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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

war ein prachtvoller Maitag. Die hundertjährigen Wipfel des fürstlichen Parkes, den Seine Durchlaucht mit Ausnahme eines ganz unbedeutenden Streifens dem Publikum freigab, leuchteten im frischesten Grün; die zahlreichen Beete strotzten von jungblühenden Blumen.

Karl und Emilie trieben sich erst auf dem wenig begangenen Kiespfad herum, der zwischen dem Teich und der künstlichen Anhöhe mit dem Cäcilientempel einherführte. Bald aber lockte die spiegelnde Wasserfläche und die reichquellende Fülle der Seerosen. Die Kinder näherten sich mit wachsender Unternehmungslust dem einsamen Ufer. Hier lag ein Boot, zu dem ein schmaler, auf eingerammten Holzpflöcken ruhender Steg führte. Von diesem Boot aus konnte man sehr bequem in die Blumen hineingreifen. Die blonde Emilie hatte zwar anfangs Bedenken. Jedes Abpflücken hier in dem Schloßgarten war ja streng untersagt. Karl aber meinte, so etwas gelte doch nur von den Beetblumen, nicht von den Wasserrosen, die hier im Teiche wild wüchsen.

Der kecke achtjährige Bube lief also kurzer Hand auf den Steg, kletterte in den zierlichen Kahn und beugte sich weit über den Rand, um eine recht üppige, vollsaftige Blüte vom Stengel zu reißen. Bei dieser Bemühung bekam er das Uebergewicht, stieß einen furchtbaren Schrei aus und stürzte ins Wasser.

Emilie stand wie gelähmt. Sie war unfähig, nur einen Finger zu rühren. In das Gewirre der Seerosen verstrickt, rang der Knabe verzweiflungsvoll, jetzt auftauchend und jetzt wieder untersinkend.

Plötzlich kam eine schlanke Frauengestalt flink und leichtfüßig an dem zitternden Kinde vorbei über den Rasen gewandelt.

„Bleiben Sie nur, liebste Brüning!“ klang ihre wohltönende Stimme, als eine andere – ältere – Dame ihr nacheilen wollte. „Es ist nicht weiter gefährlich! Mein Wort darauf!“

Sie sprang rasch in den Kahn, ohne sich nach ihrer aufgeregten Begleiterin umzusehen. Ihr lichtblaues Gewand wehte wie eine Flagge. Im nächsten Augenblick hatte sie eines der Ruder ergriffen, die in dem Fahrzeug lagen, und es dem eben wieder emportauchenden Knaben geschickt unter den Leib geschoben. Dann half sie ihm mit der Linken vorsichtig über den Bootsrand. Nach wenigen Augenblicken stand Karl Warnack wohlgeborgen am Ufer, wo die laut aufweinende Schwester den Todblassen stürmisch umarmte, ohne in ihrer Gemütsbewegung für die liebreiche Retterin auch nur ein stammelndes Wort zu finden.

„Aber Durchlaucht!“ sagte die ältere Dame und streckte der jüngeren beide Arme entgegen. „Nein, so was! Mir zittern die Knie! Um ein Haar wären Sie übergestürzt! Und wie sich Durchlaucht beschmutzt haben!“

„Kommen Sie nur! Es blieb doch nichts anderes übrig Bitte rasch! Dort bleiben ja schon die Leute stehen. Sie wissen, Verehrteste, ich bin keine Freundin von Scenen …“

Und beide Damen entfernten sich schleunigst.

„Na, Du dummer Junge?“ rief jetzt ein gutmütiger alter Herr und tippte dem noch immer verdutzt dreinschauenden Karl auf die Schulter. „Hast Du Dich denn auch gehörig bedankt? Du weißt wohl gar nicht, wer das gewesen ist? Nicht? Ach so, ihr seid nicht von Gleiberg? Na, dann schreib’ Dir’s hinter die Ohren, und wenn Du Dein Abendgebet sprichst – Du verstehst mich schon! Das war Ihre Durchlaucht die Fürstin Marie, unsere gütige Landesmutter. Lauf’ nur jetzt heim, sonst wirst Du noch krank, und laß Dir die wohlverdienten Prügel aufzählen!“


Karl und Emilie trabten nach Hause. Nachdem Frau Warnack den triefenden Buben umgekleidet und mit etlichen Tassen heißer Milch erquickt hatte, rief sie den Vater.

„Du, was sagst Du dazu? Wenn die Kinder nicht Unsinn schwatzen …“

„Nein, Mutter,“ beteuerte Karl, „es ist kein Unsinn! Ganz deutlich hab’ ich gehört, wie die eine mit dem hellgrünen Sonnenschirm ,Durchlaucht’ sagte. Und dann kam doch der alte Herr und schnauzte mich an. Der hat dann expreß gesagt, das wäre die Fürstin.“

„Da hörst Du’s!“ sagte Frau Warnack eifrig. „Weiß Gott, ich finde das großartig! So ein gutherziger Engel! Zieht den garstigen Kerl da höchst eigenhändig aus der Tinte heraus! Konntest Du denn nicht selber das Boot packen?“

„Nee, Mutter! Ich kam ins Gewirre. Und Wasser hab’ ich geschluckt – gräßlich!“

Frau Warnack drückte den Knaben voll zärtlicher Bangigkeit an die Brust. „Hoffentlich schadet’s Dir nichts. Aber da siehst Du, wie recht ich hatte! Hundertmal hab’ ich’s euch eingetrichtert: bleibt von den Gräben und Flüssen und Teichen weg! Jawohl! Eigentlich sollte ich Dich mitsamt der Emilie windelweich hauen.“

Der Schlossermeister hatte inzwischen mit steigender Lebhaftigkeit nachgedacht. „Und es ist wahr: ihr Esel habt euch gar nicht ein bißchen bedankt?“ fragte er stirnrunzelnd.

