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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

     (8. Fortsetzung.)


10.

Das große Ereignis der Neubesetzung des Oberpräsidentenpostens hielt zur Zeit die Gemüter des Ehepaars Brückner in nervöser Erregung. Erst hatte man durch täglich anderslautende Nachrichten über die Ernennung für diese Stelle viele innere Unruhe gehabt, nun, seit es nach Wunsch entschieden war, Excellenz und Gemahlin bereits eingetroffen und von ihren Rechten und Pflichten Besitz ergriffen hatten, galt es für Brückners als erstes Gebot, ihre Beziehungen zu jenen festzustellen.

Schon früher einmal, vor einer Reihe von Jahren, hatten die Herrschaften in einer sehr viel weniger hervorragenden Stellung in dieser Stadt gelebt und waren dann, ihrem günstigen Stern, der sie emportrug, folgend, nach einer anderen Provinz übergesiedelt, von wo aus das Vertrauen des Herrschers ihn für eine kurze Zeit zum Leiter eines Ministeriums berief. In einem konstitutionellen Staat ist solch’ ein Ministerposten sehr häufig nur der glanzvolle Uebergang zu einer anderen, weniger im Zenit allgemeinen Interesses stehenden, aber dauerhafteren Stellung. So geschah es auch hier, und nun war die ferne Provinz dazu ausersehen, ihn für die erlebte Enttäuschung zu entschädigen.

Damals, als er, ein noch sehr jugendlicher Oberregierungsrat, hier lebte, sympathisierte seine Gattin mit Frau Brückner sehr und die Ehepaare waren viel und gern zusammen gewesen. Diesem intimen Verkehr hatte die Versetzung des Oberregierungsrats ein Ende gemacht, wie das in dem Nomadenleben der Staatsbeamten nur ausnahmsweise anders ist. Der Umgangskreis, auf den man angewiesen, wechselt und verändert sich unaufhörlich, diejenigen, mit denen man jetzt zusammen lebt und die gleichen Interessen teilt, sind vielleicht in wenigen Wochen Hunderte von Meilen entfernt. Hier treten andere mit den gleichen Ansprüchen an ihre Stelle, dort finden jene auch eine Lücke, sowohl in amtlicher als geselliger Beziehung, die sie auszufüllen haben, und die Gegenwart verlangt, heute mehr als je, immer den ganzen Menschen. – Einige wenige Briefe, später noch ein paar Neujahrskarten hatten Brückners mit Regierungspräsidents gewechselt, dann ward einmal auf der einen Seite absichtslos die Antwort vergessen, und die Woge des Lebens rauschte über diese Freundschaft dahin.

Nun kam jener als Oberpräsident hierher zurück, als höchster Beamter der Provinz, und es war allgemein bekannt, daß der Verlust des Ministerpostens ihn keineswegs die Gnade des Monarchen gekostet, da dieser nur der Volksvertretung, bei welcher der Minister durchaus keine Sympathie zu erwecken verstanden, eine Konzession mit der Einwilligung in seinen Rücktritt gemacht hatte. Und von seiner Gemahlin sagte man gar, daß die Kaiserin sie persönlich stets ausgezeichnet habe. Mit solchen Leuten ein freundschaftliches Einvernehmen zu erneuern, war Geheimrat Brückners eine Ehrensache.

Die Frau Geheimrat flocht selbst die Kränze, mit denen man Excellenz’ Wohnräume zur Ankunft schmückte, dichtete Verse, die an Längstvergangenes anknüpften und die Erinnerung beleben sollten, und verbarg diese sehr sichtlich in die Bouquets, die sie in das Boudoir der Frau Oberpräsidentin stellte. Dafür wurde ihr dann auch die Auszeichnung, daß die Excellenz bei der ersten Ausfahrt bei Brückners vorfuhr und sich für die vielfachen Beweise alter Anhänglichkeit mit einem Kuß bedankte. Aber dieser Erfolg genügte noch nicht, so sehr er schon den Neid ähnlichdenkender Rivalen hervorrief, – persona grata wollte sie bei Excellenz selbst werden, unentbehrlich seiner Gattin und ihrem ganzen Hause, und um dieses Ziel zu erreichen, mußte sogleich die nächste Zeit benutzt werden. Freilich kostete es viele Anstrengung. Die eigenen Interessen und Wünsche mußten ganz zurücktreten, immer mußte sie zur Stelle sein, wenn die Excellenz eine Auskunft oder einen Rat, eine Begleitung oder eine Mithilfe brauchte. Ihr vorzügliches Personengedächtnis kam ihr zur Hilfe, ebenso die umfassenden Kenntnisse aller städtischen und provinziellen Verhältnisse, die sie durch langjährige Anwesenheit im Ort erlangt hatte. So nützte sie denn in der That Excellenz sehr. Mit allen Wohlthätigkeitsvereinigungen hatte sie schon in Verbindung gestanden, stand sie zum Teil noch, weil dieses zu eben solchen Zwecken wie der, den sie jetzt verfolgte, sehr vorteilhaft, oft sogar notwendig war, und Excellenz übernahm jetzt natürlich das Präsidium bei allen diesen Instituten. Die Majestäten wurden zum Herbste hier erwartet – es war selbstverständlich, daß Excellenz dann schon wohl informiert die Führung der höchsten Herrschaften übernehmen würde!

