Seite:Die Gartenlaube (1897) 068.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

0


Blätter & Blüten.

Der Kleinste von der Lemurensippe. (Mit Abbildung.) Lemuren hießen bei den alten Römern böse Geister der Verstorbenen, die in den Nächten spukten und die abergläubischen Menschen vielfach beunruhigten. Der Name Lemuren wurde in der Neuzeit von der Wissenschaft einer Tierfamilie aus der Ordnung der Halbaffen beigelegt, deren Mitglieder viel Gespenstisches in ihrer äußeren Erscheinung und ihrer Lebensart aufweisen. Einst, in grauer Vorzeit, waren diese Geschöpfe auf der Erde zahlreicher vertreten. Heute begegnen wir mehreren Arten derselben nur noch auf den südasiatischen Inseln, Madagaskar und dem Festlande von Afrika. Sie sind zumeist Nachttiere und erwecken durch ihr Treiben die Scheu der Eingeborenen, welche an die sonderbaren Gestalten allerlei abergläubische Vorstellungen knüpfen. In den Urwäldern, wo sie in den Baumkronen ihr Wesen treiben, pflegen einige der Lemurenarten beim Einbruch der Dunkelheit einen Höllenlärm anzuschlagen, der den Neuling in der Wildnis oft genug mit Grausen erfüllt. Andere wieder schleichen lautlos von Ast zu Ast, der Beute nach. Ohne das geringste Geräusch gleitet das Nachtgespenst von Ort zu Ort, während seine ungewöhnlich großen Augen wie feurige Kugeln leuchten. Trotz der unheimlichen Erscheinung sind die Tiere dem Menschen nicht gefährlich und als Mitglieder einer eigenartigen Sippe für den Naturforscher von höchstem Interesse. Zumeist nähren sie sich von Früchten und Insekten, aber auch von kleinen Vögeln, die sie mit großem Geschick fangen und deren Nester sie plündern.

Zwergmaki (Microcebus myoxinus).
Nach dem Leben gezeichnet von Anna Matschie-Held.

Auch der Zwergmaki, den unsere Abbildung darstellt, gehört zu dieser Tierfamilie. Er ist der kleinste unter den Halbaffen, seine Leibeslänge beträgt nur 14 bis 15 cm, die Schwanzlänge 16 bis 17 cm, sein weicher Pelz ist oben grau und ändert je nach der Jahreszeit etwas in der Färbung ab; der Bauch ist weiß. Die Augen umgiebt ein bräunlicher Ring, ein weißer Streif zieht über die Nase, die Rückenmitte zeigt eine dunkle Längsbinde. In dem kleinen Kopfe sitzen zwei große Augen nahe bei einander, die Ohren lassen sich, wie bei den Ohrenmakis, zusammenfalten. Der Zwergmaki ist ein Nachttier, welches während des Tages zusammengerollt in einer Astgabel oder einer Baumhöhle ruht, nach Einbruch der Dämmerung aber sehr lebhaft wird und äußerst geschickt in den Zweigen sich bewegt. Seine Nahrung besteht aus saftigen Früchten, Vogeleiern und Insekten. Er lebt in den dichten Urwäldern des nördlichen und östlichen Madagaskar und verläßt selten oder nie die Kronen der Bäume, in denen er ein rundes, zierliches Nest aus Moos und dünnen Zweigen baut. Während der trockenen Jahreszeit hält er in einem Astloche eine Art von Winterschlaf. Ueber die Lebensweise dieses eigentümlichen Tieres weiß man bis jetzt noch recht wenig, auch die Beobachtung desselben in der Gefangenschaft wird dadurch erschwert, daß der Zwergmaki erst gegen 8 Uhr abends munter wird. Im Berliner Zoologischen Garten, wo sich das Tierchen seit längerer Zeit sehr wohl befindet, giebt man ihm gekochten Reis, Obst, Aniskuchen und täglich einige Mehlwürmer. P. Matschie.     

