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Schmerzenskinder.
Eine Betrachtung für Eltern und Erzieher von Dr. Alfred Spitzner.

Herzerhebend ist es, den verschiedenartigen Regungen der begabten, geistig und körperlich gesunden Kinder nachzugehen, sie zu beobachten und erzieherisch zu behandeln; niederdrückend aber und oft auch ärgerlich scheint es zu sein, sich mit Unarten, Fehlerhaftigkeiten und krankhaften Zuständen aller Art abgeben zu müssen. Was ist darum natürlicher, als daß gerade diejenigen Kinder, welche der schärfsten Beobachtung, des gewissenhaftesten Verständnisses, der größten Geduld bedürfen, oft mit ärgerlicher Hast und unbarmherziger Strenge oder mit Gleichgültigkeit und kühler Zurückhaltung erzogen werden – die Schmerzenskinder! Es sei ferne, in allen Fällen einen Mangel an Elternliebe oder Liebe zu den Kindern überhaupt finden zu wollen, wenn das Sorgenkind in der Familie unzweckmäßig behandelt wird. Gerade weil die geängstigte Mutter, in ihrer unermüdlichen Liebe für ihr Kind, dessen Unglück oder Irrtum schwer empfindet, treibt sie Dasselbe entweder in ungeduldiger Hast an oder behandelt es mit schmerzlicher Resignation. In Bezug hierauf dürfte es vielleicht für denkende Eltern nicht ohne Interesse sein, sich von einem praktischen Schulmanne die häufigsten Erscheinungen auf diesem Gebiete vorführen zu lassen.

Wir beginnen unsern Gang bei denjenigen Erscheinungen die sich als eine gewisse auffällige psychische Zartheit kennzeichnen. Kinder, namentlich Knaben dieser Art, sind häufig der erzieherischen Einwirkung so unzugänglich, daß sie Eltern und Lehrer mit nicht geringen Sorgen erfüllen. Zum Glück sind diese in den meisten Fällen nicht allzu ernst zu nehmen, weil die krankhafte Empfindlichkeit nicht selten bei zunehmender Entwicklung des Selbstbewußtseins im höheren Kindesalter zu verschwinden oder wenigstens sich zu vermindern pflegt. Die größte Anzahl psychisch überzarter Kinder findet sich daher unter den Abc-Schützen, in der kleinen lieben Schar, welche die höhere Ausbildung ihrer Geisteskräfte eben begonnen hat. Gesunde Kinder, die gerade in die Schule eingetreten sind, pflegen sich mit einer gewissen Würde und Sorglichkeit um die Aufgaben und Pflichten zu kümmern, die das für sie gänzlich neue Schulleben in sich birgt. Anders die in Rede stehenden Sorgenkinder. Sie weinen und zittern, wenn die Stunde kommt, wo sie zur Schule gehen sollen. Aengstlich schmiegen sie sich in eine Zimmerecke oder sind nicht von der Mutter wegzubringen. Und das alles ohne eigentliche Ursache! Der Gedanke, von der Mutter, von zu Hause fortgehen zu müssen, reicht allein in solchen Kindern das seelische Gleichgewicht zu stören.

In der Schule sind sie gewöhnlich schüchtern, ungeschickt und interesselos. Am meisten macht ihnen die Oeffentlichkeit der Klasse zu schaffen. Die Schule ist ja ein Staat im kleinen, und die Eigenschaften, wie auch die Leistungen des einzelnen Kindes sind in gewisser Hinsicht der öffentlichen Vergleichung, Beurteilung und Bewertung ausgesetzt. Hieraus entspringt ein zwar scharfer, aber doch gesunder Luftzug, der zur Bildung des Charakters mit Hilfe der Selbsterkenntnis, der Selbstbeherrschung und der Selbstveredlung unentbehrlich ist. Vielen Kindern geht es jedoch mit ihm wie mit dem scharfen Gebirgswind. Er ist ihnen zu rauh, und das oft auch noch dann, wenn der Lehrer alles thut, um die natürliche Strenge des auf Wahrheit und Gerechtigkeit begründeten Schullebens nach Maßgabe der Eigenart des einzelnen Kindes zu mildern. Einem tüchtigen Lehrer, der in den kindlichen Seelen zu lesen versteht, gelingt es allerdings in vielen Fällen, das Selbstbewußtsein der überzarten Schulkinder nach und nach so zu stärken, daß die kleinen Blumen im Schulgarten ihre Köpfchen und Aermchen kräftig heben und strecken, um im frischen und fröhlichen Wachstum und Blühen des Geistes mit den andern den Wettstreit zu versuchen.

