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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Ihren besten Trost schöpfte sie noch aus einer Quelle, die niemand je vermutet hätte, nämlich aus den Briefen ihres Schwiegersohns Arnold Römer.

Er hatte den festen Willen gehabt, mit der Mutter seiner Lisbeth gut zu stehen, und fand nun bei näherer Bekanntschaft, daß die Frau, die er mir freundlich ertragen wollte, ihm im Grunde sehr sympathisch war. Ihr Fleiß und ihre Tüchtigkeit, ihr offener Blick und ihr schnelles Verständnis überraschten ihn, ihr heiteres Wesen und ihre thatkräftige Entschlossenheit muteten ihn an, und die wirklich seltene Liebe des Ehepaares füreinander warf einen versöhnenden Glanz auch auf ihre Fehler und Schwächen. – Zu seiner Mutter sagte er oft: „Die Geheimrätin ist gar nicht die Frau, die ich in ihr gesehen habe. Die Grundeigenschaften ihres Wesens sind edel, sie ist durch die Gesellschaft nur falsch geleitet und hat an ihrem Manne nicht den Halt gehabt, der sie zurückhielt, als sie abirrte von dem rechten Wege.“

Und ihr war Arnold Römer der erste Mann, der ihr wirklich imponierte. Bisher hatte sie nach den Erfahrungen an ihrem guten lenksamen Manne und auch an Walden es als Thatsache hingenommen, das; männliche Energie und Gemütswärme nun einmal nicht in einer Person vereinigt sein könnten, sie hatte sich gewöhnt, in schwierigen Fällen nur auf die Kraft ihrer eigenen Natur zu bauen und weder Rat noch Hilfe bei ihren Nächsten zu suchen, deren Liebe und Verehrung sie freilich um keinen Preis hätte missen mögen.

Und nun fand sie bei dem früher so gering geschätzten Arnold außer diesen beiden Dingen noch ein unbestechliches Urteil, eine ruhige Thatkraft und dabei den großen Blick, vor dem ihre vielen kleinen Vorurteile häufig genug in das verdiente Nichts dahinschmolzen. So oft sich ein Meinungsstreit über solche Dinge erhob, wußte er mit solcher Bestimmtheit und mit so guten Gründen, dabei in so tadelloser Form seine Sache zu führen, daß die Frau Geheimrätin schließlich keine Entgegnung, ja nicht einmal die Möglichkeit sich zu erzürnen mehr fand. Es war auch dafür gesorgt, daß diese Erörterungen sich nicht lange um Prinzipienfragen drehen konnten: das Leben nahm die armen Eltern nach einer kurzen Friedenszeit bald genug mit neuem Kummer in Anspruch.

Die Korrespondenz mit Elfe, die ihnen ja längst keine Freude mehr brachte, war sehr ins Stocken geraten; nun wurde sie plötzlich durch Walden aufgenommen, dessen Zuschriften ihnen ein immer traurigeres Bild von dieser Ehe zeigten. Jeder seiner Briefe war in heftiger Erregung geschrieben, jeder enthielt die bittersten Klagen über Elfes Lieblosigkeit und verlangte von den Eltern, daß sie ihr Ansehen zu seinen Gunsten geltend machen sollten, und endlich kam er damit heraus, daß Elfe neuerdings wieder durchaus nach einer gerichtlichen Trennung ihrer Ehe verlange, da ihr auch diese scheinbare Zusammengehörigkeit unerträglich sei. Selbstverständlich hatte er bei seiner Weigerung die Schwiegereltern auf seiner Seite. Denn die Furcht vor der Öffentlichkeit, die Angst vor einem abfälligen Urteil ihrer Kreise über den unvermeidlichen Skandal bestimmte ihr äußeres Verhalten. Innerlich war ihre Haltung nicht so fest: einerseits sprach Arnold brieflich stets zu gunsten der Trennung, anderseits besann sich besonders der Vater doch auf manches, was ihm bei Schließung dieser unglückseligen Ehe gegen die Natur gegangen war, und allmählich sahen seine Augen die großen Erziehungsfehler in seiner glücklichen Familie. Infolgedessen schwang er sich sogar seiner Frau gegenüber zu der Bemerkung auf: wenn man immer nur die äußere Ehre, immer nur sichtbare Vorteile im Auge hätte, dann ginge der moralische Halt, das sittliche Pflichtbewußtsein unter, und nun suchte er nachträglich Elfe dieses einzuimpfen, indem er ihr immer von Pflichten gegen die Gesellschaft, Pflichten gegen Gatten und Eltern schrieb.

Die Geheimrätin dagegen, so unsicher auch sie sich im Innersten fühlte, blieb bei den alten Ermahnungen, zeigte Elfe die „Aussichten“, die ihr die Zukunft böte, und erklärte ihr wiederholt, daß sie mehr als jede andere Frau berufen sei, ihrem Gatten den Weg zu einer solchen Höhe der Staatscarriere zu ebnen, daß neben dem befriedigten Ehrgeiz alle anderen etwa unerfüllten Wünsche zurücktreten würden.

Aber Elfe blieb solchen Vorstellungen gegenüber völlig kalt.

