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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

zergliedern, aber unbewußt empfand sie auf dem Grunde ihres Jammers eine dumpfe Genugthuung. Zeiten und Personen verwirrten sich ihr, und wie sie jetzt scheinbar bis zur Teilnahmlosigkeit erschöpft vor dem Bettchen Gretels saß, war es ihr, als sei dies Kind, dessen Schlummer sie bewachte, ihre Enkelin, und jene, deren Augen sie vor drei Tagen zugedrückt, sei ihre Tochter gewesen.

Unterdes nun stand draußen auf dem großen Friedhof eine Schar dunkelgekleideter Männer entblößten Hauptes einen gelben Sarg und eine offene Gruft. Die Frühlingssonne glitzerte so fröhlich in den Beschlägen des Sarges wie daheim auf den Messingknäufen an Gretels Bettchen. Es roch nach Veilchen und frischem Grün, an den Birken schimmerten schon Blütenkätzchen, und als der Prediger seinen Segen gesprochen und die ersten Erdbrocken dem Sarge nachkollerten, strich eine Amsel vom Zweige ab und flog mit hellwerbendem Ruf über die Gräber hin.

Nun hatten die Freunde und Nachbarn längst jeder seine drei Schollen Erde ins Grab geworfen aber noch zögerten die Arbeiter, das traurige Werk zu vollenden, sie blickten unschlüssig nach dem Leichengefolge, das einige Schritte abseits harrte, und dann wieder auf den Witwer, der noch immer am Grabe kniete und, die Hände vor den Augen, herzbrechend schluchzte. Als er sich endlich auf das leise Zureden des Doktor Ritter erhob und wankend am Arme des Freundes davonschritt, öffneten sich die Reihen der Leidtragenden wie auf ein heimliches Kommando zu einer Gasse und schlossen sich hinter den beiden wieder paarweise. Es sah aus, als wollten sie den Ueberlebenden geleiten wie zuvor die Tote, anders als bei manchem recht vornehmen Begräbnis, wo die Menge unverzüglich nach Erledigung der Sache so eilfertig und anteillos auseinanderläuft wie aus der Börse oder aus dem Theater. Das wenigstens ist ein unbestreitbares Vorrecht der Armen, daß sie aus ihrem letzten Gange in angenehmer Gesellschaft bleiben; es geht keiner mit ihnen, der nicht gut Freund ist und es redlich mit ihnen meint. Und es gab viele, die es redlich mit Hans Bardolf und seinem Weibe meinten, aber freilich hatten sie beide es nie gelernt, ihre Liebe und Freundlichkeit nach dem Beutel zu verteilen, und es gab unter all den Männern im schwarzen Rock vielleicht keinen, den ein Finanzminister mit reiner Freude angeschaut hätte.

Zwei sehr ungleiche Paare machten den Schluß: ein Setzer und ein Drucker aus der Zeitungsdruckerei, deren geistiges Futter Hans Bardolf bis vor acht Tagen zurechtgeschnitten hatte und hinter diesen neben dem jungen Hausarzte der neue Chef Hans Bardolfs, der Hauptmann Wunibald von Seedorf, mit dem Eisernen Kreuz an dem Uniformrock. Die beiden Arbeiter hatten einen großen Kranz auf den Sarg niedergelegt, mit einem mächtigen Seidenband, auf dem einen Zipfel stand ‚Ruhe sanft‘ und auf dem anderen. „Die Setzer und Drucker der A.-G. Städtischer Anzeiger“. Der Drucker war ein großer starker Mann mit einem graubärtigen Gesicht von etwas schläfrigem Ausdruck, sein Begleiter war noch ziemlich jung, schmächtig und blaß, er sah nachdenklich aus und trug eine große grellrote Krawatte.

„Weißt du, Kiehnike,“ sagte der Drucker langsam, „inwendig magst du so rot sein wie es dir paßt, aber zu dem Fall konntest du deine Gurgel auch ’mal schwarz gehen lassen!“

„Det verstehste nich, Müller,“ erwiderte der Setzer ruhig. „Partei is Partei, die rote Binde is gewissermaßen mein Feldgeschrei, un dat darf ick mir nich rauben lassen. un ick hab’ och keine andere. Un warum och nich? So’n armer Studierter wie unser guter Doktor da vorn is ja och man nur en Proletarier, un es is sein Schade, wenn er sich für die Protzen abrackert, statt zu der Partei zu kommen.“

„Na“, meinte der Drucker, „jetzt ist er ja auch fertig mit ihnen! Dem Herrn Assessor soll er nett die Wahrheit gesagt haben! Die können lang’ warten, die Blauen, bis sie so einen wieder kriegen.“

„Jawohl,“ versetzte der Jüngere, „un det freut dich, weil du schwarz bist un dich mit’n Himmel vertrösten läßt. Na, du wirst och noch klug werden.“

Der Hauptmann war bis dahin schweigend neben seinem Begleiter hergegangen, nach einem passenden Zuspruch suchend, denn er hatte das Gefühl, als ob ein Arzt beim Begräbnisse eines seiner Patienten einigen Trostes wohl bedürfe. Aber da er selber durch das Unglück Bardolfs herzlich betrübt war, fiel ihm nichts Rechtes ein. Schließlich, als sie schon nahe am Thore waren, blickte er noch einmal zurück über den stillen, mit schönen Baumgruppen und Rasenstreifen bestellten Raum und sagte: „Wissen Sie, mein verehrter Herr Doktor, eigentlich ist der Friedhof hier doch die einzige halbwegs auflandige Lokalität in diesem gottverlassenen Heiden- und Kohlennest!“

