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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

und durch Bosheit. Mehrmals erteilte, dringende Abmahnungen und Warnungen blieben unberücksichtigt. Da ergriff das Amt die strengste Maßregel, ließ sämtliche Blechplättchen als ungültig erklären und untersagte allen Ortsbewohnern das Betreten des Waldes. Als einige Erdbeerpflücker auch diesem Befehl zuwiderhandelten, wurden die Beeren weggeschüttet und den Sammlern gedroht: „Wenn ihr wiederkommt, zerschlägt man euch überdies die Töpfe.“

Die Töpfe zerschlagen? Heilige Dreieinigkeit! das sollen sie nur probieren, die Spitzbuben, die Menschenschinder! Es giebt, Gott sei Dank, ein Bezirksgericht, das arme Leute in Schutz nimmt gegen die höllischen Teufel auf dem Forstamt!

Alle Klugen im Orte rieten, das Bezirksgericht aus dem Spiele zu lassen. Eine Krähe hackt der andern die Augen nicht aus, ein Gericht läßt ein Amt nicht im Stiche. Am besten ist, eine Weile Ruhe halten. Der Eifer des neuen Oberjägermeisters wird sich schon legen, und gute Zeiten werden wiederkommen.

„Nein! nicht Ruhe halten! nicht nachgeben! nicht eine Weile, nicht einen Augenblick!“ Die phlegmatische, träge Franzka war’s, die das ausrief, und wenn sie einmal in Aufregung geriet, ließ sie sich nicht leicht beschwichtigen. Sie mahnte die Armenhäusler an alle Unbill und Härte, die sie von ihrer Gemeinde erfahren hatten, und schwor hoch und heilig, die Leute im Dorf seien die letzten, von denen sie einen Rat annehmen werde.

Der Senior saß auf dem Bänklein am Hause und staunte zu ihr empor. „Die kann reden,“ sprach er in höchster Verwunderung zu Milenka, die in der Thür lehnte, das seltene Schauspiel, das Franzka im Zorne bot, aufmerksam betrachtete und einen Genuß davon hatte.

Am selben Nachmittage noch geschah etwas Unerhörtes. Franzka nahm den Kochtopf vom kalten Herde und erklärte, „in die Erdbeeren“ gehen zu wollen. Geht jemand mit, ist’s gut, geht niemaud mit, ist’s auch gut. Sie weiß nur eins: entweder kommt sie mit dem Topf voll Erdbeeren zurück, oder ohne Topf. Dann hat sie ihn eben an dem Schädel des Hegers zerschlagen, der ihn ihr nehmen wollte. Nach einigem Zögern entschloß sich der Hirt, sie zu begleiten. Die Rückkehr der beiden wurde im Armenhaus mit namenloser Spannung erwartet und bereitete eine traurige Enttäuschung. Die Franzka hatte ihre Heldenthat nicht ausführen können. Richtig war sie überrascht worden, richtig war ihr das bißchen Erdbeeren, das sie gesammelt hatte, ausgeschüttet und der Topf zerbrochen worden – der einzige, den das Armenhaus im Augenblick besaß! Der zweite war gestern beim Kochen der Kartoffeln zersprungen. Schreiend, weinend, schimpfend erzählte sie’s, und der Senior fragte mit gutmütig blöder Neugier:

„Gehst jetzt zu Gericht?“

Zu Gericht? O der alte Esel! Das wollen sie ja, „die oben“, das weiß sie ja, und der Heger, der sie erwischt hat, der Vikukal, der Sohn der alten Hexe, hat es ihr bestätigt.

Den Senior überlief’s, als sie den Namen aussprach, und Franzko drückte sich an seine Mutter und verbarg sein Gesicht in ihrem Kleide.

Der Hirt wollte sich ins Gespräch mischen; Franzka gebot ihm, zu schweigen. Er sollte sich schämen, der Lump, der Feigling! Sie wollte nur wissen, wozu er eigentlich mit ihr gegangen war! Nicht eine Beere hatte er gebrockt, und davongelaufen war er vor dem Heger wie die Katz’ vorm Wassersturz!

„Geh’st jetzt klagen?“ fragte der Senior wieder.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein!“

„Warum denn nicht?“

Darum nicht, weil der Hexensohn zu ihr gesagt hat: Geht doch klagen, geht! Wir wünschen uns nichts Besseres. Wir werden schon sehen, was alles herauskommen wird vor Gericht. „Ja, das hat er gesagt. O, der Hexensohn! und o, der Feigling, der lumpige Hirt!“

Sie stöhnte, sie schluchzte, stieß den Franzko von sich, ging in die Kammer und warf sich dort auf ihr Bett.

Milenka hatte nicht ein Wort gesprochen, nur mit größter Spannung zugehört. Ueber ihr bewegliches Gesicht hatte es gezuckt wie kleine, aufblitzende Lichter. Lauter spitzbübische, nichtsnutzige Einfälle. Eine Weile wartete sie und horchte. Der Senior und der Hirt hatten sich aufs Bänklein vor das Haus gesetzt; in der Stube wurde Franzkas kräftiges Schnarchen laut.

