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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Abendbrot eingekauft hatten. Auch hierbei zeigte sich eine merkwürdige Verschiedenheit in der Art, wie sich der Einzelne mit den neugierigen oder lachenden Gesichtern der Vorübergehenden abfand. Doktor Bardolf ließ die mit Bierflaschen gefüllten Seitentaschen seines Rockes mit einer gewissen herausfordernden burschikosen Fröhlichkeit hin und her baumeln; Hans Mohr zeigte eine große Geschicklichkeit darin, selbst umfangreichere Wurstpakete unter dem Rock zu verbergen, und Doktor Hans Ritter trug ein oberflächlich in Packpapier gewickeltes Graubrot mit derselben gelassenen Ruhe unter dem Arme, wie er an manchem Nachmittag einen Pack dickleibiger Bücher für seine philosophischen Studien von der Bibliothek quer durch die Stadt schleppte. Auch schien es unter den Freunden längst eine selbstverständliche Sache, daß er allemal das schwierigste und sozusagen genierlichste Paket auf sich nahm.

Das Haus, in welchem die drei Hansebrüder wohnten, lag und liegt noch weit draußen am äußersten Nordende der Stadt, zwischen dem Armenviertel und den weitläufigen Anlagen der Universitätskliniken und Krankenhäuser. Es war wohl eigentlich nur aus Versehen stehen geblieben, als man die übrigen seinesgleichen da draußen ankaufte und wegräumte, um Platz für die Krankenhäuser zu schaffen. Das Anwesen gehörte damals einer frommen Stiftung; von dieser hatte es die Witwe eines städtischen Beamten gemietet, deren Pension nur um ein paar hundert Mark den mäßigen Pachtpreis überstieg. Es war eine ältliche, zuweilen etwas schwerhörige Dame, sehr lang, sehr hager und immer schwarz gekleidet, mit Namen Margarete Klämmerlein. Ohne fremde Beihilfe pflegte sie den Garten, den sie im altmodisch kleinbürgerlichen Geschmack bestellt hatte, zur Hälfte mit Salat, Petersilie, Zwiebeln und Lauch, zur anderen Hälfte mit Gras zur Bleiche, eingefaßt von Veilchen, Levkojen, Feuernelken, Heliotrop und anderen bewährten Blumen von starkem Duft; auch einige Dutzend Himbeersträucher waren da, und ein paar alte Kirschbäume mit spätreifenden glashellen Früchten von würzig sauerem Geschmack. Ringsum längs der Gartenmauer aber züchtete sie alljährlich einen dichten Wall von Kapuzinerkresse, mit runden, fast tellergroßen Blättern und unzähligen Blüten in den wunderbarsten Farben, gesprenkelt und einfarbig, vom lichtesten Hellgelb bis zum purpurschimmernden Lila und sammetweichen Karmin. Auf diese Pfleglinge schien sie besonders stolz, man sah sie stundenlang in stiller Andacht an ihnen entlang wandeln. Da man jene hübsche und blütenreiche Schlingpflanze in der dortigen Gegend auch Klämmerchen nennt, so lag für unbeschäftigte Geister die Beziehung auf den Namen der Pflegerin verführerisch nahe und zeitigte eine Menge von Rätseln, die meist mit den Worten anfingen „Was ist für ein Unterschied –,“ und um deren Vermehrung sich besonders die jungen Assistenzärzte aus dem benachbarten Krankenhaus mit betrübendem Fleiße bemühten.

Noch sorgsamer als ihre Blumen pflegte Frau Klämmerlein alle Andenken an ihre eigene Blütezeit; die Stuben ihrer Mietsherren und besonders ihre eigene Wohnstube waren mit unzähligen Etageren, Glasrähmchen und Wandbrettchen geschmückt, welche Schattenrisse, Daguerreotypien und verblichene Photographien auf geschnitzten Ständern, Porzellanfigürchen, Väschen und Trinkbecher mit Landschaftsbilderchen trugen. An jede dieser Kleinigkeiten knüpfte sich die Erinnerung an irgend ein Ereignis aus der Verwandtschaft, der Mädchenzeit und besonders der zwölfwöchigen Brautzeit der Besitzerin, und es war sehr gefährlich, eine davon zu beschädigen oder aber zu bewundern; denn alsdann begann sich das Rad ihres Gedächtnisses zu drehen und hörte nicht auf, bis es in endloser Rede, unter vielen Seufzern den ganzen Katalog ihrer Erinnerungen abgehaspelt hatte.

