Seite:Die Gartenlaube (1896) 0892.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


Die heilige Gertrud auf der Gertraudtenbrücke zu Berlin. (Mit Abbildung.) Zur Zeit der höchsten städtischen Blüte von Kölln-Berlin entstanden draußen vor den Mauern der Stadt auf dem Sandhügel jenseit des linken Spreearms in der Gegend des heutigen Spittelmarkts Kloster und Kirchlein, die der heiligen Gertrud geweiht wurden. Die Brücke, welche von Kölln am Wasser hinüber führte, und das Thor, welches die Brücke sperrte, erhielten nach der Schutzheiligen der frommen Stätte ihren Namen. Schon damals vermittelten sie den Hauptverkehr durch die alte Stadt. Langsam hat sich von Frankreich über Belgien der Kult der hohen Frau auch in niederdeutschen Landen ausgebreitet.

Gertrud, die Tochter Philipps von Landen – geboren 626, gestorben 659 – war schon bei ihren Lebzeiten als Aebtissin des fränkischen Klosters Nivelles ein Muster aller christlichen Tugenden für die Gläubigen gewesen. Besonders ihre Güte und Barmherzigkeit waren weit und breit gepriesen. Kein Armer ging unbeschenkt von ihrer Thür, kein Hungernder und Dürstender ungelabt, ihrem heißen Gebet soll es sogar gelungen sein, die Aecker von der Plage der Feldmäuse zu befreien. Mancher Zug, der einst der heidnischen Freia eignete, mag in deutschen Gauen auf sie übergegangen sein. Besonders galt sie als Schutzpatronin der Reisenden, der Fahrenden Leute und Wanderburschen. Jetzt, da von Jahr zu Jahr ein Stück des alten Berlins verschwindet, um den Anforderungen des modernen Riesenverkehrs Platz zu machen, sucht man wenigstens in der künstlerischen Ausschmückung der neuen Gebäude so weit als möglich die Erinnerung an die Vergangenheit lebendig zu erhalten. Dem gewaltigen Strom von Menschen und Wagen, der zwischen dem Alexanderplatz und den westlichen Stadtteilen über den Spittelmarkt hin und her flutet, genügte die alte Gertraudtenbrücke schließlich in keiner Weise mehr. An ihre Stelle ist in der letzten Zeit ein neuer Monumentalbau getreten. Ganze Häuserviertel mußten fallen, um die Straßenverbreiterung zu ermöglichen. Rastlos wälzt sich das Getümmel der Großstadt über die alte Spreestraße, und auf das Gewimmel von hastenden Menschen und Tieren, von Pferdebahnen und Omnibussen, von Droschken und Equipagen sieht mit mildem Lächeln die heilige Gertrud hinab. Siemerings Meisterhand hat sie im Bildwerk dort festgebannt. Die prächtige Gruppe, welche wir heute unseren Lesern vorführen, krönt das Mittelstück des nördlichen Brückengeländers. Die fromme Frau ist in der Tracht einer Klosterfrau des 7. Jahrhunderts dargestellt, wie sie Veit Stoß schon für seine bekannte Betende Maria anwandte. Ein wandernder Bursch hat bei ihr Labung gesucht und gefunden. Sie beut ihm den Willkommstrnnk, den er, das linke Knie vor der hohen Spenderin beugend, soeben an die Lippen setzt. Sein Wams, die zerrissenen Schuhe, der Knotenstock, der zerschlissene, mit der Feder geschmückte Hut sind mit größter Naturtreue gebildet. Ein komischer Zug kommt in das Ganze durch die Gans – Gott weiß, wie sie in den Besitz des Vaganten gelangt ist! – welche den Augenblick zur Flucht zu benutzen sucht, durch die Leine am Fuß aber zurückgehalten wird. An die Ueberlieferung knüpfen die vielen Mäuse an, welche der Künstler, zum Teil rein ornamental, an seinem Werke angebracht hat.

Die Gruppe ist ungefähr 3 Meter hoch und ist in Lauchhammer vortrefflich in Bronze gegossen. Prof. Siemering hat dort an Ort und Stelle das Wachsmodell gefertigt und die Ausführung überwacht, so daß von den Feinheiten des Originals bei der Reproduktion kaum etwas verloren gegangen ist. Das Denkmal gereicht der Reichshauptstadt zur Zierde.

Die Statue der heiligen Gertrud auf der Gertraudtenbrücke zu Berlin.
Nach einer Aufnahme von Hugo Rudolphy in Berlin.

Unter dem Siegel der Verschwiegenheit. (Zu dem Bilde S. 881.) F. Simm, der bekannte glückliche Schilderer der früher als so durchaus „unkünstlerisch“ verrufenen „Biedermeierzeit“, führt uns hier ins Vorgemach des Tanzsaals, wo eine eilige Schöne notgedrungen noch das Festmachen ihrer Bänderschuhe erdulden muß. Aber die kurze Weile wird ihr versüßt: eilig und geheimnisvoll wispert ihr eine von drinnen herausgehuschte Freundin die große Neuigkeit ins Ohr, welche ihr erfinderischer Verstand aus untrüglichen Kennzeichen ergattert hat. Was mag es sein: Courmacherei, Verlobung oder – Skandal? Die interessierten Mienen verraten’s nicht; nur so viel ist gewiß: zu fürchten braucht die schöne Große nichts von dem kommenden Ereignis, das sieht man ihrer Haltung deutlich genug an! Die ganze Umgebung sowie die Figuren der beiden Mädchen haben den ungemein treuen Zeitcharakter, welcher den Bildern Simms neben ihrem künstlerischen Wert eine besondere Anziehung verleiht. Bn.     

