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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Die Größe der Zerstreuungskreise hängt aber nicht allein von der Entfernung des Lichtes vom zu lang gebauten Auge ab, sondern auch von der Größe der Pupille. Die Pupille oder das Sehloch ist bekanntlich eine Oeffnung in der Mitte der Regenbogenhaut oder Iris (PP1 in Figur 3 ist der Durchschnitt der Pupille). Diese dunkel erscheinende Oeffnung kann sich im Hellen zusammenziehen, verengern, im Dunkeln erweitern. (D und E in Figur 5 sind die weite und enge Pupille, von vorn gesehen.)

Wenn das Sehloch weit ist, wie in Figur 6 bei a a, so ist auch der Zerstreuungskreis a1 a1 groß. Wenn aber die Pupille klein ist, sich zusammengezogen hat, so daß der Durchschnitt nur b b ist, so ist auch der Zerstreuungskreis klein b1 b1.

Im Alter wird in der Regel die Pupille enger; daher sehen auch Kurzsichtige im hohen Alter etwas besser in die Ferne, da eben dann auch hier die Zerstreuungskreise kleiner werden.

Jeder Kurzsichtige kann diese Beobachtung an sich selbst machen, wenn er dicht an sein Auge eine Kerze hält; dadurch wird die Pupille verengert, und er sieht dann Buchstaben auf größere Distanz als vorher. Oder er sticht mit einer Stecknadel ein kleines Loch in eine Visitenkarte und blickt durch dieses hindurch; durch dieses enge Loch kommen natürlich auch weniger Strahlen auf die Netzhaut als durch die normale Pupille; daher sieht er in die Ferne deutlicher.

Ja, die Kurzsichtigen wußten schon vor Jahrtausenden, daß sie durch Blinzeln schärfer sehen konnten; indem sie die unschöne Grimasse des Zusammenkneifens der Augenlider machten, verkleinerten sie gewissermaßen auch ihre Pupille von oben nach unten, so daß die Zerstreuungskreise kleiner wurden. Daher rührt ja auch der Name, den die alten Griechen schon der Krankheit gegeben haben: Myopie von μύω, ich blinzle.

Fig. 5.

Heute weiß man durch Messungen ganz genau, daß das Wesen der Kurzsichtigkeit in der Zunahme der Achse von vorn nach hinten besteht.

Die alten Aerzte hatten aber keine Ahnung davon. Die Krankheit galt bis zum Ende des Mittelalters als ein Naturfehler, den nur Gott heilen könne.

Selbst die Erfindung der Konkavbrillen in der Mitte des 16. Jahrhunderts führte nicht zur Erkenntnis der Ursache. (Siehe meinen Aufsatz in der „Gartenlaube“ 1895, S. 367.) Erst der große Kepler wies theoretisch nach, daß die Lichtstrahlen bei den Kurzsichtigen sich nicht auf der Netzhaut, sondern vor ihr vereinigen müssen; der ausgezeichnete holländische Arzt Boerhave sprach 1708 zuerst den Satz aus, daß die Lichtstrahlen sich nur vor der Netzhaut vereinigen können, wenn das Auge allzu lang gebaut sei, und der berühmte italienische Anatom Morgagni wies 1761 diese Verlängerung der Augenachse zwischen Linse und Netzhaut wirklich nach. –

Viel bekannter als das Wesen der Myopie sind aber längst die Beschwerden derselben gewesen. Man muß verschiedene Grade der Kurzsichtigkeit unterscheiden: leichte, bei denen noch bis 1/3 m, also bis 33 cm scharf gesehen wird, mittlere, bei denen noch bis 1/6 m, also bis 16 cm, hohe, bei denen nur 1/61/10 m, also bis 10 cm, und höchste, bei denen nicht einmal bis 10 cm scharf gesehen wird.

Selbst die schwachen Grade sind ein Gebrechen; sie führen zu einer gewissen Unbeholfenheit bei denen, welche keine Brillen oder Lorgnons tragen; Vorgesetzte werden nicht gegrüßt, Untergebene werden auf der Straße für Vorgesetzte gehalten, die Orientierung in Gesellschaften ist erschwert. Nur Cardanus, der berühmte Physiker, welcher den Ring erfunden, in welchem der Kompaß stets ruhig hängt, lobte diese Kurzsichtigkeit; er meinte, die Kurzsichtigen seien sehr verliebt, da sie alle Mädchen für Engel hielten.

Aber auch die schwache Kurzsichtigkeit bis 1/3 m stört schon mitunter die Wahl des Berufs; es giebt Berufe, in denen keine Brille, auch nicht die schwächste, getragen werden kann, z. B. die Schiffahrt. Darum wird ja auch mit Recht kein Soldat zur Marine genommen, der eine Brille braucht.