So blieb Frau Geheimrat Brückner dadurch vorerst ihrer eigenen Familie und deren Leiden und Freuden sehr entrückt, aber die Eheleute waren viel zu sehr eines Sinnes, als daß der Gatte es anders gewünscht hätte. Ihn selbst beschäftigte sein Amt hinreichend, und Lisbeth sorgte treulich, daß er bei diesen vielen neuen Verpflichtungen der Mutter in seinem häuslichen Behagen nicht zu kurz kam.

Noch immer, obwohl der Hochsommer vorüber, war sie das einzige Kind des Hauses, das in der Vaterstadt anwesend war. Leo hatte sich dem Beschluß der Eltern fügen müssen, daß er die ganze Zeit bis zum erneuten Examen in Berlin bleiben sollte, und Elfe war, nachdem die Hochzeitsreise durch Italien ihr Ende erreicht hatte, mit einer Walden verwandten Familie nach einem Nordseebade gegangen. Ihr Gatte hatte inzwischen vorübergehend eine erledigte Ratsstelle im Finanzministerium angetreten und dann, da er Frau Elfes Bitten nicht widerstehen konnte, sich um definitive Übertragung dieses Amts beworben, welche schließlich auch genehmigt wurde.

Elfes durchaus nicht regelmäßige oder häufige Briefe von der Reise hatten meistens nur Schilderungen der Feste, die sie mitmachte, enthalten, und diese flüchtigen Zeilen waren von ihrem Mann anfänglich dadurch ergänzt worden, daß er mit Befriedigung von dem Aufsehen schrieb, welches seine schöne junge Frau bei solchen Gelegenheiten machte.

Der jubelnde Ausbruch dann, mit dem Elfe noch von Ostende aus den Eltern die Mitteilung von Waldens endgültiger Versetzung nach Berlin machte, hätte diese tief verletzt, wenn jene nicht gleichzeitig Papa und Mama in herzlichster Weise dringend um einen Besuch in Berlin, sobald nur erst ihre Wohnung eingerichtet sein würde, gebeten hätte.

Vorläufig hatte man über die Frage dieses Besuchs noch keinen Entschluß gefaßt. Die immer lebhafter werdenden Beziehungen zu Oberpräsidents hielten die Frau Geheimrätin vorerst hier fest, und dann stand ja nun wieder Leos Examen bevor – ehe dieses nicht bestanden war, ehe man nicht wußte, wo er dann Anstellung finden würde, konnte von neuen Plänen nicht die Rede sein.

Lisbeth gewann aber jetzt durch die Vereinfachung des häuslichen Lebens daheim viele freie Stunden für ihre Freunde, die ihres Zuspruchs gerade in dieser Zeit auch sehr benötigt waren. Gertrud in erster Reihe deshalb, weil es ihr um jede Minute leid that, die ihre Freundin anders als mit der Bewunderung ihres Patchens ausfüllte, das sich allerdings ganz außergewöhnlich schnell und glücklich entwickelte; Frau Römer aber aus dein Grunde, weil sie niemand sonst hatte, dem sie ihre grenzenlosen Sorgen um Gertruds Zustand anvertrauen konnte, denn Mann und Sohn, die so völlig durch ihre Berufsarbeit in Anspruch genommen waren, wollte sie mit ihrer Herzensangst nicht beunruhigen. Täglich, so klagte sie, werde Gertrud hagerer und matter, sie hüstele unausgesetzt, wenn sie sich unbeachtet glaube, und ihre Hände seien abends so heiß und feucht, als hätte sie Fieber. Zu allen diesen bösen Anzeichen kam noch der Umstand, daß Gertrud, die stets so sanft und nachgiebig gewesen, nun in die größte Aufregung geriet, wenn man davon sprach, einen Arzt zuzuziehen. Sie sei völlig gesund, sagte sie hartnäckig, und sie würde sofort abreisen, wenn man gegen ihren Willen ärztlichen Rat einhole. Das einzige, wozu sie sich verstand, war das Versprechen, daß sie selbst den alten Hausarzt der Familie, der sie von Kindheit an kannte, konsultieren wollte, sobald er aus seinem Sommeraufenthalt zurückgekehrt wäre. Aber bis dahin vergingen immer noch einige Wochen, denn der alte Herr war selbst der Ruhe schon sehr bedürftig und entschloß sich, wenn er im Frühling seine Villa am Strande bezogen hatte, nur schwer zur Uebersiedelung in die Stadt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0774.jpg&oldid=- (Version vom 29.4.2023)