Nur an einer Stelle schien eine Störung im Uhrwerk zu bestehen, und zwar merkwürdigerweise da, wo das Gedächtnis einer Mutter sonst am sorgfältigsten arbeitet. Frau Klämmerlein hatte eine Tochter gehabt – nach Aussage älterer Mitbürger sogar eine sehr ansehnliche und liebenswürdige Tochter; aber unter den Photographien und Schattenrissen fehlte das Bild dieser Tochter, in den Erinnerungsreden huschte es kaum einmal verstohlen vorüber, und nur vermutungsweise ließ sich erkennen, daß hier eine jener trübseligen Familientragödien vorlag, die mit einer von der Mutter nicht gebilligten Heirat anfangen, um dann nach einem jahrelangen Wechselspiel von Sturm und mattem Sonnenschein in den graugrämlichen Landregen beiderseitiger Resignation zu zerfließen. Die Tochter war dem Mann ihrer Wahl in eine weit entlegene Stadt gefolgt, dort war sie in der Enge eines dürftigen Haushaltes unter den Alltagssorgen für Küche, Kind und Mann eingerostet wie die Mutter daheim in dem ihrigen; schließlich war sie gestorben, und wenn sich in den letzten irdischen Vorstellungen ihrer müden, abgehetzten Seele mit den sorgenvollen Wünschen für ihr einziges Kind noch ein wehmütiger Gruß an die Mutter verband, so hatte ihr Mann jedenfalls in der Todesanzeige nichts davon merken lassen. Vor der Welt bestand keinerlei Verkehr mehr zwischen der alten Frau und der Familie ihrer Tochter; was sie selber dabei empfand, verschloß sie sorgsam, mit der ganzen Zähigkeit, die den Frauen im Grollen wie im Lieben gegeben ist.

Außer der Wohnstube, die sie selber fast nie „bewohnte“ und eigentlich nur als Museum ihrer Vergangenheit zu betrachten schien, hatte Frau Klämmerlein im Erdgeschoß noch ein sehr geräumiges Schlafzimmer und einen Küchenanbau zur Verfügung. Eine nach ländlicher Art steil und schmal angelegte Treppe endigte mit einem winzigen Vorraum im oberen Stock, wo die drei Zimmer lagen, von deren Mietsertrag sie vornehmlich lebte und die zur Zeit von den drei Hansebrüdern besetzt waren. Links, in „Bremen“, hauste Doktor Hans Bardolf mit seinen Aufsatzheften und Klassikern, rechts lag „Lübeck“, das von Hans Mohr beherrscht wurde und immer ein wenig nach Bartpomade duftete, und geradeaus kam man nach „Hamburg“. Es war das größte der drei Zimmer und wurde außer als Wohnung des dritten der Freunde auch als Ort ihrer gemeinsamen Abendmahlzeiten, Zechereien und Plauderabende benutzt, welche sie als „Hansetage“ zu bezeichnen liebten. Die Zimmer waren, abgesehen von der störenden Menge zarter Andenken, leidlich ausgestattet und sehr billig; dafür mußten aber ihre Bewohner auch fast vollkommen auf das verzichten, was man Bedienung nennt. Alle paar Tage kam eine Stundenfrau, um die gröbere Hausreinigung zu erledigen, im übrigen besorgte Frau Klämmerlein in den Morgenstunden, wo ihre Mietsherren abwesend waren, selber Betten, Kohlenkasten und Zimmer, stäubte Bücher und Andenken ab und füllte die dazu bestimmten Gefäße mit frischem Wasser bis zum Rande.

Damit hatte aber ihre hausfrauliche Fürsorge auch ein Ende. Wenn sie mittags in ihrer Küche ein einsames Mahl bereitet und verzehrt und ihren Garten gründlich besichtigt hatte, vertauschte sie das abgetragene schwarze Hauskleid mit einem fast ebenso abgetragenen schwarzen Ausgehkleid aus Seide, welches vor Alter schon wieder anfing, modern zu werden, und trat ihren üblichen Besuchsgang zum Kreuzkonvent an, einem klösterlichen Versorgungshaus für würdige alte Damen, welches in der Stadt unter dem Namen „Lavendelkiste“ bekannter ist. Dort verbrachte sie den Rest des Tages mit gleichaltrigen und gleich erinnerungsseligen Freundinnen, und wenn sie abends heimgekehrt war, hüllte sie sich völlig in Schweigen und Taubheit. Sie war dann unempfindlich für etwaigen ruhestörenden Lärm über ihren Häupten, aber auch für jedes Anliegen. Am wenigsten hätte sie sich dazu verstanden, außer dem täglichen Frühstück irgend etwas zur Beköstigung ihrer Mietsherren beizutragen, und das einzige geistige Getränk, das sie in dem kleinen Keller des Hauses bewahrte, war wiederum ein unverletzliches Andenken, nämlich eine Flasche Kometenwein, achtzehnhundertelfer Rüdesheimer, die ihr ein weinkundiger und vaterlandsliebender Patenonkel zur Feier ihres just auf den ersten Gedenktag der Schlacht von Leipzig fallenden elften Geburtstages verehrt hatte. Sie hatte das edle Naß durch alle Wüsten und Dürren des Lebens hindurch gerettet, und es schien, daß sie es nun aufsparte, um es mit ins Grab zu nehmen.


2.

Das Zusammenleben der drei Hansebrüder im Hause der Frau Margarete Klämmerlein dauerte nun ohne nennenswerte Störung bereits drittehalb Jahre. Sie waren alle drei verwaist; Bardolf und Ritter waren ganz ohne nähere Verwandte, Mohr besaß noch irgendwo im Ukermärkischen eine verheiratete Stiefschwester und ein paar Tanten, wohlhabende Leute, mit denen er aber nur jeweils zu bestimmten Zeiten, meist einige Wochen vor dem Quartalsschluß, den Verkehr wieder aufzunehmen pflegte, und nicht immer mit dem von ihm gewünschten Barerfolg. Um sich aber in kurzer Zeit innerhalb der gesellschaftlichen und geselligen Kreise der Stadt eine behagliche Stellung zu erstreben,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_010.jpg&oldid=- (Version vom 4.2.2017)