöppelte und sich in jedem Sommer hier aufzuhalten pflegte, das Frisieren besorge eine Frau in demselben Hause. Das Haus beschrieb man mir nach der gewohnten Weise: erst links, dann rechts, dann gradeaus, dann rechts um die Ecke, dann durch die kleine Pforte, dann wieder links etc. Trotz dieser in ihrer Art gewiß guten, aber ein bißchen konfusen Angaben fand ich die Wohnung glücklich heraus.

Ein lang aufgeschossenes, blondes Mädchen saß auf einer kleinen Bank vor der Hausthür, hatte sich beide Ohren mit den Fingern verstopft und lernte eine Geschichtstabelle auswendig, blickte aber sofort empor und nahm die Finger aus den Ohren, als mein Schatten ihm auf das Buch fiel. Es mochte etwa vierzehn Jahre zählen und hatte kluge, ernsthafte Augen.

„Wohnt hier vielleicht ein junges Mädchen, welches Spitzen verkauft?“ fragte ich.

„Gewiß,“ entgegnete das Kind freundlich, „es ist meine Schwester. Wollen Sie, bitte, näher treten?“

„Und kann man sich hier im Hause auch frisieren lassen?“

„Freilich, das thut Mama. Aber ich weiß nicht, ob sie jetzt gerade Zeit hat. Sie ist heute sehr beschäftigt.“

Das Mädchen war schlicht, aber sehr sauber und nett gekleidet und machte mir einen entschieden angenehmen Eindruck. Sie legte die Geschichtstabelle auf die Bank und ließ mich bescheiden an sich vorüber in das Haus treten, um mir dann die Stubenthür zu öffnen.

Ein zweites, vielleicht um drei Jahre älteres ebenso schlankes, ebenso blondes und ebenso nett aussehendes Mädchen erhob sich vom Fenster, wo es mit seinem Klöppelkissen gesessen hatte, und trat mir höflich entgegen, während sich meine Führerin an ihre Geschichtstabelle zurück begab.

Es war ein einfaches, aber ganz anständig möbliertes und sehr reinliches Gemach, in dem ich stand, und in welches die Nachmittagssonne freundlich hereinschien. Das eine Fenster zierten ein paar Blumentöpfe, das andere schien der Arbeitsplatz für die junge Spitzenklöpplerin zu sein. Ich nannte ihr meine beiden Wünsche, und sie sagte, ihre Mama würde in zehn Minuten Zeit haben, mich zu frisieren, augenblicklich sei noch eine andere Dame bei ihr, unterdes dürfte sie mir wohl ihre Spitzen vorlegen, was sie auch that. Sie waren sehr gut gearbeitet und nicht zu teuer, und gerade hatte ich meine Auswahl getroffen und den geforderten Preis bezahlt, als sich die Thür zum Nebengemach öffnete.

„Da kommt Mama,“ sagte das Mädchen, die letzten Spitzen mit vorsichtigen Fingern wieder in den Kasten räumend, und ich wandte mich unwillkürlich um.

Meine Augen wurden sehr groß, und doch meinte ich noch, ihnen nicht trauen zu dürfen. War das – konnte das – war es wirklich denkbar, daß die kleine fette Frau, welche dort auf der Thürschwelle stand, Fräulein Nunnemann war?

Sie mußte es sein, wenn Fräulein Nunnemann nicht eine Doppelgängerin oder Zwillingsschwester hatte, denn Gesicht, Figur und Locken waren, von solchen Veränderungen abgesehen, wie sieben Jahre sie wohl mit sich bringen konnten, unverkennbar die ihrigen, und selbst der Knix, mit dem sie eingetreten war, schien ihr ganz spezielles Eigentum. Aber das blaue Kleid fehlte. Sie trug wohl eine große himmelblaue Krawattenschleife, aber ein Gewand von bescheidenem Grau und einem ihrem Alter wenigstens annähernd angemessenen Schnitt und darüber eine große, blendend weiße Latzschürze. Konnte es also Fräulein Nunnemann sein? Und wie wäre sie hierher, in diese Verhältnisse gekommen? Sie, die reiche Erbin Natalie Nunnemann, oder vielmehr Frau Natalie – ja, den Namen des geliebten Alex hatte ich vollständig vergessen.

Alle diese Gedanken gingen mir mit Blitzesschnelle durch den Kopf, aber ehe ich sie noch ganz beendet hatte, rief es schon von der Thür her: „Kindting! – Aber bist Du es denn wirklich?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0558.jpg&oldid=- (Version vom 20.10.2022)