Aber in manchen Fällen ist alle Kunst umsonst. Es sind dem Verfasser Kinder bekannt, die während ihrer ganzen Schulzeit stets mit einer gewissen stumpfen Empfindlichkeit zu kämpfen haben, die ihnen die Freude am Unterricht und am Lernen nimmt. Unter ihnen befinden sich solche, welche sogleich in eine unerklärliche ablehnende, ärgerliche oder auch gedrückte Stimmung verfallen, wenn es sich um ihre Person handelt. So wird z. B. ein 13jähriger Knabe, dessen Leistungen mit zu den bessern gehören, gleichwohl stets eigentümlich unangenehm berührt, wenn er aufgerufen wird, um etwa eine von ihm gelieferte schriftliche Arbeit zu besprechen oder zu verbessern. Die Folge ist gewöhnlich die, daß er nach einigen Fragen keine korrekte Antwort mehr erteilen kann. Dann ist mit ihm nichts mehr anzufangen, und er sitzt 10 bis 15 Minuten lang in dumpfem Hinbrüten in seiner Bank. Allmählich erst beteiligt er sich wieder am Gange des Unterrichts. Besonders schlimm sind diese Zustände bei ihm während des mündlichen Rechnens. Es kommt vor, daß er, sobald sein Name genannt wird, Aufgabe und Lösung aus dem Bewußtsein verliert. Die hierdurch in seinem Geiste hervorgerufene Verwirrung mit allen den unangenehmen Gefühlszuständen bewirkt nicht selten eine völlige geistige Unfähigkeit des Kindes während der betreffenden Unterrichtsstunde.

Das ist ein sehr störender und bedenklicher Fall von psychischer Zartheit. In Fällen leichterer Art sind die Kinder mit einer allzu weichherzigen Empfindsamkeit und weinerlichen Befangenheit belastet. Von einem Mädchen wird berichtet, daß es erst ein langes, krankhaftes Weinen vorübergehen lassen muß, bevor es imstande ist, dem von ihm nicht etwa gefürchteten, sondern vielmehr hochgeschätzten Lehrer eine einfache Bitte auszusprechen. Neben dem weinenden Kinde fällt oft auch das lachende als bedenkliche Erscheinung auf. In einer Knabenklasse des Verfassers saß vor Jahren ein Kind, welches hin und wieder bei besonders ernsten Unterrichtsgegenständen in ein unbezwingliches Lachen verfiel. So mancher Tadel, ernste Strafen, eindringliche sittliche Verweise und Belehrungen rufen bei den Kindern nicht selten ein Lächeln hervor, das nicht in jedem Falle eine Aeußerung roher Gesinnung und Gemütsverfassung zu sein braucht. Man kann es auf dem Gesichte von Kindern beobachten, die davon weit entfernt sind.

Einen ernsteren Charakter als die Erscheinungen einer gewissen psychischen Zartheit nehmen solche Aeußerungen an, welche man am treffendsten als abnorme Aufregung bezeichnet.

Hierher gehören zunächst solche Naturen, die durch eine Neigung zu großer Schreckhaftigkeit, Furchtsamkeit und Aengstlichkeit auffallen. Diese Zustände treten häufig schon bei den geringsten Anlässen auf, und manche Mutter hat ihre liebe Not damit. In der Schule fühlen sich Kinder dieser Art geradezu unglücklich. Sie schrecken zusammen, erröten, bekommen gewaltiges Herzklopfen, werden ganz verwirrt, sobald sie eine plötzlich an sie gerichtete Frage beantworten sollen, obwohl sie dazu Gaben und Kenntnisse genug besitzen. Bei zweien dieser Kinder fand einst der Verfasser, daß seine bloße Nähe schon erregend wirkte, und er erzielte eine bedeutende Besserung dadurch, daß er sie von seiner unmittelbaren Nähe wegsetzte, und daß er gewöhnlich nur aus einer gewissen Ferne zu ihnen sprach. Die Kinder wurden sehr bald unterrichtsfähiger. Es ist gewiß ein großer Trost, wenn derartige Besserungen sichtbar werden. Leider aber giebt es auch Kinder, die so empfindlich sind, daß sich ihrer nach und nach eine maßlose Verstimmung bemächtigt, gegen welche kein Mittel der Erziehung zu wirken scheint, am allerwenigsten Strafen. Mitunter kann die leichte Erregbarkeit zu einer lebhaften, ja begeisterten Teilnahme des Kindes an Lerngegenständen führen, nur allzu bald muß man aber die Erfahrung machen, daß diese Begeisterung keinen Bestand hat, wie Strohfeuer nach kurzem Aufflackern erlischt. Auf die übermäßige Erregung folgt rasch völlige Erschlaffung. „Reizbare Schwäche“ nennt die Wissenschaft diesen Zustand. Reizbar schwache Kinder erscheinen launenhaft, sie schließen schnell schwärmerische Freundschaften werden von vielerlei Gegenständen oder Beschäftigungen lebhaft angezogen, aber kaum gesehen – gemieden! Jetzt wollen sie alles mögliche erlernen, sie geraten z. B. in Begeisterung für das Violinspielen oder für das Malen oder für irgend eine Handfertigkeit; nach kurzer Zeit aber ist jedes Interesse verflogen!

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß bei solchen Kindern sehr

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_042.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)