Seite:Die Gartenlaube (1897) 035.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

zweiten, wie sie mit Stolz erklärte; die anderen mußten derweil im dunklen Eßstübchen warten, nur ihre Tochter durfte dabei sein und „helfen“, bis dann alles fertig war und die kleine Gemeinde hereingelassen wurde, um sich am Glanze der Lichtchen, am Tannenduft zu erquicken und die angeblichen Zeichen einer überaus frühreifen Weihnachtsfreude auf den Zügen des vier Wochen alten Christenfräuleins gebührend zu bestaunen. Für keines fehlte es an überraschenden Geschenken, das eigenartigste aber hatte Frau Klämmerlein dem Urenkelchen mitgebracht – die Flasche Achtzehnhundertelfer, mit ganz vom Alter geschwärztem rotgelbem Siegel und der verblichenen Aufschrift in altmodischer Kanzleischrift: „Meyner lieben Nichte Margarete zum elften Geburtstag, am ersten Denktage der glorreichen Völkerschlacht, auf daß sie sich daran labe, wann es ihr im Leben so recht glückselig und sorgenfrey zu Mute ist.“ Sie hatte nicht allzuviel Tage gehabt, an denen es ihr „so recht glückselig und sorgenfrey“ war, und wann es einmal war, hatte sie an die Flasche Kometenwein nicht gedacht; nun schenkte sie ihn an die Urenkelin mit der gleichen Widmung weiter.

Vater Bardolf meinte, eigentlich würde die Klausel am sichersten erfüllt, wenn Grete den Wein gleich jetzt tränke, und indem er das sagte, lächelte er herber, als es sich zu einem bloßen Scherz paßte. Alsbald aber blickte er wieder mit glückseligem Behagen um sich, und hernach, als man bei Punsch und Kuchen zusammen saß, sprach er Vieles von der Zukunft, mit dem alten hoffnungsseligen Idealismus. Seine jetzige Stellung berührte er nur flüchtig, gleichsam als ein Sprungbrett, von welchem ihm über kurz der Aufsprung zu einer höheren und weit reicher ausgestatteten Stellung an einer der großen Parteizeitungen glücken sollte; und es war aller Ehren wert, was er dann auf jener freieren Warte für das deutsche Volk alles zu thun und zu schreiben gedachte. In dem ehrlichen Kraftton der Ueberzeugung, mit dem er das vortrug, lag auch für andere etwas Ueberzeugendes, zum mindesten Ermutigendes, und wenigstens sein Weib hörte ihm vollkommen gläubig, mit leuchtenden Augen und verschämtem Stolze zu. Denn so groß das eitle Selbstvertrauen eines Mannes sein mag, es wird doch übertroffen und oft genug überdauert von einem ungleich reineren und rührenderen Gefühl, von dem Zuvertrauen des Weibes, das ihn wahrhaft liebt.

Frau Margarete Klämmerlein verstand am wenigsten von den Thatsachen, auf die sich die Zuversicht Bardolfs mit Recht oder Unrecht stützte; immerhin war sie alt genug und hatte genug Luftschlösser aufsteigen und einsinken sehen, um aller Hoffnungsseligkeit mit Mißtrauen zu folgen. Aber stärker als der Zweifel war diesmal in ihr der Wille, sich glücklich und beruhigt zu fühlen. Ihre Enkelin war ein geliebtes und beglücktes Weib, das Kind war ein süßer Engel, und diese beiden Lichter bestrahlten einstweilen alle dunklen Sorgenecken in ihrer sorgenmüden Seele. Als sie am dritten Weihnachtstage mit Hans Ritter wieder heimfuhr und der einzige Mitreisende auf einer kleinen Station den Waggon verlassen hatte, faßte sie die Hand ihres Gefährten und sagte: „Sie haben recht gethan daß Sie mir das Geld gaben, Herr Doktor. Damals hatt’ ich so meine Bedenken und Zweifel. Aber nun ist sie glücklich, und er ist ein so braver lieber Mensch, und an dem Kinde werden wir, so Gott will, noch viel Freude erleben. Sie hatten recht, und ich danke Ihnen nochmals!“