„Nee, Vater! Wir waren Dir wie vor den Kopf geschlagen.“

„Dann muß ich morgen ins Schloß! Das erfordert der Anstand!“

„Ach!“ wehrte Frau Warnack. „Die lassen Dich gar nicht vor!“

„Die werden schon! Ich sage ganz einfach: Ihre Durchlaucht die Fürstin hat meinen Jungen gerettet, da hab’ ich als ehrlicher Mann wohl das Recht …! Das wäre ja noch schöner! Red’ mir nichts! Morgen beizeiten mach’ ich mich auf!“ Er nickte befriedigt und ging dann rasch in die Werkstatt zurück, wo es noch reichlich für ihn zu thun gab.

Unter dem Arbeiten sann er über das unverhoffte Begebnis nach, über sein Vorhaben und über alles, was mit der Sache zusammenhing. Da fiel ihm auch seine verblüffende Aehnlichkeit mit dem Fürsten ein und daß es die hohe Frau, die ihm den Sohn aus dem Wasser gezogen, doch vielleicht kränken möchte, wenn der einfache Schlossermeister ihrem fürstlichen Eheherrn so verwünscht gleichsah. Dieser Frau gegenüber, deren liebliches Antlitz er von dem Bild in der „Bayrischen Krone“ her schon in recht sympathievoller Erinnerung hatte und die er jetzt aus dem tiefsten Grund seines dankbaren Vaterherzens heraus glühend verehrte, kam er sich merkwürdig klein und gering vor. Beim Gedanken an sie empfand der sonst so trotzige, selbstbewußte Mann seine Aehnlichkeit mit dem Fürsten zum erstenmal wie eine Art Respektwidrigkeit. Und was er dem hochfahrenden Ceremonienmeister mit schroffer Kaltblütigkeit verweigert hatte, das gestand er nunmehr aus freien Stücken der schönen, guten, edelherzigen Fürstin Marie zu, der auch der leiseste Schimmer von Mißbehagen erspart werden sollte.


Am folgenden Morgen begab sich Warnack in die nahegelegene Barbierstube von Gaulitz.

„Haarschneiden?“ fragte der erste Gehilfe, als Warnack die Thür schloß.

„Kann ja wohl auch nicht schaden,“ meinte der Schlossermeister. „Vorerst aber nehmen Sie mir den Bart ab!“

„Wie Sie befehlen! Obgleich’s ja um dieses prachtvolle Exemplar eigentlich schade ist.“

„Macht nichts.“

Er setzte sich. Der Barbier hatte ganz recht: es war ein Staatsbart – und sein Dahingeben bedeutete für den Schlossermeister wirklich ein Opfer. Aber der weichherzige Mann brachte es gern. Seit gestern hatte sich, teilweise unter der Nachwirkung des Schrecks, eine Art Schwärmerei für die liebliche Landesmutter bei ihm entwickelt, ein Gemütszustand, der ihn im Zeitalter der Kreuzzüge vielleicht veranlaßt hätte, der Retterin seines geliebten Sohnes zu Ehren eine Fahrt nach dem Heiligen Grabe zu unternehmen. Er war überhaupt, trotz einer gewissen Rauhbeinigkeit, um den Finger zu wickeln, wenn man es nur verstand, ihm ein ganz klein wenig an die Seele zu fassen.

Der Bart also fiel. Der Haarkünstler rieb ihm das glattgeschorne Gesicht, aus dem jetzt nur noch der Schnurrbart als stattlicher Rest hervorragte, mit Kölnischem Wasser ab und puderte ihn, um der Gefahr einer Erkältung vorzubeugen. Dann stutzte er ihm ein wenig das Haupthaar.

„Nein, wie Du aussiehst!“ rief die Frau Schlossermeisterin, als ihr Gemahl heimkam, um sich in Gala zu werfen. „Ich kenne Dich kaum! Na, Du magst ja wohl recht haben mit Deiner Rücksichtnahme, obschon ich streng genommen nicht einsehe … Aber ein Jammer ist’s ewig!“

„Ach, Du wirst Dich schon dran gewöhnen!“

„Ich? Nie!“

Fritz Warnack zog seinen neuen Tuchrock an und setzte den Hut auf. Gegen halb elf bereits stand er vor dem fürstlichen Residenzschloß. Nach etlichen Schwierigkeiten gelang es ihm, bei der Hofdame Gräfin Thun gemeldet zu werden. Er hatte erfahren, die Gräfin Thun sei ungleich wohlwollender und zugänglicher als die Brüning und sehr eingenommen von der leichtblütigen, volkstümlichen Art der Fürstin, deren Auftreten dem Herrn Ceremonienmeister viel zu wenig ceremoniös war.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0575.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2024)