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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

des richtigen Wortes verabfolgt, oder, falls mehrere Mitbewerber erfolgreich gewesen, unter sie gleichmäßig verteilt. In einem Falle erhielt der Löser des richtigen Wortes nicht weniger als 600 Pfund Sterling für seinen Einsatz von einem Schilling! Man kann sich nicht wundern, daß mit einer solchen Glückschance in Aussicht plötzlich die ganze Bevölkerung der englischen Hauptstadt von der Spielwut – man kann dafür doch keinen anderen Ausdruck finden ergriffen wurde. Im Eisenbahnwagen, im Omnibus, im Tram, überall sah man die bezeichnete Wochenschrift in den Händen der Passagiere, die, mit Bleistift und Papier versehen, auf dem Hin- oder Herwege nach oder von der City, um das fehlende Wort und die Glücksgöttin buhlten. Den Buchhändlern kam die Spielwut des Publikums insofern zu gute, als letzteres auf Wörter- und Nachschlagebücher wie besessen schien. Das „fehlende Wort“ selbst wurde vom Redakteur festgesetzt und in einem versiegelten Briefumschlag Wochen zuvor einer Vertrauensperson übergeben, sodaß jedweder Betrug ausgeschlossen war. Die Zeitung machte solch herrliche Geschäfte, daß sich auch andere Kapitalisten auf das Herausgeben von ähnlichen Blättern verlegten, die wie Pilze in die Höhe schossen. Zur Abwechselung boten sie den Lesern ein Haus, eine Möbelausstattung oder ein Jahreseinkommen von 50 Pfund Sterling als ersten Gewinn an. Trotz des Gesetzes schien auf diesem Wege das Lotteriespiel hier doch festen Fuß gefaßt zu haben; aber ganz unmerklich zog sich das Gewitter über den Häuptern der besagten Zeitungseigentümer zusammen. Zuerst wurden im Parlamente Fragen an die Regierung über die Gesetzlichkeit solcher Gewinnverteilungen gestellt; dann folgten „Briefe an den Herrn Redakteur“ in den großen Tagesblättern, in denen die Schreiber allesamt Stellung gegen dieses Glücksspiel nahmen und es unmoralisch nannten, und endlich sah sich der „Kronanwalt“ veranlaßt, dem Drucke der öffentlichen Meinung nachzugeben und den Eigentümer der zuerst erwähnten Wochenschrift wegen Uebertretung des Lotteriegesetzes zu verklagen. Die Richter entschieden im Sinne der Anklage, und die „missing word competition“ mußte eingestellt werden zur großen Entrüstung der Teilnehmer, zur großen Freude der „Buchmacher“, denen durch die Konkurrenz der Zeitungen mancher Schilling entgangen war. Wie umfangreich die Kundschaft dieses Wochenblattes war, bewies die Thatsache, daß, während der Prozeß noch schwebte, über 1000 Pfund Sterling in Schillingen einliefen. Der Redakteur wurde nun gezwungen, diese 20 000 Schillinge einzeln an die Eigentümer zurückzusenden. Etwa 50 Pfund Sterling wurden unter die Hospitäler verteilt, da die Einsender nicht zu ermitteln waren.

Auf diese Art in die Enge getrieben, begnügen sich jetzt jene Blätter damit, nun jedem Leser eine Lebensversicherungspolice für 100 bis 1000 Pfund Sterling zu schenken, die in kraft tritt, falls er auf der Eisenbahn, dem Dampfer, im Omnibus oder auf der Pferdebahn sein Leben durch einen Unfall einbüßen sollte; selbst für den Verlust von Arm oder Bein erhält er eine entsprechende Entschädigung. Nur die Eisenbahnbediensteten sind von dieser philanthropischen Einrichtung ausgeschlossen, da in dieser Beziehung das Risiko zu groß ist; entfallen doch neun Zehntel der Unfälle auf den englischen Eisenbahnen mit tödlichem Ausgange auf diese Personen.

Als letztes Beispiel der Strenge, mit der in England alles, was einer Lotterie ähnlich sieht, unterdrückt wird, sei noch der Fall eines armen italienischen Zuckerbäckers erwähnt, der schwer bestraft wurde, weil er seine Kundschaft unter den Kindern auszubreiten suchte, indem er in jede zehnte Zuckertüte ein Fünfpencestück einwickelte.

Trotz alledem aber ist der Engländer nicht besser als seine Nachbarn, und sowohl im feinen Westend der Stadt wie im übervölkerten Ostend giebt es Spielklubs in Menge, und keine Woche vergeht ohne eine Klubrazzia. Doch im Vergleiche mit den Wettklubs ist man berechtigt, den Spielklubs eine nur untergeordnete Rolle zuzuerteilen. Noch niemand hat bis jetzt berechnet, wie viele Millionen Pfund Sterling jährlich der Engländer im Wetten ausgiebt, weil dies wohl, der Natur der Sache nach, unmöglich ist; da aber ein Rechenkünstler nachgewiesen hat, daß die englische Nation jährlich über 50 Millionen Pfund Sterling am Sport im allgemeinen verschwendet, dürfte die Gesamtsumme die aller Lotterien Europas übersteigen. Das Wetten hat sich im Volke zur wahren Leidenschaft ausgebildet, der alle Schichten eifrig ergeben sind. Man braucht nur am Vorabende eines wichtigen Wettrennens in ein Wirtshaus zu gehen, um sich von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen.