Hans Ritter nickte ihr freundlich zu und blickte in die weite weiße Landschaft hinaus. Er versuchte sich die Oede mit all den lieben und schönen Bildern zu beleben, die in diesen zehn Tagen an ihm vorübergezogen waren und die alle den Worten der alten Frau beistimmten. Aber statt dieser Bilder, die er nun schon drei- und viermal unterwegs in befriedigtem Erinnerungsaustausch mit ihr erneuert hatte, drängte sich immer wieder eines vor seine Seele, von dem er zu niemand gesprochen hatte: ein überheiztes, verräuchertes, schlecht tapeziertes Zimmer, in dem es nach bedrucktem Papier und schlechten Cigarren roch, mit unsaubern Regalen, baufälligen Stühlen und einem großen Doppelschreibtisch ausgestattet. Vor diesem Schreibtisch hatte Hans Bardolf gesessen. als er ihn am zweiten Tage seines Besuchs ohne Verabredung auf seinem Bureau aufsuchte; auf dem Tisch lagen zahlreiche Ausschnitte aus Zeitungen, auch ein paar lange gelbe und weiße Papierbogen, mit hektographierter Schrift, auf einer Seite bedeckt. Alle diese Papierfetzen und Streifen waren an kleine Blätter weißes Papier geklebt, die in Blaustift und Tinte allerhand Vermerke in Bardolfs großzügiger Handschrift trugen. Ein Kleistertopf mit großem Pinsel und eine Schere machten sich neben dem Tintenfaß breit. „Der Herr Doktor ist drinnen, aber er wird wohl wenig Zeit haben, er macht den Stoff für die nächste Nummer zurecht,“ hatte der junge Mann gesagt, der draußen hinter dem Ladentisch mit der Ueberschrift „Annoncen-Expedition“ mit einigen Kunden verhandelte. Und Hans Ritter erinnerte sich der Bestürzung, mit der Bardolf bei seinem Eintritt aufgefahren war und, errötend wie ein Mädchen eine große, vielfach angeschnittene Zeitung über den Tisch gebreitet hatte. er schämte sich seines Handwerks! Dann, während Bardolf mit ihm ein Stelldichein in der nächsten Wirtschaft verabredete, war ohne viel Anklopfen ein Herr im Pelzrock hereingekommen, lang, hager, noch ziemlich jung, mit kalten, scharfen Augen, der eine Zeitung in der behandschuhten Rechten trug und, ohne den Besuch zu beachten, im Flüsterton auf Bardolf einredete. Ritter sah, wie der Freund unter den strengen und bestimmten Vorwürfen des andern nur mühsam seine Fassung bewahrte, und er erkannte auch den Aufsatz, dem dessen Mißfallen zu gelten schien: es war ein von Bardolf verfaßter Leitartikel, in welchem gewisse kürzlich in einer anderen Industriestadt aufgedeckten Fälle rücksichtsloser Ausbeutung der Frauen- und Kinderarbeit besprochen und die Bekämpfung solcher Mißbräuche als eine besondere, naturgemäße Aufgabe des liberal gesinnten Bürgertums gefeiert wurde. Bardolf hatte ihm den Artikel tags zuvor mit großer Genugthuung vorgelesen und sich sehr über sein Lob gefreut. – –

Als er nachher mit dem Freunde durch die Neustadt gegangen war, in welcher weite Fabrikanlagen mit modernen, breiten Villenstraßen abwechselten, hatte Bardolf nach einem besonders protzig angelegten Hause mit dem Kopf hingedeutet: „Das Haus kannst du dir merken, da wohnt einer der größten Schleicher dieses Jahrhunderts. Du hast ihn ja vorhin auf meinem Bureau gesehen!“

Und als Ritter antwortete: „Wie ein Schleicher sah der Mann nun eben nicht aus,“ hatte Bardolf bitter lächelnd hinzugesetzt. „Das hat der Herr Assessor auch vor einem armen Zeitungsschreiber nicht mehr nötig, seit er mitten in unsere Hochfinanz hineingeheiratet hat. Und das schlimmste ist, daß er mit seinem Einfluß wirklich hier am Ort die maßgebende Person für unsere Sache ist. Er klettert auf der Leiter hinauf, aber ohne ihn fällt auch die Leiter um.“

Und dann hatte er Ritter einen Namen genannt, den dieser erst vor einem halben Jahre als Ueberschrift eines reich mit Lob gespickten Artikels in Bardolfs Zeitung gelesen hatte. Der Artikel war von Bardolf verfaßt. „Im Auftrage des Aufsichtsrates, verstehst du! Unsere Zeitung ist auf Aktien gegründet, er besitzt jetzt die Hälfte davon und die Dividende, auf die er rechnet, ist zunächst ein Landtagsmandat und ein Orden. – Ja, siehst du, lieber Freund, wenn man nur für sich zu sorgen hätte. Aber nur Geduld, ich bringe es schon weiter. … Und so lange nur Frau und Kind gesund bleiben und man selber gesund ist. … Denken wir an die Zukunft! …“

Damit war das Gespräch auf lieblichere Dinge gekommen …

Die Erinnerung hieran beschäftigte Ritter, während er mit der alten Frau von der Taufe heimfuhr. Draußen dehnte sich wieder weit und breit das verschneite Ackerland. Hier und da reckten neben dem Bahndamm Fichten und Birken ihre Kronen über den Schnee wie Wegweiser, die von einem überwachsenen, vergessenen Wege übrig geblieben sind. Ein Schwarm Krähen flog auf und strich krächzend in der Richtung nach den Vorbergen hin, die grauweiß am Horizont auftauchten. Die alte Frau war eingeschlafen. Leise legte Ritter ihr seine Reisedecke über die Knie. Sie strich im Halbschlaf mit den Fingern darüber, der weiche wollige Stoff schien ein Traumbild in ihrer Seele zu wecken.

„Das arme süße Kindchen,“ murmelte sie. „Nur immer recht weich betten, recht warm halten!“

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_035.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)