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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

war. Die alte Frau tastete sich hinüber zu diesem Thürchen und horchte, es war ihr auch, als hörte sie das Mädchen gehen. Sie rief also: „Engelchen, Goldköpfchen, bist du noch wach? Kann ich noch 'mal zu dir kommen?“

Keine Antwort.

Seufzend kleidete sie sich aus und suchte ihr Bett auf. Was konnte es nur sein? Sollte sie sich zu Herzen genommen haben, daß der Kerkow nur einmal mit ihr getanzt hatte? „Lieber Gott, na ja, man ist so thöricht, wenn man jung und verliebt ist. Na, das ist wie Regenschauer im April – sie wird wohl schlafen, das Kind, und morgen ist’s wieder anders mit ihm!“

Es mochte gegen drei Uhr sein, da erwachte die alte Frau. Es war ihr, als habe jemand gerufen, und als sie sich aufrichtete vom Lager, da hörte sie ein ganz unvernünftiges wildes Schluchzen, das kam von jenseit der Wand, wo Aennes Bett stand.

„Aenne!“ rief sie und pochte mit den geballten Händen gegen die Wand, „Goldherzchen, Kind, was fehlt dir?“

Da ward es still, und wieder keine Antwort. Das war kein Aprilregen, das war der Sturm, der Blumen vernichtet und Bäume entwurzelt, das war die Todesstunde von Aenne Mays junger Liebe. – – –

Und drüben im dritten Stockwerk des Schlosses ging nach Schluß der Soiree Heinz von Kerkow in seinen beiden Zimmern auf und ab. Weinen thut kein Mann um so etwas, aber weh war es ihm doch ums Herz, bitter weh! Er konnte das bleiche Gesicht, die starren fragenden Augen nicht vergessen, mit denen sie ihn angeschaut ob seines unbegreiflichen Wesens. Während sie sang, hatte er sich in einem Nebenzimmer aufhalten wollen, aber wie von Ketten gehalten war er geblieben. Und wie hatte sie gesungen!

     „O, du purpurner Glanz der sinkenden Sonne –“

Diese Sehnsucht in der Stimme, diese Freude auf dem reizenden Gesicht! Sie hatte ihn nicht angesehen dabei, keine Spur von Koketterie war in diesem Mädchen, aber er wußte ja, daß jedes Wort ihm galt. Und wie lieb sah sie aus in dem weißen Kleide, wie sicher und anmutig war ihr Auftreten, die tiefe Verneigung vor der Herzogin! Die ganze andere Bande, wie er sich respektlos ausdrückte, war nichts gegen sie, trotz Grafen und Freiherrenkronen. Wie das Souper begann, wie sie lächelnd dastand, um ihn zu erwarten, laut ihrem Versprechen von heute morgen, wie er dann zu ihr kam mit dem Imbiß und seine Rolle zu spielen begann, formell, verstimmt, wie er von der Hitze im Saale erzählte und daß er froh sei, wenn die Sache vorüber wäre, daß er überhaupt das Leben hier satt habe und alles daran setzen wolle, um ein Kommando nach Berlin zu bekommen, etwa an die Centralturnanstalt, denn es sei ja in diesem Wurstnest einfach zum Rasen langweilig, da hatte sie ihn angestarrt, als fürchtete sie, er sei wahnsinnig geworden.

„Sagen Sie doch selbst, Fräulein May“ –Fräulein May hatte er sie genannt - „ob es nicht wahr ist! Na ja, die Gegend – die Gegend ist ganz nett, aber diese ewige Natursimpelei! Und dann die schrecklich spießbürgerlichen Verhältnisse überall! Im übrigen fühle er, daß er sie ermüde mit seiner Unterhaltung, auch müsse er sich einmal um die Ribbeneck bekümmern und um seine Tante.

Damit hatte er sie verlassen, wobei er verstand, sie nicht anzusehen, und hatte sich mit krampfhafter Ausdauer der Toni Ribbeneck gewidmet. Aber einmal sah er doch zu ihr hinüber, es war, als zöge etwas seine Blicke dahin. Sie saß auf einem der mit rotem Seidendamast bezogenen Stühle im Empirestil, an der weißen mit Goldornamenten geschmückten Wand des kleinen Tanzsaales, und da wollte sich ihm beinahe das Herz umdrehen. Das Gesicht weiß wie die Wand, die Augen verständnislos, groß und flehend zu ihm hinüber gerichtet, um den Mund ein Zucken wie von verhaltenem Weinen – – das würde er nie wieder vergessen, nie! So ähnlich war ihm zu Mute gewesen, als er sein erstes Reh erlegte. Er hatte das Tier nur krank geschossen und fand es nicht weit von der Schußstelle im Verenden, das hatte ihn angesehen mit dem nämlichen Blick wie Aenne. Scheußlich, scheußlich kam er sich vor – lieber Himmel, wenn man nur einen Ausweg wüßte! Aber wie denn, wo denn – Nein – lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende – er durfte sich ihr nicht nähern!

