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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

aber behandelte sie das junge Mädchen keineswegs unfreundlich, und Toni, die von der Natur mit frischer Gesundheit und einem frohen Sinn begabt war, ließ den Kopf nicht hängen.

Nachdem die alte Dame den von den kleinen Besuchern mitgebrachten Brief gelesen hatte, reichte sie denselben lächelnd dem jungen Mädchen, und Toni las leise für sich:

 „Liebe Tante!
Bei uns ist in dieser Nacht ein Töchterchen angelangt, welches ich gleich auf dem Standesamt anmelden will. Da sind dann die beiden Großen hier ziemlich überflüssig, und Du erlaubst wohl, daß wir sie Dir den Tag über ein wenig borgen. Gegen Abend dagegen hätten wir sie gern zurück. Meine kleine brave Frau hat schon vor mehreren Tagen die ganze Christbescherung vorbereitet, der Baum steht geputzt und braucht nur angezündet zu werden, und es geht Olga so gut, daß wir es mit der gehörigen Vorsicht wagen dürfen, hier zu Hause zu bescheren. Auch ist ja, wie Du weißt, seit gestern meine Schwiegermutter bei uns. Das neue Schwesterchen soll als Hauptgeschenk paradieren, sei deshalb so gut, uns die Ueberraschnng nicht zu verderben.

Mit den besten Grüßen  
  Dein Ernst.“ 

„Schreibt Papa, wohin Mama gegangen ist?“ fragte Willy eifrig. „Wir haben sie noch gar nicht gesehen heute morgen, Großmama sagte, sie hätte zu thun, aber ich glaube, daß sie ausgegangen war.“

Fräulein Toni blickte ernsthaft in den Brief. „Freilich schreibt Dein Papa etwas davon. Sie hat einen Brief zu schreiben gehabt, an das Christkind wegen der Bescherung. Es wird ja nun Zeit, wenn man noch Wünsche hat, die gern erfüllt werden sollen.“

Die Kinder nickten verständnisvoll.

„Findest Du nicht, daß Mama wohl ein bißchen früher hätte schreiben können, Tante Toni?“ meinte Willy unruhig. „Es ist doch sehr spät, heute erst zu schreiben! Findest Du nicht, Tante Toni?“

„O, es geht schnell mit der Post, Willy.“

„Glaubst Du, daß der Brief noch ankommt?“

„Ich denke wohl.“

Dann mußte das junge Mädchen in die Küche, um nach dem Mittagsbrot zu sehen. Die Kinder begannen nun im Zimmer umherzuwandern, hier eine zarte Meißener Porzellanfigur anfassend und von ihrem Platze nehmend, dort in einem schön gebundenen Buche blätternd, nun die Goldfische im Bassin und dann wieder den Kanarienvogel in seinem Bauer störend – Willy immer voran, Dodo getreulich wie ein kleiner gut dressierter Pudel hinterher.

Mit steigender Erregung sah ihnen die alte Dame zu. Das Strickzeug war längst beiseite gelegt, wie gebannt hingen die Blicke der Justizrätin an den unruhigen, überall Gefahr drohenden Händen der kleinen Gäste. Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Sie schellte. Toni kam eilig in das Zimmer gelaufen.

„Lassen Sie gleich bei sich heizen, Toni, damit es nach Tische dort warm ist. Sie können dann die Kinder mit zu sich hinüber nehmen. – So, und nun laßt das Umhergelaufe, Kinder, ihr macht mir Kopfschmerzen, da setzt euch auf die Stühle am Fenster – ganz still, hört ihr! Es schickt sich gar nicht für artige Kinder, alles anzufassen und zu besehen. Artige Kinder verhalten sich ruhig, wenn sie zu Besuch sind.“

Gehorsam setzte sich das Geschwisterpaar auf die Stühle am Fenster. Es wurde sehr still und sehr langweilig im Zimmer. Nur zuweilen entrang sich Willys bedrücktem Gemüt ein schwerer Seufzer. Es war wirklich nichts weniger als nett bei Tante Justizrat, wenn Tante Toni in der Küche zu thun hatte. Und noch dazu war Weihnachten!

„Tante Justizrat?“ platzte er endlich wieder heraus.

Die alte Dame sah stirnrunzelnd zu ihm hinüber. Er störte sie. Sie war eben dabei, Maschen abzuzählen.

„Vierunddreißig – jetzt nicht, Willy!“

„Tante Justizrat, wenn Mama nur auch alles recht gewußt hat, was wir uns wünschen?“

„Vierzig!“

„Wenn sie nun aber etwas vergessen hat, Tante Justizrat?“

„Achtundvierzig. – Jetzt nicht, sage ich, Kind! Artige Kinder schweigen still, wenn sie nicht gefragt werden.“

Ein Seufzer, so laut und schwer, daß es klang, als würde er aus einem ganz tiefen Brunnen hervorgeholt! Willy fand, daß von artigen Kindern manchmal eigentümliche Dinge verlangt würden, wagte aber nicht, etwas darüber zu sagen.

Zum Glück erschien jetzt Toni, um zu melden, daß angerichtet sei, und wenn bei Tante Justizrat auch artige Kinder weder mit den Gabeln klappern, noch Wasser verschütten, noch mit den Stühlen schurren durften, so war und blieb das Mittagsmahl doch immer eine angenehme Beschäftigung. Kaum hatte man sich jedoch erhoben, so stürzte Willy auch bereits auf Toni zu. Jetzt endlich mußte er seinem sorgenvollen, gepreßten Herzen Luft machen.

„Tante Toni, ich bin bange, Mama hat vieles gar nicht gewußt, was ich mir wünsche!“

„Ja, das ist sehr möglich, Willy.“

„Wenn sie mich doch nur vorher gefragt hätte! Was machen wir nun?“

„Ja, was machen wir nun?“ echote Dodos sanftes Stimmchen.

„Da wird nichts anderes übrig bleiben, als ihr schreibt dem Christkind noch selbst einen Brief.“

„Glaubst Du nicht, daß das zu spät ist?“

„Ja, Willy, wissen kann man das nicht. Um Weihnachten hat die Post sehr viel zu thun, aber man könnte es ja versuchen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 829. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0829.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2023)