Seite:Die Gartenlaube (1896) 0814.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Er drückte auf die elektrische Klingel und übergab den verschlossenen Brief an Frau Fricke zur Besorgung. „Apropos – ich verreise morgen bis zum Frühjahr.“

Frau Fricke starrte ihn an, als ob er ein Geist wäre. „Ach, Herr Doktor –“ sagte sie – „jetzt … gerade vor Weihnachten...“

„Gerade jetzt; sehen Sie sich gefälligst das Fenster da an – glauben Sie, daß ich aus den Tropen nach Berlin verzogen bin, um hier Champagner auf Eis zu markieren? Sie können das Vergnügen alle Jahre genießen, drei bis vier Monate allein zu wirtschaften!“

„Ach Gott – aber die Wäsche, Herr Doktor, die reicht nicht weit – wir wollten bald waschen ...“

„Da geben Sie sie schmutzig mit; waschen können sie in Italien auch. Jetzt besorgen Sie erst den Brief!“

Sie ging, kam wieder, räumte ab, verschüchtert und innerlich geknickt. Er war nach vorn gegangen, wartete – eine Stunde. Diese Frau Hauptmann mit ihren drei Kindern hatte „Lebenserfahrungen“ – für ihn verhängnisvolle Lebenserfahrungen! Was heißt das? Sie hat einen kranken Mann gehabt, der ihr gestorben ist – das hat sie mit allen Witwen gemein. Er war vielleicht nicht der beste – was geht ihn das an? Oder sie trauert noch, hat sentimentale Reminiscenzen … ah! er wird erfahren, welche Blätter hinter ihr rascheln!

Und wenn dieser Schwan in einen Sumpf getaucht wäre, er ist schneeweiß herausgekommen!

Sein Herz brannte – er wurde dieses Gefühl nicht mehr los, schon lange nicht mehr! Und seine Ungeduld wuchs. Er zündete sich eine Cigarre an, that ein paar Züge und vergaß, daß sie ausging. Da oben … die Kinderfüßchen! … die Wehmut beschlich ihn,’eine Art Heimweh nach den Stinimchen, dem lieben, zärtlichen Treiben … das Spielzeug staud um ihu her, der Bock glotzte ihu an und die große Puppe lag mit den geschlossenen Angen wie ein totes Kind …

Endlich! Also doch ein Bescheid.

„Hier, Herr Doktor,“ sagt Frau Fricke. „Die gnädige Frau ist eben ausgegangen.“

Er antwortet nicht, reißt das Couvert auf.

„Kommen Sie nicht! Ich appelliere an den Ehrenmann.

Mich bindet ein Eid: ich werde nie einem zweiten Manne angehören, wie schwer ich auch um meine Freiheit kämpfen müßte! Die Gründe kann Ihnen Doktor Cujavius, unser Arzt, sagen.

Die Kinder will ich abends auf eine Stunde zu Ihnen schicken.

Im heitern Süden streichen Sie aus Ihrem Herzen

Ihre  
Helene von Einsiedel.“     

Doktor Hartmann ist gar nicht niedergeschmettert, im Gegenteil, er lächelt. „Eid gegen Eid!“ Und er bedeckt das Billet mit Küssen. „Was ist es doch ein gut Ding um trotzigen Manneswillen!“

Er wird jetzt doch zu Doktor Cujavius gehen.

Im Augenblick ist dieser Mann auf Praxis, bis Nachmittag muß er warten. Also wird er die Zeit benutzen, um zu packen und zu ordnen, soweit er das ohne Frau Fricke besorgen kann, denn die kocht.

Die eine geheime Angst ist von ihm genommen: es steht kein Mann zwischen ihm und der geliebten Frau! Dies einzige, was er nicht auszudeuten gewagt, hätte allenfalls die Kraft gehabt, ihn hoffnungslos zu machen.

Er speist und geht, sich bei einem Adreßbuch um die Nachmittagssprechstunde des Doktor Cujavius zu befragen, und er richtet es so ein, daß er kurz vor Beginn derselben seine Karte zu ihm hinein geben kann. Dieser Kollege hat ein gutes Gedächtnis, denn er erinnert sich der Begegnung auf der Treppe.

„Frau von Einsiedel ermächtigt mich, Sie um Mitteilungen über ihre Vergangenheit zu fragen. Haben Sie ein paar Minuten dafür übrig? Ich wäre Ihnen dankbar,“ sagt Doktor Hartmann.

„Mit Vergnügen. Nur muß ich befürworten, daß ich nichts von ihr weiß als die Leidensgeschichte ihrer letzten Jahre!“

„Ich denke, eben darum handelt es sich.“

„Die alte Geschichte einer Frau, die einen Morphinisten zum Manne hat – allerdings mit erschwerenden Umständen! Der Hauptmaun war nämlich ein ungewöhnlich rücksichtsloser Mensch, wenn er in Depression war. Sie können sich die Scenen ungefähr denken, wenn sie darauf bestand, ihm das Morphium zu entziehen. Er war leider bereits völlig haltlos, als ich ihn in die Hände bekam; die Frau jammerte mich unsäglich: er hat sie mißhandelt – das eine Mal war sie nahe daran zu verbrennen, als er des Nachts die brennende Petroleumlampe nach ihr geworfen. Sie selber ist eine seltene Frau, von großer Charakterstärke … Ihnen brauche ich ihre Vorzüge wohl nicht auseinanderzusetzen?“ Er sah den Besucher verständnisvoll an.