Aber alle diese gewaltsamen Versuche, sich Vernunft einzureden, vermochten es doch nicht zu hindern, daß er in Träumereien sich verlor, in süße und hoffnungsreiche Träume, wie die nie zu entmutigende Jugend sie träumt. Ach, vielleicht – vielleicht ginge es doch noch, wenn sie warteten. Vielleicht gewinnt er das große Los – vielleicht findet sich ein Erbonkel – vielleicht – –. Heute früh hatte er es noch nicht so klar, so deutlich gefühlt wie jetzt, wo er der Unmöglichkeit ihres Besitzes gegenüberstand, wie sehr, wie tief er sie liebte!

Aenne! Aenne, ich kann dich nicht lassen! klang es in ihm, ich will dich nicht lassen!

Er fuhr empor aus seinem Brüten, draußen hatte es geklopft. Auf sein „Herein!“ trat einer der herzoglichen Lakaien ins Zimmer und bestellte eine Empfehlung von Frau von Gruber, und wenn der Herr Lieutenant noch nicht zu müde wäre, würde sie sich freuen, ihn heute abend noch sprechen zu können.

Er warf einen verwunderten Blick auf die Uhr – es war ein Viertel vor Eins. Dann sagte er, er werde kommen, knöpfte die aufgerissene Uniform wieder zu und stieg die Treppe zum zweiten Stock hinunter, wo, just unter seinen Zimmern, die Appartements der Hofdamen lagen.

Frau von Gruber, eine Cousine seines Vaters, war bereits im bequemen Hauskleide, eine alte Dame von sechzig Jahren, die ein wenig vornübergebeugt ging und für gewöhnlich einen ziemlich hochmütigen Ausdruck zur Schau trug, der aber in Anbetracht ihrer Stellung als Oberhofmeisterin Ihrer Durchlaucht wahrscheinlich notwendig war. Sie mußte ehemals sehr schön gewesen sein, hatte noch heute eine kerzenschlanke Gestalt, ein feines Gesicht, von grauen Haaren umrahmt, die zu dem frischen Teint gut kleideten, der etwas künstlich aufgebessert schien. Sie hatte eine stürmische Ehe hinter sich, ihr Mann war der unverbesserlichste Spieler gewesen. Von seinem großen Vermögen, von den prachtvollen Besitzungen ihres Gatten – er übernahm drei Rittergüter beim Tode seines Vaters – war nichts geblieben. Als der Krach kam, war sie einige vierzig Jahre alt und noch sehr schön, und nach dem Tode ihres Gatten, der plötzlich nach dem Zusammenbruch erfolgte – er starb in Monaco – trat sie die Stelle der Oberhofmeisterin bei der verwitweten Herzogin an, der sie nun seit zwanzig Jahren treu und tadellos vorstand. Kinder besaß sie nicht, interessierte sich aber aufrichtig für diejenigen, die in ihrer Verwandtschaft emporwuchsen und nicht eben das kleinste Interesse hegte sie für Heinz von Kerkow. Am liebsten stiftete sie, die doch so unglücklich in ihrer eigenen Ehe gewesen, Heiraten, und auf Heinz hatte sie es in dieser Beziehung schon lange abgesehen. Bis jetzt freilich waren ihm noch keinerlei derartige Bestrebungen von ihrer Seite aufgefallen, sie bekümmerte sich bisher nur insofern um ihn, als sie es gern sah, wenn er zuweilen in ihren dienstfreien Stunden zu ihr kam und etwas mit ihr „klatschte“. Er war dabei unendlich drollig, ging mit Feuereifer auf jedes angeregte Thema ein und band seiner verehrten Tante Christiane unglaubliche Dinge auf mit dem ehrlichsten Gesicht von der Welt. Zuweilen, wenn die Rede auf seine Mutter und die beiden verblühenden Schwestern kam, auf die ganze trostlose Misere seiner Lage, wurde er elegisch, und das war jedesmal der Zeitpunkt, wo sie sagte: „Junge, du mußt eine gute Partie zu machen suchen, weiter kann ich dir keinen Rat geben! Wenn ich nur eine wüßte, die reich und gut genug für dich wäre, aber heutzutage sterben die Erbinnen aus.

„Ich muß unter die Semiten gehen, Tante,“ antwortete er dann regelmäßig, „und ich bin überzeugt, du wirst, wenn sie einmal meine Frau ist, das ‚Veilchen‘ oder ‚Rebbeckchen‘ liebgewinnen.“

„Rede nicht so gottlos, Heinz! Das wäre das letzte!“

„Ach, teuerste Tante, in der Not frißt der Lieutenant – Fliegen.“

Heute abend, als sie ihn mit einem Scherze empfing, vermochte er nicht darauf einzugehen, merkte auch nicht, daß das Lächeln auf ihren Lippen nicht ganz ungezwungen war. Er küßte zwar aufmerksam die noch immer hübsche Hand, machte es sich in einem Fauteuil des ungemein herrlich ausstatteten Zimmers bequem und nahm ein Glas Schlummerpunsch aus ihren Händen entgegen, aber er blieb stumm.

„Was stimmt dich denn so schweigsam, Heinz,“ erkundigte sie sich, ihn etwas unruhig beobachtend.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_023.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2016)