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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

„Nein, der nicht, Herr Pastor. Da fehlen noch ein paar Gramm. Aber bitte, sehen Sie doch einmal, was wir hier zur Besorgung bekommen haben. Vielleicht wäre es Ihnen noch am ersten möglich, es an seine Adresse zu befördern. Sie haben da am Ende noch eher Verbindungen als wir.“

„An das Christkind im Himmel!“ Der junge Pastor lachte, der Sekretär lachte und der Postbote Schlüter lachte am allermeisten. Er konnte sich gar nicht wieder beruhigen.

„Geben Sie ihn immerhin mir, Herr Sekretär,“ sagte der Pastor, den Brief in die Tasche steckend, „ich kenne dergleichen; habe schon allerhand kuriose Schriftstücke bekommen und schon manchen armen Kindes Wunsch erfüllen können. Guten Abend! Vergnügte Feiertage!“

„Gleichfalls, Herr Pastor, gleichfalls!“ Tup – tup – tup – tup – machte der Stempel, das Schalterfenster war schon wieder zugeflogen.

Der junge Pastor lächelte draußen noch vor sich hin, zog den Brief wieder aus der Tasche und öffnete ihn vorsichtig. Es war noch eben hell genug, um die großen Buchstaben zu entziffern, und er hatte Zeit. Allerdings wollte er in die Kirche, die in einer halben Stunde begann, aber den Gottesdienst hatte heute nicht er zu leiten, sondern sein Kollege, und er beabsichtigte, vorher noch einen Besuch bei einer alten Frau zu machen.

„1 Weihnachtsbaum, 1 Flozipet“ – etc. bis hinunter zum „Willy“. Aha, das war wohl Doktor Rupertis kecker kleiner Schwarzkopf, der da so „bescheiden“ wünschte. Richtig, das blonde Schwesterchen war ja auch dabei.

„Libes Christkind im Himmel, bitte schenke mich –“ u. s. w.

So war er bis an die Nachschrift gekommen. Da stieg plötzlich eine heiße Röte in dem hübschen, männlichen Gesicht empor, und dreimal, viermal las der junge Pastor, was die ungeschickte Kinderhand geschrieben hatte. Er lachte gar nicht mehr. Ihm war auf einmal ganz ernsthaft und ganz – ja ganz sonderbar zu Mute.

Was schrieb das Kind da? Was schrieb es von der kleinen Toni?

Der Zusammenhang konnte ihm ja natürlich nicht klar werden, er war sich nicht bewußt, von Willy „soll Dibte gelekt“ zu sein, aber was schrieb das Kind? Dieses reizende kleine Veilchen, die Toni, hatte um ihn geweint und gesagt, sie hätte ihn lieb? Das Kind mußte das irgendwie erlauscht haben, so etwas ersinnt kein Kinderkopf! Unbegreiflich, wie der Zusammenhang ihm war, es stand doch da, schwarz, oder vielmehr grau auf weiß!

Er hatte sie lieb, die bescheidene kleine Mädchenblume, lange schon, und nur, weil sie ihm immer so scheu auszuweichen schien, weil sie ihn nie verstand, wenn er ihr einmal näher zu kommen suchte, hatte er ihr’s nicht gesagt bisher. Nicht aus Hochachtung und Respekt sollte sie ja doch seine Frau werden, und nur das, gar nichts weiter hatte er bis jetzt aus ihrem Wesen heraus zu lesen gemeint; schon war er im Begriff gewesen, den Mut zu verlieren!

Das Blatt mit den kindlichen Schriftzügen zitterte in seiner Hand. Ach, wenn es sein konnte – wenn er sie fragte! Wenn es doch Liebe wäre, nicht die kalte, dumme, unausstehliche Hochachtung, was sie für ihn fühlte! Er atmete tief auf.

So war er bis an die Thür des ärmlichen Hauses gekommen, in dem er seinen Besuch machen wollte. Schon hielt er den Griff in der Hand, da wurde derselbe von innen bewegt und die Thür öffnete sich. In der Dunkelheit sah er eine schlanke Mädchengestalt heraustreten.

„Herr Pastor!“ stotterte das Mädchen erschrocken und überrascht.

„Fräulein Toni!“ rief er ebenso verwirrt wie sie.

„Vergnügte Feiertage, Herr Pastor!“ und sie wollte an ihm vorüber eilen.

„Sie sind so eilig?“

„Ja, es wird dunkel, und Frau Justizrat hat es nicht gern, wenn ich dann allein draußen bin.“

„Da ist Fran Justizrat vollständig im Recht. Sie müssen mir schon erlauben, Sie nach Hause zu geleiten, ich – ich wollte Sie ohnehin schon lange etwas fragen, Fräulein Toni.“

„Sie – mich?“

„Ja,“ sagte er und zog ihren Arm durch den seinen. Eben begannen die Glocken zu läuten von dem alten kleinen Kirchturm am Markt. Wie schön es klang, wie festlich und feierlich, wie heimatlich und verheißungsvoll!

Glück zu! Sie ist das Fest der Liebe, die heilige Weihnacht! 00000000000000000 Am nächsten Morgen früh, kaum war’s noch rechter Tag – es wird spät Tag um Weihnachten – schellte es gewaltig an der Thür der Frau Justizrat.

Toni, über deren Gesicht heute eine wundersame Verklärung lag, eilte, zu öffnen, und schon klangen auch die hellen Stimmchen der Doktorskinder draußen auf dem Flur.

„Tante Toni!“ schrie Willy überlaut und triumphierend, „wir wollten Dir bloß was sagen!“

„Tante Toni!“ das war Dodo – „und wir haben doch ein Schwesterchen bekommen! Ein ganz neues!“

„Ein ganz lebendiges!“

„Und schreien kann es auch! Ganz von selbst!“

„Ei, was ihr sagt!“

„Ja, vom Christkind. Und was hast Du bekommen?“

„Ich? Ja, mir hat das Christkind einen neuen Pastor Bruhn geschenkt; es war ganz gnt, daß Du den alten voll Tinte geleckt hast, Willy, der neue ist viel besser,“ sagte Toni und küßte in ihres Herzens Glückseligkeit beide Kinder auf den Mund.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 834. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0834.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2023)