Von dem letzten folgenschwersten Schritte hatte sie bisher nur die Rücksicht auf die Ihren zurückgehalten, aber sie hatte gehofft, bei ihnen liebevolle Teilnahme und Verständnis zu finden. Sie erwartete, daß man auch ihre Herzensnot in Betracht ziehen und es erwägen möge, ob alles, was sich gegen ihren Entschluß sagen ließ, wohl ausreichend wichtig sei, um sie zu einem langen, trostlosen Leben in den Fesseln dieser unbefriedigenden Ehe zu verurteilen. Immer regte sich dabei ein Gefühl der Hoffnung in ihrem Herzen: die Liebe ihrer Eltern zu ihr würde stärker sein als die Menschenfurcht und sie würden vielleicht doch ihrem unglücklichen Kinde die Arme öffnen.

Statt dessen sprachen diese so sehnlichst erwarteten Briefe nur von der Gesellschaft und den Pflichten gegen ihre Sittengesetze, kein Wort von der Pflicht gegen sich selbst, keines von der Pflicht gegen die höchste Moral, die Wahrhaftigkeit, auch kein Wort von dem Rechte, nach dem ihr ganzes Innere schrie, von dem Rechte jedes Lebenden auf Glück. Ihr Herz konnte verkümmern und verdorren was that’s, wenn mir der äußere Anstand gewahrt wurde! Und den Excellenzenrang stellte ihr die Mutter in Aussicht als Ersatz für ein Leben, das des Lebens erst wahrhaft wert wäre! Jawohl, einmal war das der Köder gewesen, um dessentwillen sie Jugend und Freiheit hingeworfen, um dessentwillen sie aus das Wertvollste im Leben verzichtet hatte!

Sie warf erregt die Blätter fort, nachdem sie mit dem Lesen fertig war. Das freudige Aufleuchten ihrer Augen, mit welchem sie dieselben begrüßt halte, war verschwunden; ein entschlossener Zug lag nun auf ihrem blassen Gesicht. Sie dachte an Lüdeke.

„Mir hilft niemand,“ sagte sie, „so will ich mir selbst helfen. Er soll sehen, daß das Fegefeuer der Reue und der Selbstvorwürfe mich geläutert hat und ich seiner und eines besseren Daseins würdig bin!“

Wenige Tage darauf schreckte eine Depesche, von Walden aufgegeben, die Geheimrat Brücknerschen Eheleute aus dem Beruhigungszustande, in welchen sie sich gegenseitig nach Absendung ihrer Ermahnungen an Else eingelullt hatten. Dieselbe enthielt nichts als die Bitte an den Schwiegervater, sofort nach Berlin zu kommen. Gerade das Unausgesprochene erfüllte die beiden nun mit der qualvollsten Angst, und trotzdem sich die Frau Geheimrätin unendlich davor fürchtete, daß außer ihnen noch eine Person, und wäre es auch nur der Telegraphenbeamte, die Sachlage dadurch erfahren müsse, bat sie doch, ebenfalls durch den Draht, um sofortige nähere Mitteilung, ob Elfe erkrankt sei. Die Antwort lautete ganz lakonisch: „Elfe gesund, aber nicht mehr bei mir.“

Diesem Faktum gegenüber, das in seiner Schwere ihre schlimmsten Befürchtungen übertraf, hielt die Fassung des Ehepaares nicht stand. Die Geheimrätin war über das „entartete Kind“ völlig zerbrochen, weinte Ströme von Thränen und ließ sogar die Rücksicht auf ihren Gatten außer acht, der wortlos, in stummer Verzweiflung vor sich hinbrütete.

Allmählich tauchte dann die Hoffnung in ihr auf, es würde dem Vater gelingen, Elfe zur Umkehr zu bewegen und sie zu ihrer Pflicht zurückzuführen. Nun drang sie in ihn, sofort die Reife anzutreten, um all dem Kummer sobald als möglich ein Ende zu machen.

Als er fort war, fiel ihre künstlich zur Schau getragene Sicherheit freilich stark zusammen, und die Tage, die sie in Erwartung ihres Gatten zubrachte, waren voll Qual, Angst und Schmerz. Sie nahm keinen Besuch an, ging nicht aus dem Hause, und indem sie sich vorstellte, welche Deutungen diese Affaire wohl erfahren würde, verhärtete sie ihr Herz immer mehr gegen ihr Kind, das es verschuldete, wenn sie und ihre Verhältnisse wieder einmal zum Stadtgespräch würden. Sie bereitete sich aufs schlimmste vor, versuchte jede Hoffnung auf ein günstiges Resultat zu unterdrücken und war dann doch, als ihre Gatte, merklich gealtert in diesen Tagen, wieder vor ihr stand und „Alles vergebens!“ ihr zuflüsterte, so fassungslos darüber, als hätte sie mit Sicherheit einen besseren Ausgang erwartet.

Erst nach Stunden beruhigte ihr Gemütszustand sich so weit, daß sie seinen ausführlichen Bericht anhören konnte, und der enthielt denn auch noch viel unerwartet Schlimmes.

Ueber die Entfremdung zwischen sich und Else hatte Walden gar kein Wort verloren, er erzählte nur von dem in den letzten Monaten immer entschiedener auftretenden Verlangen seiner Frau, sich gerichtlich voneinander zu scheiden, einem Verlangen, dem er stets aufs energischste entgegengetreten war und dem er auch, als sie letztens kniefällig ihn gebeten, nur ihrer Eltern willen in eine friedliche Lösung zu willigen, kein Zugeständnis gemacht hatte.

Danach fand er, als er von einer kurzen Abwesenheit in Amtsgeschäften heimkehrte, Elfe nicht zu Hause und der Diener bestellte an ihn: daß die gnädige Frau die längst besprochene Reise angetreten hätte. Näheres darüber enthielte der zurückgelassene Brief.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 879. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0879.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2016)