Ein Erfinder um jeden Preis. James Watt, der große Schöpfer der Dampfmaschine und Dutzender von anderen technischen Neuerungen, dessen Talent Humphrey Davy eines Tages zu dem Ausspruch hinriß: „Man bestellt bei Watt Erfindungen, wie man beim Schneider einen Rock bestellt“ – dieses Genie des Erfindens beschränkte seine schöpferische Gabe keineswegs auf die Technik. Er war vielmehr ein so gewandter und hinreißender Geschichten-Erfinder und -Erzähler, wie nur einer je auf englischem Boden gefunden wurde. Eine Freundin seiner Mutter, bei der er als Jüngling einmal zu Besuch weilte, erzählte, daß James Unterhaltungen und phantastische Geschichten, die er Abend für Abend im Kreise dieser befreundeten Familie vortragen mußte, bald das ganze Haus in einen Zustand von Erregung und Schlaflosigkeit versetzten. Man lauschte dem Erzähler Stunde für Stunde, ohne es zu merken, ließ die halbe Nacht auf diese Weise verstreichen und war dann für den Rest derselben zu aufgeregt, um Ruhe zu finden. Watt behielt diese Gabe des Fabulierens bis in sein Greisenalter, und wäre er nicht ein so großer Ingenieur gewesen, er wäre gewiß ein Romandichter von Ruf geworden. Wie Walter Scott mitteilte, passierte dem 82-jährigen Watt noch folgende heitere Geschichte. Er hatte wieder einmal eine Tafelrunde durch eine seiner lebenswahren und nur zu wahrscheinlich erfundenen Erzählungen in Verwunderung gesetzt, als einer seiner Zuhörer, was für gewöhnlich niemand wagte, schüchtern bemerkte: „Sollten Sie uns da vielleicht eine von Ihnen erfundene Geschichte erzählen?“ – „Dieser Zweifel setzt mich in Erstaunen“, erwiderte lächelnd Watt, „ich habe ja seit zwanzig Jahren nichts anderes gethan, wenn ich das Glück hatte, die Abende mit Ihnen zuzubringen. Bw.     

Blindekuh. (Zu dem Bilde S. 56. und 57.) Wenn Alter und Jugend sich in demselben Raum unterhalten sollen, pflegt ersteres zu kurz zu kommen – das war in der „guten alten Zeit“ auch schon so. Drüben am Spieltisch sitzt das gräßliche Ehepaar mit seinen Gastfreunden. Herüben in der Saalmitte sollten sich die jungen Fräulein bemühen, den über Tisch noch etwas schüchternen Imker Franz zum Auftauen zu bringen. Erst wurde, fein sittig im Kreise sitzend, ein Pfänderspiel beliebt und die älteren Herrschaften wandten sich beruhigt ihrer eigenen Partie zu. Plötzlich, als sie eben im besten Zuge sind – ein Knall, ein Fall, Springen, Schreien und Gelächter … ein Blindekuhspiel im Salon als ob man draußen auf der Dorfwiese wäre! Befremdet wendet die Gräfin-Mutter den Kopf nach dieser geräuschvollen Belustigung, aber der Vater des offenbar gänzlich aufgetauten Imkers sieht voll Vergnügen, wie die zierliche Komtesse seinen Herrn Sohn im vollsten Sinne „am Bändel“ hat, während ihre Freundinnen, die frischen Pfarrtöchter, die unter dem „altmodischen“ Kleid ihre ganze ländliche Heiterkeit mit ins Grafenschloß bringen, ihn nach Herzenslust zupfen und necken. Die ganze Scene in ihrer harmlosen Fröhlichkeit steht eigentlich im Widerspruch mit der feierlichen Pracht des Saales, aber sie wirkt nur um so anziehender. Der Künstler hat es verstanden, uns ein Stückchen unbefangener Natürlichkeit im „Zeitalter der Unnatur“ zu zeigen, und er thut es mit so viel Frische und Anmut, daß sein Bild sicherlich beifällige Betrachter finden wird. Bn.     


Inhalt: [ Inhalt von Heft 4/1897 – z. Zt. hier nicht dargestellt. ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_068.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2023)