Rettung Schiffbrüchiger vom sinkenden Wrack. (Zu dem Bilde S. 888 und 889.) Es wehte orkanartig von Westen her. Durch die schweren rollenden Wogen des Atlantischen Meeres arbeitet sich, weißen Gischt auftürmend, der Postdampfer „Normannia“. Die Passagiere, soweit sie nicht seekrank sind, blicken auf das grandiose Schauspiel des wütenden Meeres, froh, daß sie, ein tüchtiges Schiff unter den Füßen habend, sorglos dem Unwetter trotzen können. Tags darauf legt sich der Sturm, nur die hohe Dünung läßt den Riesendampfer schwer rollen. Da meldet der Ausguck ein Wrack am Horizonte. Bald erkennt man auch an der zusammengebundenen Flagge das Notsignal. Dort sind Menschen in Gefahr! Der Kapitän läßt auf das Fahrzeug abhalten. Wohl zweifelt er an der Möglichkeit der Rettung bei einem derartigen Seegange, aber Menschenpflicht gebietet ihm, das schwierige Werk zu wagen. Kühn braust der Dampfer heran, dann stoppt die Maschine, während weiße Wolken zischend den Ventilen entströmen. Das Signal „Wir kommen euch zu Hilfe!“ flattert am Vormast, und schwer rollt das mächtige Schiff in den Wellenbergen und -Thälern.

Das sinkende Wrack bietet ein trostloses Bild dar. Groß- und Besanmast sind über Bord gegangen. Ein am Stumpf des letzteren gehißtes Notsegel hält das Fahrzeug noch gegen die sich anbäumenden Wogen. Darüber weht die englische Flagge. Am Hinterteil des Schiffes haben sich einige Menschen zusammengedrängt. Auf dem Dampfer wird es indessen lebendig. Alle Seekrankheit ist vergessen, und die Passagiere drängen sich an die Reiling. Der Kapitän mustert seine Mannschaft: „Freiwillige vor!“ ruft er und bald springt ein Dutzend wackerer Männer, geführt vom ersten Offizier, in das große Rettungsboot; dasselbe wird in See gelassen und, trotzdem es ein paarmal schwer gegen die Schiffswand prallt, kommt es doch zu Wasser. Jetzt legen sich die Leute in die Riemen. Bergwärts und thalwärts bahnt sich das Boot den Weg zum Wrack. Es gelingt, Leinen hinüberzuwerfen. Die Schiffbrüchigen drängen einander. Jeder will der erste von Bord des unglücklichen Fahrzeuges sein, aber mit lauter Stimme ruft der erste Offizier: „Frauen und Kinder zuerst!“ und mahnt dabei, ruhig zu bleiben und nicht durch Ueberhasten das Rettungswerk zu gefährden. Ein ohnmächtiges Weib und ihr kleines Kind sind die ersten Geretteten. Dann klettert die Mannschaft in das Boot, ihr folgt als letzter der Kapitän des wracken Schiffes.

Wieder arbeiten die Leute mit aller Kraft an den Riemen. Bald ist das Boot längseit des Dampfers. Ein brausendes Hurra tönt der braven Mannschaft und den Geretteten entgegen, welche nun unter großen Schwierigkeiten an Bord geborgen werden. Dann hören die Ventile auf zu summen, die Maschine arbeitet vorwärts. Der Dampfer entfernt sich schnell von der Unglücksstelle. Das Wrack treibt noch eine halbe Stunde hilflos umher, dann schlagen die Wellen darüber zusammen und begraben es in der Tiefe. Hans Bohrdt.     


Inhalt: Zum Jahreswechsel. Gedicht von Ernst Lenbach. Mit Randzeichnung. S. 877. – Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (Schluß). S. 878. – Unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Bild. S. 881. – Erfinderlose. Salomon de Caus. Von Rudolf von Gottschall. S. 882. – In falscher Stellung. Ein Mahnwort an deutsche Lehrerinnen von Helene Adelmann-London. S. 884. – Ein Winteridyll im Hochgebirg. Bild. S. 885. – Turandots Polterabend. Erzählung von Hans Arnold (Schluß). S. 887. Mit Abbildungen S. 887, 890 und 891. – Rettung Schiffbrüchiger vom sinkenden Wrack. Bild. S. 888 und 889. – Blätter und Blüten: Ein Winteridyll im Hochgebirg. Von N. H. Greinz. S. 891. (Zu dem Bilde S. 885.) – Die heilige Gertrud auf der Gertraudtenbrücke zu Berlin. Mit Abbildung. S. 892. – Unter dem Siegel der Verschwiegenheit. S. 892. (Zu dem Bilde S. 881.) – Rettung Schiffbrüchiger vom sinkenden Wrack. Von Hans Bohrdt. S. 892. (Zu dem Bilde S. 888 und 889.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 892. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0892.jpg&oldid=- (Version vom 7.6.2023)