Doktor Hartmann lächelte ein ganz klein wenig.

„Ich höre, der Mann ist in einer Anstalt gewesen?“

„In einem glücklichen Augenblick haben wir’s geschafft – er war sechs Wochen in der Maison de santé. Dann hat er die arme Frau mit den beweglichsten Briefen überschüttet: er sei gesund, sie solle ihm verzeihen … kurz, sie wurde schwach, ließ ihn wiederkommen … natürlich wurde er alsbald rückfällig und sie hatte wieder die alte Last, und ich auch. Sie hat sich musterhaft benommen, mit wahrhaft rührender Pflichttreue; und weun er seine gehörige Dosis Morphium hatte, die er sich hinter ihrem Rücken doch verschaffte, erkannte er das weichmütig an – sonst war er so brutal wie möglich. Mehr als einmal hat er sie umbringen wollen – am Ende that er das Gescheiteste, was er thun konnte: er jagte sich eine Kugel durch den Kopf; in ihrer Gegenwart, gerade als sie mit Morphium gekommen, das sie ihm in der Verzweiflung am Ende selber geholt hatte.“

Hartmann hatte nur ab und zu gemurmelt zwischen dem Bericht des Doktor Cujavius. Jetzt sagte er bloß: „Die Unselige!“

„Ihre Familie hatte gewollt, sie solle sich von dem Manne trennen, aber sie hat sich entschieden geweigert, ich glaube, daß sie darüber mit den Ihrigen zerfallen ist. Mit einem Bruder von ihr habe ich einige Briefe gewechselt, er ist Rittmeister bei den blauen Husaren. Ich fürchte, ihre Verhältnisse sind keine sonderlichen – ihr Mann hat vor der Ehe arge Schulden gehabt und nachher sehr viel verbraucht. Sie hat übrigens die Verhältnisse nach dem Tode ihres Mannes ganz allein geordnet: ein Freund von mir, ein Rechtsanwalt, hat ihr geholfen; wie er mir sagt, hat sie jede Einmischung der Familie zurückgewiesen.“

„Wer ist denn Vormund der Kinder?“

„Eben mein Freund. Der Herr Hauptmann hat nicht einmal ein Testament gemacht.“

Im Nebenzimmer scharrten und murmelten Patienten und Doktor Hartmann stand auf und nahm seinen Hut.

„Ich danke Ihnen, ich weiß jetzt genug. Wie lange ist sie Witwe?“

„Etwas über ein Jahr.“

*  *  *

Doktor Hartmann war abgefahren, direkt durchgefahren bis Rom.

Er hatte an jenem Abend noch eine glückliche Stunde mit „seinen Kindern“ verlebt: seit der Unterredung mit dem Doktor Cujavius war eine große Ruhe bei ihm eingekehrt. Nur als er die Kinder entließ, überkam ihn eine weiche Stimmung, er küßte die beiden kleinen Geschöpfe immer wieder, was ganz gegen seine sonstige Art war, und schenkte ihnen das ganze Spielzeug, sie sollten es sich hinauf holen lassen.

Und diesen Brief sollten sie der Mama geben!

Es war nichts drin als seine Visitenkarte mit dem bekannten p. p. c.; aber auf der Rückseite standen die Worte: Ich warte.

Im übrigen hatte Frau Fricke Anweisung, pünktlich alle acht Tage ein Telegramm an ihn „postlagernd Rom“ zu senden, um ihn über das Befinden der Familie oben auf dem Laufenden zu erhalten.

So glaubte er gerüstet zu sein, um die Entfernung für ein Vierteljahr zu ertragen.

Und es ging. Selbst als Frau Fricke schrieb, die Frau Hauptmann hätte nicht gelitten, daß das Spielzeug zu den Kindern hinauf geschafft würde, that ihm nur drei Tage das Herz weh wie einem Kletterer, dem die Möglichkeit aufgeht, daß er sich rettungslos verstiegen hat.

„Nichts Neues,“ sagten die Telegramme, und das klang wieder so tröstlich!

Nur eins quälte ihn immerfort, und das war unsägliche Langeweile. Er hatte nicht die mindeste Lust, Bekanntschaften zu machen, noch Geduld, um sich die geistigen Genüsse zuzuführen, die man in Italien sucht. Er ging nach Neapel, nur um in dem größten Lärm, den man in Italien finden kann, recht einsam zu sein, und er blieb dort, als er im Museum einen ausgegrabenen Frauenkopf gefunden, der ihn an die geliebte Frau daheim erinnerte. Möglichst oft ging er dahin wallfahrten.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 814. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0814.jpg&oldid=- (Version vom 28.4.2023)