Obwohl auf einer Tafel die Warnung zu lesen ist: Betting is strictly prohibited (Wetten ist streng verboten) schert sich niemand um dieses Verbot, das nur pro forma an der Wand – hoch über den Köpfen der Gäste – prangt. Der Hauptgegenstand der Unterhaltung ist die Frage: welches Pferd hat morgen die besten Chancen? Stundenlang wird dieses Thema erörtert, und, mit jedem eintretenden Besucher, fängt die Unterhaltung wieder von vorn an. Dem Beobachter kann es dabei nicht entgehen, daß sich in der Gesellschaft gewöhnlich ein „Buchmacher“ befindet, ein Agent, dem die Gäste Papierstreifen, auf denen der Name eines Pferdes geschrieben ist, mit dem Einsatze einhändigen und der ihnen dagegen nach Verlauf des betreffenden Rennens den etwaigen Gewinn auszuzahlen hat. Das Gesetz verbietet das Buchmachen und das Wetten; und das Einsetzen wird daher heimlich betrieben, soweit es eben die Oeffentlichkeit des Wirtshauses zuläßt. Dabei kann es vorkommen, daß sich ein Buchmacher durch einen Geheimpolizisten bethören läßt und dessen Wette annimmt. Der Buchmacher wird dann vor Gericht gestellt und zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Es fällt ihm aber nicht schwer, dieselbe zu zahlen, denn sein Geschäft ist meist ein so lohnendes, daß er an einem einzigen Rennen 40 bis 50 Pfund Sterling erzielen kann. Es kommt auch vor, daß der Herr Wirt in Person ein „Buch“ macht; wird er aber ertappt, so läuft er Gefahr, die Ausschankerlaubnis zu verlieren. Andere Buchmacher betreiben ihr Geschäft an den Straßenecken, etablieren sich als Barbiere, Zeitungshändler etc. und folgen unter dieser Decke ihrem Berufe. Diese kleinen Buchmacher beschränken meistens den Gewinn auf kleinere Summen; doch kommt es vor, daß nach einem Renntage mehrere Dutzende dieser Herren plötzlich ihre Läden schließen und das Weite suchen, weil sie hohe Wetten mit dem Publikum auf ein Pferd eingegangen waren, das, der allgemeinen Meinung nach, nicht die geringste Aussicht auf Sieg hatte, trotzdem aber als erstes am Ziel anlangte. Sie sind somit bankerott; da aber das Gesetz die Wettschulden nicht anerkennt, müssen sich die Gläubiger der Buchmacher begnügen, ihren Läden die Fenster einzuschlagen. Ein solcher Gläubiger eilte, nachdem er den Sieg seines Pferdes vernommen hatte, an demselben Tage mit Kind und Kegel nach einem Seebad, um dort die Früchte seiner Wette zu genießen. Erst nach seiner Rückkehr erfuhr er, daß sein Buchmacher verschwunden war, ohne einen Pfennig auszuzahlen, und er sonach seine Rechnung ohne den Buchmacher gemacht hatte!

Die großen Buchmacher schließen ihre Wetten im Wettklub ab; die meisten gehören zum Albertklub, der, vor 30 Jahren gegründet, über 7000 Mitglieder zählt, oder zu „Tattersalls“. Bis vor kurzem hatte eine große Anzahl Buchmacher ihren Wohnsitz in Calais und Boulogne-sur-mer; von dort durch die französische Regierung vertrieben, sind sie nach Holland geflüchtet, von wo aus sie mit England den regsten geschäftlichen Verkehr unterhalten. In einer intimen Plauderei gestand jüngst der Chef einer dortigen Buchmacherfirma, daß ein Pferd für ein einziges Wettrennen in seinen Büchern mit 30000 Pfund Sterling eingeschrieben war, während eine zweite Firma in sechs Monaten 34000 Wetten abschloß und ein Jahreseinkommen von 5000 Pfnnd Sterling hatte. Neuerdings konkurrieren Damen mit den Straßenbuchmachern und erfreuen sich lebhaften Zuspruchs. So blüht das Buchmachen, obwohl vor kurzem ein Londoner Polizeirichter die ganze Sippschaft der Buchmacher als „einen Fluch für die Gesellschaft“ bezeichnete.

Die tolle Wettsucht hat noch eine eigenartige Klasse von Geschäftsleuten, die sogenannten „tipsters“, auf Deutsch Wettpropheten, gezeitigt. Sie behaupten, genau das Pferd voraussagen zu können, das in jedem einzelnen Rennen gewinnen wird, und sind bereit, das Publikum in das Geheimnis, gegen entsprechendes Honorar, einzuweihen. Gewöhnlich abonniert der Wettende auf sechs Monate und wird dann telegraphisch täglich auf dem Laufenden gehalten. Diese Propheten verlegen sich auch auf das Annoncieren, um die Gimpel zu fangen, und einer dieser „tipsters“, der wöchentlich 100 Pfund Sterling für Annoncen in den Sportszeitungen ausgab, war imstande, sich nach 18 Monaten mit der schönen Summe von 15000 Pfund Sterling, die er sich durch seine Prophezeiungen erworben, ins Privatleben zurückzuziehen. Mannigfach sind die Kniffe, deren sich die „tipsters“ bedienen, um das Publikum anzulocken.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0694.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2023)