Seite:Die Gartenlaube (1896) 0831.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Willy verstummte jäh. Aus der lebhaft geschwungenen Feder war ein großer Tintentropfen grade mitten auf das freundlich ernste Gesicht des jungen Predigers gespritzt. Er nahm sich da sehr unkleidsam aus. Willy hatte heute entschiedenes Unglück mit der Tinte.

„O, Willy – Willy!“ rief Dodo, aufgeregt von ihrem Stuhle herunterrutschend.

„So sei doch still, Dodo, laß doch!“ Der kleine Missethäter war rot geworden bis an das Haar. „Das thut doch nichts; ich lecke es ab, dann ist nichts mehr davon zu sehen. So sei doch still, Dodo!“

Und heraus fuhr die rote – nein, noch von dem ersten Experiment ziemlich schwarze Zunge wieder, und Willy „leckte es ab.“

Wenn er aber gehofft hatte, es würde nun nichts weiter davon zu sehen sein, so hatte er sich leider schwer getäuscht. Die Kunst des richtigen Ableckens hatte er offenbar noch nicht völlig inne. Auch diesmal zog sich ein breiter, schwarzer Streifen über das ganze Bild hin. Willy leckte allerdings noch ein Weniges mehr daran herum, die Sache wurde aber dadurch nicht eben verbessert, und schließlich schob er das Bild scheu und schuldbewußt in einem sehr wenig schönen Zustande in die Briefmappe hinein.

Da öffnete sich die Thür und Toni, die unterdes den Kaffee besorgt hatte, trat ein.

„Seid ihr fertig?“

„Ja.“ Es kam ein bißchen gedrückt heraus.

„Laßt sehen!“

Lächelnd überflog sie die beiden Briefe. „So, nun eine Freimarke!“ Damit öffnete sie die Mappe, um eine Postmarke herauszunehmen. Die Kinder saßen stumm, ängstlich erwartungsvoll.

Dann ein Schrei: „Mein Bild! O, wer hat das gethan?“

Einen Augenblick wurde es ganz still, nur daß die arme Toni herzbrechend schluchzte. Sie hatte es ja so lieb gehabt, das Bild, das ihr nun so unvermutet entstellt und verdorben in die Hände fiel, und für den Augenblick verlor sie die Selbstbeherrschung und weinte wie ein Kind.

Dann rührte eine Kinderhand leise an ihren Arm.

„Tante Toni, ich habe es gethan,“ sagte Willy ehrlich und kummervoll. „Ich that es nicht mit Absicht, ganz gewiß nicht. Es kam so von selbst: auf einmal war es da. Und dann wollte ich es ablecken, aber davon wurde es auch nicht wieder sauber. Es thut mir schrecklich leid. Hattest Du es denn so lieb, Tante Toni?“

„Ja,“ schluchzte das Mädchen noch ganz fassungslos, „ja, es – es – hatte meinem Papa gehört, und – ach, das verstehst Du doch nicht, Willy.“

„Bitte, sei mir wieder gut, Tante Toni!“

„Ich bin nicht böse auf Dich, mein Junge,“ sagte das Mädchen, dem der kummervolle Ton des Knaben zu Herzen ging, sich die Thränen abtrocknend und ihm mit der Hand über das Haar streichelnd, „obgleich Du schon groß genug bist, um zu wissen, daß man in fremder Leute Sachen nicht kramen darf.“

„Aber Du bist doch kein fremder Mensch!“ sagte Willy erstaunt, „Dich haben wir doch lieb!“

Das Mädchen strich ihm noch einmal über das krause Schwarzhaar, lächelte ein bißchen krampfhaft und ging an den Waschtisch, um sich das verweinte Gesicht zu kühlen. Es war ja ganz thöricht, sich so aufzuregen, und was wußte denn das Kind davon?

Unterdes fügte Dodo mit heißen Backen noch eine Nachschrift an ihren Wunschzettel.

„Libes Christkind, ich habe noch etwas fergesen. bitte liebes Christkind, schenke doch tante Toni bei Tante Zuzrizrätin einen neuen Pastor Brun, weil sie ihn so lieb hat, sagt sie. und sie weint so laut, weil Willy ihn foll Dinte gelekt hat. bitte libes Christkind, weil wir tante Toni so lieb haben. 0 deine Dodo.“

„So, nun gebt schnell die Zettel,“ sagte Fräulein Toni, sich umwendend, ohne die Nachschrift der Kleinen zu bemerken; sie war jetzt wieder ganz ruhig und freundlich. Man lernt Selbstbeherrschung, wenn man fremdes Brot ißt. „Nun wollen wir Kaffee trinken, und nachher stecken wir den Brief in den Kasten. Dann bringe ich euch nach Hause.“

Damit nahm sie die beiden inhaltsreichen Manuskripte, faltete sie zusammen und schloß das Couvert.

„Nun kommt, daß wir Tante Justizrätin nicht warten lassen.“ Und Hand in Hand gingen die drei in das Wohnzimmer hinüber.

Eine Stunde später steckte der Brief „an das Christkind im Himmel“ sicher im nächsten Postkasten. Dann machten die Drei noch einen kleinen Spaziergang durch den wundervollen Weihnachtsschnee, und endlich, als es anfing zu dämmern, lieferte Toni die beiden Kinder, die vor Ungeduld und Erwartung sich kaum zu fassen wußten, zu Hause ab. Sie selbst hatte noch einen Gang zu einer alten Frau vor, der sie eine kleine Gabe bringen wollte. –

– – Es dunkelte schon stark. Hinter dem Postschalter saß der blasse Postsekretär und stempelte in fliegender Hast die Briefe ab, die der Bote soeben den Kästen an den Straßenecken entnommen und sortiert hatte.

Tup – tup – tup – tup – ging es in ununterbrochener Folge, und für das sonst mitunter genossene Vergnügen, die offenen Postkarten und Drucksachen einer kleinen Durchsicht zu unterziehen – eine Lektüre, die in dem kleinen Ort unter Umständen nicht ohne Reiz war – blieb heute nicht ein Augenblick Zeit. Nur vorwärts – guter Gott, die Menschheit mußte sich ja halb tot geschrieben haben, um alle diese Briefe zu verfassen!

Plötzlich aber hielt die mechanisch stempelnde Hand doch inne, und der Postsekretär lachte laut auf.

„Schlüter!“ rief er dem im Hintergrunde hantierenden Briefboten zu, „kommen Sie doch ’mal eben her! Sehen Sie ’mal, was da unter den Briefen ist: ,An das Christkind im Himmel!’“ Und er hielt ihm das von Willy so schön adressierte Couvert entgegen.

Schlüter, der Briefbote, grinste über sein ganzes breites gutmütiges Gesicht. „Jaa – Herr Sekertär, das wird wohl seine Schwierigkeiten haben mit der Bestellung. Da sind wir doch am Ende nich findig genug zu.“

„Hat dieser Brief Ueberporto?“ kam es von außerhalb des Schalters her.

Der Sekretär schob sein Schiebefenster zurück. Draußen stand ein Herr mit einem großen blonden Vollbart, einen Brief in der Hand haltend.

„Der?“ Der Brief wurde nur leicht in der Hand gewogen und taxiert.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0831.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2023)