„Jetzt ist’s gut, jetzt komm, jetzt thun wir etwas,“ flüsterte Milenka ihrem Spielkameraden zu. „Komm mit, wir machen’s besser, wir sind gescheit, die andern sind dumm, so dumm, so dumm!“ Sie nahm Franzko bei der Hand und ging mit ihm dem Dorfe zu. Ganz langsam, so lange sie von den beiden Alten gesehen werden konnte; einmal außerhalb ihres Gesichtskreises, immer schneller immer schneller. Im Dorfe rannte sie von Haus zu Haus, von Thür zu Thür, und schrie in einer Art Rhythmus, daß es klang wie ein wildes Lied: „Erdbeerbrocken verboten! Die Heger zerschlagen einem die Töpf’! Nehm’t euch in acht!“

Es war ein förmliches Jauchzen in ihrer Stimme. Mit triumphierendem Entzücken verkündete sie ihre traurige Botschaft. Die Leute traten aus den Häusern und blickten ihr nach, wie sie dahinraste und schrie und Franzko, ihr Trabant, ihr nachlief, hustend und hinkend.

Ein wahrer Jammer, der Bub’! Die dicke Frau des Gemeindeboten blieb mitten auf der Straße stehen mit ihrer ganzen Ladung gestohlenen Holzes auf dem Rücken und rief:

„Geh’ nach Hause, Franzko! Hast ja keinen Atem!“

Sie ärgerte sich nicht einmal, daß er nicht gehorchte, ein menschlich Rühren ergriff sie. Sein Jäckchen ging in Fetzen, die ausgefranste Hose aus Sackleinwand reichte ihm bis zur halben Wade am kürzeren Bein und bis zum Knie am längeren. Ein Hemd hatte er sein Lebtag nicht am Leibe gehabt, und so legt seine Mutter ihn in den Sarg, sie ist’s imstande! Die Botenfrau nimmt sich vor, dem Buben, wenn er stirbt, was ja bald geschehen wird, ein ,ausgewachsenes‘ Hemd von ihrem Jüngsten zu schenken.

Die Kinder hatten ihre Runde beendet und näherten sich jetzt einem unheimlichen Bereiche, dem der Hexe, der Vikukalka, die nur einige hundert Schritte hinter dem Armenhause wohnte. Ihre Hütte sah von außen sehr verfallen aus, sollte aber im Innern großen Reichtum bergen. So wenigstens behaupteten die Leute; und warum sollte es nicht sein, die Vikukalka konnte ja den Teufel beschwören! Wie viele hatten sie schon gesehen, wie sie auf dem First ihres Daches saß und Beschwörungsformeln flüsterte. Was sie da sagte, konnte man nicht verstehen, aber ihre Reden mußten Gräßliches enthalten, denn ein Grauen ergriff jeden, der das leise Murmeln der geheimnisvollen Worte vernahm. Vor ein paar Jahren noch durfte man der Hexe nicht „Hexe“ sagen, da wurde sie bös und machte einem Schaden am Vieh oder an den Feldfrüchten. Jetzt durfte man ihr sagen, was man wollte, denn sie war ganz taub geworden.

Milenka blieb stehen. „Schau, wie sie neugierig schaut!“ sprach sie. „Die Tauben sind alle schrecklich neugierig, selbst wenn sie Hexen sind und ohnehin alles wissen. Aber wart’, jetzt machen wir uns einen Spaß mit ihr!“

In unbändigem Uebermut trat sie an den Zaun fast bis auf Armeslänge heran und schrie: „Verboten! Erdbeerbrocken im Wald verboten! Wenn Ihr vielleicht Lust habt, laßt sie euch vergehn!“

„W – as?“ Die Vikukalka streckte ihren braunen, dürren Hals, daß er zum Entsetzen lang wurde. „Was?“ und Milenka sprang einen Schritt zurück, schnitt Gesichter und äffte sie nach.

„Was? ein alt’s Faß! Sitzen drei Weiber d’rauf, weiß keine was! Ich werd’ mich da nicht heiser schrei’n mit Euch. Ihr seid taub wie eine tote Gans!“

O des grauenhaften Wunders; das hatte die taube Hexe gehört. Wut verzerrte ihr Gesicht. „Gans?“ zischte sie. „Gans? Du Auswürfling!“ und ein Hagel von Worten prasselte aus ihrem zahnlosen Munde. Lauter Flüche, gewiß lauter schändliche, gotteslästerliche Flüche in der Hexensprache.

Dem Franzko schauderte die Haut, Schrecken lähmte ihn.

„Lauf!“ rief Milenka. „Jesus Maria, laufen wir!“

Wieder war sie voran und wieder keuchte er hinter ihr her. Und plötzlich flog etwas über seinen Kopf weg an den Kopf Milenkas – der Reisigbesen, den die Hexe ihr nachgeschleudert hatte, und der sich in ihren Haaren verfing, sie ihr verwirrte, und den sie ein Stück Weges hinter sich herschleifte.

Franzko hatte die Nacht hindurch wüste Träume und stand am Morgen todmüde auf; er hätte sich am liebsten gleich wieder hingelegt. Aber Milenka duldete es nicht. Sie befand sich in ihrer allermuntersten Laune, und auch er sollte munter sein. Sie zog ihr bestes Kleid an, weil Sonntag war, und lief und wirtschaftete im Hause herum „wie von der Tarantel gestochen“.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 766. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0766.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2023)