Die mittleren Grade von Kurzsichtigkeit sind schon darum viel unangenehmer, weil eine ganze Reihe von Berufen von vornherein ausgeschlossen ist; es liegt nämlich bei allen Berufen, die mit Nahearbeit verknüpft sind, die Gefahr vor, daß diese mittleren Grade dabei in hohe Grade übergehen. Es genügt, hier kurz an die Thatsache zu erinnern, die ich schon vor 30 Jahren an 10000 Schulkindern nachwies und die seitdem bei mehr als 200000 Schülern bestätigt wurde, daß von Klasse zu Klasse die Zahl der Myopen und der Grad der Myopie zunimmt.

Mit der Zunahme der Kurzsichtigkeit geht aber leider auch sehr häufig Abnahme der Sehschärfe Hand in Hand, d. h. selbst mit den passendsten Brillen gelingt es nicht mehr, in die Ferne scharf zu sehen, und so muß oft spät noch ein Beruf aufgegeben werden, dessen Vorbereitung sehr kostspielige und langjährige Studien erforderte; Juristen, Aerzte, Lehrer werden ebenso schwer alsdann getroffen wie Techniker und Beamte, die den ganzen Tag zu schreiben haben.

Ein Kurzsichtiger, der nicht mehr auf ein 1/6 m liest, wird mit Recht gar nicht zum Militär genommen, da eben dann meist die Sehschärfe trotz der besten Brille ungenügend zum Schießen ist.

Fig. 6.

Die hohen und höchsten Grade der Kurzsichtigkeit sind aber keineswegs mehr ein Gebrechen, sondern wahre Krankheiten des Auges. Wir haben ja oben gesehen, daß die Kurzsichtigkeit in der Verlängerung der Augenachse besteht; je mehr diese fortschreitet, um so kurzsichtiger wird ja das Auge. Die Dehnung der Augenhäute führt schließlich zur Zerreißung der feinen Netzhaut, welche sich von ihrer Unterlage, der Aderhaut (Figur 3), ablöst, und dann zu der mit Recht höchst gefürchteten, wohl fast stets in Kürze Erblindung verursachenden Netzhautablösung. Häufig genug gehen diesem traurigen Ende der Kurzsichtigkeit als Vorläufer Trübungen in dem durchsichtigen Glaskörper voran, welche vor dem kranken Auge beständig hin und her tanzen und bei der Arbeit außerordentlich stören.

Oder aber es treten Blutungen, Berstungen von Adern in der Netzhaut und Aderhaut gerade am Ende der Sehachse (Fig. 3 B), an der Stelle im Innern des Auges auf, mit welcher wir am feinsten sehen, am sogenannten gelben Fleck der Netzhaut. Dann wird eben die Netzhaut dort in der Mitte zerstört, und infolgedessen sehen die Kranken gerade in der Mitte, wo sie deutlich wahrnehmen sollen, einen größeren oder kleineren schwarzen Fleck, oder die Zeilen werden krumm und verbogen, so daß das Lesen unmöglich wird.

Leider sind gerade diese hohen und höchsten Grade in einer Reihe von Fällen angeboren, oder es ist schon wenigstens in früher Kindheit eine Disposition vor^ Handen, namentlich wenn die Eltern und Großeltern kurzsichtig waren; denn die Kurzsichtigkeit ist ja sehr häufig erblich. Solche Kinder haben überhaupt keinen rechten Naturgenuß, keine rechte Vorstellung von ihrer Umgebung, keinen Genuß von Gemälden. Der Gesunde kann sich eine Idee machen von dem jammervollen Sehen aller hochgradig Kurzsichtigen, die nicht mehr bis 10 cm lesen können, wenn er sich eine Lupe vors Auge nimmt und in die Ferne blickt. Gerade jene hochgradigen Fälle aber sind es meist, die mit Krankheiten der Aderhaut und Netzhaut sich verbinden und erfahrungsgemäß über kurz oder lang einem schlimmen Ausgange entgegengehen. –

Die nächste Frage ist naturgemäß die: Ja, wodurch wird denn bei den Fällen von Kurzsichtigkeit, die nicht angeboren sind, das Auge von vorn nach hinten verlängert, wodurch wird es denn in den fatalen Langbau hineingetrieben?

Die feineren Ursachen kennen wir leider immer noch nicht mit Bestimmtheit; aber das wissen wir sicher, daß, wenn die Augenhäute gedehnt werden sollen, wenn sie aus ihrer kugelrunden Gestalt in eine eiförmige Gestalt übergeführt werden sollen, daß dann im Innern des Augapfels der Druck vermehrt sein muß, und dieser Druck im Innern des Augapfels wird, wie durch Experimente festgestellt ist, durch zwei Vorgänge vergrößert, die vom

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 866. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0866.jpg&oldid=- (Version vom 8.6.2023)