Er war kein unkluger Mensch, der Hauptmann von Seedorf, und wenn ihm das geschäftliche Mißgeschick bisher mit so bedauerlicher Treue gefolgt war, so lag das nur daran, daß er so ganz einseitig für den Frontdienst begabt und erzogen war und gar nicht für den Verdienst. In den sechs Jahren seiner Invalidität hatte er ungefähr ebensoviel „Lebensstellungen“ erledigt: er war in jede mit einer unbestimmten, aber starken Hoffnung eingetreten, daß sie ihn in stand setzen werde, seinem Sohne einige Rittergüter zu hinterlassen, und beim Abschied von jeder war er versucht, zu sprechen wie König Franz nach der Schlacht bei Pavia: „Tout est perdu“ – „Alles verloren“; aber jedesmal hätte er auch hinzusetzen können wie der ritterliche König: „fors l’honneur!“ – „außer der Ehre!“ Bei alledem hatte er seinen mutterlosen Knaben frisch und brav erzogen, wenn auch nach seiner Weise, und wenigstens etwas hatte Zinsen unter seinen Händen getragen. das mütterliche Vermögen des Knaben, denn es war nicht in den väterlichen Unternehmungen angelegt, sondern in guten preußischen Staatspapieren, und der Hauptmann von Seedorf hätte eher Steine geklopft als diese Papiere angetastet. So schlimm war es zum Glück noch nie gegangen. die Pension war noch immer unverpfändet, selbst für die Erziehung Karls hatte das Erbe seiner Mutter noch mit keinem Pfennig herhalten müssen, und eben jetzt war der Hauptmann wieder einmal fest überzeugt, mit seinem pädagogischen Plane die goldführende Ader endlich getroffen zu haben.

Die vorläufige Einrichtung hatte allerdings die paar tausend Mark, die ihm von seiner letzten Erbtante Ende des Sommers zugefallen waren, so ziemlich verschluckt, und die Jahresmiete für das große altfränkische Haus in der Vorstadt mit dem weitläufigen, schlecht gepflegten Garten dahinter war eigentlich etwas höher, als er sich’s veranschlagt hatte, aber dafür hatte man eben auch Platz, und den braucht man für eine Anstalt, die sich naturgemäß erweitern und zu einer ordentlichen kleinen Kriegsakademie auswachsen will. Da war unter anderem vorn im Hausflur rechts das Sprechzimmer des Herrn Hauptmanns mit der Aufschrift. „Direktion“, und gegenüber für Doktor Hans Bardolf die „Subdirektion“; das Klassenzimmer im Erdgeschoß und der Speisesaal im oberen Stock – die Küche lag etwas weit ab, im Souterrain – waren von einer Größe und Ausstattung, als sollte sich das ganze künftige Offizierscorps eines Regiments hier ausbilden und satt essen, und die Haushälterin des Herrn Hauptmanns hatte eine großartige „neue Garnitur“ erhalten und sah sich von einem ganzen kleinen Stabe weiblicher Adjutanten umgeben. Selbst Hans Ritter wußte nichts einzuwenden, als ihm der Hauptmann zum Schlusse ihres Rundganges durch die Anstalt erklärte. „Sehen Sie, es ist alles fix. und fertig, militärisch adrett, und wenn uns jetzt zu Ostern die Schüler gleich dutzendweise überfallen sollten, wir sind auf alles gerüstet.

Es war eine unüberwindliche Eigenheit Hans Ritters, daß er es nicht übers Herz brachte, erwachsenen Männern seine Bedenken gegen ihre Unternehmungen unaufgefordert auszusprechen. Er war allzu geneigt, eher an seiner Einsicht in fremde Verhältnisse als an der Sachkenntnis derer zu zweifeln, die er achtete, und der Hauptmann von Seedorf hatte sich seine Achtung sehr schnell gewonnen, weil er in ihm einen Ehrenmann erkannte, der es einmal wirklich gut mit Hans Bardolf vorhatte. So fiel es dem Hauptmann auch nicht allzu schwer, ihn von der Ansicht abzubringen, daß es am besten für Bardolf sei, einstweilen die bisherige Wohnung aufzugeben und Gretel mit dem Mädchen zur Urgroßmutter ziehen zu lassen. „Glauben Sie mir, es thut nicht gut,“ sagte der Hauptmann. „Es mag ja sein, daß es dem armen Kerl jetzt fürs erste hölleneinsam in der verwaisten Wohnung seines Glückes vorkommt, aber nehmen Sie so einem unglücklichen Witwer auch noch die Stätte und das Pfand seiner verlorenen Liebe weg, dann ist er erst recht einsam, und dann stehe ich auch nicht für den besten ein. Ich kann da aus Erfahrung sprechen. Als mich das damals so hintereinander traf, erst invalid und dann ein halbes Jahr danach Witwer – na, wenn ich da nicht den Jungen alle Tage

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_062.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)