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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Kostüm, nur mit einer kleinen Anstandsverbesserung versehen, dahinlebte?

Aehnliche Fanatiker, Wasser- und Luftmenschen, giebt es gelegentlich an allen Orten und so ist die Frage wohl berechtigt, was sich vom Standpunkte der Hygieine hierüber sagen läßt. Ist nicht schließlich die warmhaltende Kleidung ein reiner Luxus, eine bloße Annehmlichkeit, die wir uns besser versagen würden, um nicht der Verweichlichung anheim zu fallen?

Unser Organismus, wie derjenige aller Warmblüter, besitzt in der That die wunderbare Fähigkeit der Wärmeregulation d. h. unter den extremsten äußeren Temperaturbedingungen strebt er mit Erfolg, die gleichbleibende Blutwärme von etwa 38°C mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrecht zu erhalten. Nicht wie ein lebloser Gegenstand, ein Stück Felsen beispielsweise, erleidet er bei sinkender Außentemperatur sofort auch eine entsprechende Abkühlung, und ebensowenig steigt seine Innentemperatur ohne weiteres, wenn die äußere Wärmeeinwirkung im Sommer oder in einem heißen Klima oder einem überheizten Zimmer einmal auch beträchtlich über die Norm sich erhebt. Im Gegenteil, höchst zweckmäßig arbeitet unsere Organisation diesen äußeren Störungen des inneren Gleichgewichts regulierend entgegen, indem sie beispielsweise bei äußerer Kälteeinwirkung von selbst und ohne unser bewußtes Zuthun, auch ohne daß wir anfangen, durch Gehen, Laufen, Turnen usw. uns zu erwärmen, mit einer Steigerung der inneren Wärmeerzeugung antwortet. Sie erreicht dies durch eine Erhöhung der im Körper stattfindenden Verbrennungsprozesse, wobei hauptsächlich die dem Körper zugeführten Nahrungsstoffe, unter gleichzeitiger Mehraufnahme von Sauerstoff, in gesteigertem Maße verbraucht werden. Umgekehrt vermindern sich diese Verbrennungsvorgänge von selbst im Körperinnern bei steigender Außentemperatur, wodurch auch in diesem Falle der Ausgleich zustande kommt.

Thatsächlich kann also der Mensch seine gleichbleibende Innentemperatur auch unter ziemlich beträchtlichen Schwankungen der äußeren Wärme aufrecht erhalten, sofern ebenjener Regulationsmechanismus, den man gewöhnlich als die „chemische Wärmeregulation“ bezeichnet, tadellos arbeitet. Ein gewisses Maß an dieser regulatorischen Fähigkeit zu besitzen, ist jedenfalls zur Gesundheit ganz unerläßlich. Wessen Wärmeregulation nicht prompt bei äußeren Abkühlungen in Thätigkeit tritt, läuft stets Gefahr, sich intensiv zu erkälten. „Abgehärtet“ ist dagegen derjenige, dessen chemische Wärmeregulation genau und sicher funktioniert, und wir müssen unbedingt darauf bedacht sein, unter den verweichlichenden Einflüssen des Kulturlebens diese Fähigkeit nicht ganz einschlummern zu lassen, sondern sie stets in Uebung zu erhalten. Wer viel im Freien bei jeder Witterung sich zu bewegen durch seinen Beruf ohnehin gezwungen ist, der Landmann, Förster, Gärtner, Soldat, solche Berufsklassen werden ganz von selbst ihre Wärmeregulation stets in Uebung erhalten, da die viele Luft, welche trotz der Kleidung an ihrer Körperoberfläche vorbeistreicht, stets einen abhärtenden Einfluß ausübt. Frische Luft ist überhaupt das beste, naturgemäßeste Abhärtungsmittel; darin liegt unter anderen einer der Hauptgründe, weshalb die Jugendspiele im Freien so dringend der Pflege bedürfen, daß diese allein das naturgemäße Gegengewicht darstellen gegenüber dem der Gesundheit weniger förderlichen Aufenthalt im Schulzimmer oder in der Stube der Eltern. Auch muß ich bei dieser Gelegenheit das Radfahren als ein Mittel, den Körper mit viel Luft in ausgiebigste Berührung zu bringen und dadurch zu kräftigen rühmend erwähnen. Vielleicht erleben wir es noch, daß ein Hygieiniker der nächsten Zukunft auch das Fliegen als ein geradezu ideales Mittel in dieser Hinsicht preist.

Anderseits am meisten der Gefahr der Verweichlichung durch ungenügende Regulationsthätigkeit ausgesetzt sind die Angehörigen derjenigen Berufsarten, die mit vorwiegendem oder dauerndem Aufenthalt in geschlossenen Räumen verknüpft sind. In den Großstädten, im Groß- und Kleingewerbe, aber auch auf dem Lande dort, wo Hausindustrie mit ihren meist so langen Arbeitszeiten, häufig noch dazu mit Hungerlöhnen, betrieben wird, gehört ein großer Teil der Bevölkerung hierher. Nicht jeder zeigt da die gleichen Anlagen, und bei manchem kommen die Schädlichkeiten weniger leicht oder gar nicht zum Durchbruch. Bei vielen anderen aber wäre ein Ersatz für die normale Uebung der Regulationsthätigkeit durchaus erforderlich, wenn nicht mit der Zeit nachteilige Folgen, namentlich auch eine Herabminderung der gesamten Widerstandsfähigkeit, eintreten sollen. Da ist denn, als eine Art von Aushilfsmittel, die Anwendung des kalten Wassers in Form von Waschungen, Abreibungen, Uebergießungen oder kurz dauernden Bädern am Platze, wodurch ohne viel Zeitverlust die Regulationsthätigkeit der Haut ständig in Uebung und bei Kräften erhalten werden kann. Das Wichtigste bei diesen abhärtenden Prozeduren - sonst verfehlen sie überhaupt ihren Zweck gänzlich - ist nur, daß der Wärmeausgleich auch wirklich sofort erfolgt, daß der Abkühlung sogleich die ausgiebige und ausgleichende Erwärmung nachfolgt. Wer das nicht sorgsam beachtet oder nicht zustande bringt, der wird mehr Schaden stiften als Nutzen.

Gerade die Kaltwasseranwendung hat nun aber auch bei manchen für das Extreme begeisterten Naturen zu kolossalen Uebertreibungen geführt, und da kommen wir denn zurück zu der Frage, ob die äußerste Abhärtung, die möglichste Unabhängigkeit von wärmender Kleidung hygieinisch als wünschenswert und als das Ideal zu betrachten sei. Die Antwort liegt in der besprochenen Art und Weise, wie der Körper die Kälteeinwirkung auszugleichen sucht. Er kann dies nur durch gesteigerte Verbrennung, erhöhten Verbrauch seiner Bestandteile, zunächst der zugeführten Nahrungsstoffe, eine Thatsache, welche durch die Physiologie, in neuerer Zeit namentlich durch die Forschungen von Professor Max Rubner und seinem Schüler Rumpel, in aller Strenge bewiesen wurde. Aber schon längst vorher hatte Liebig in seinen “Chemischen Briefen“ (1844) das gleiche vorausahnend erkannt. „Unsere Kleider,“ sagt er,„sind in Beziehung auf die Temperatur des Körpers Aequivalente für die Speisen, je wärmer wir uns kleiden, desto mehr vermindert sich bis zu einem gewissen Grade das Bedürfnis zu essen, eben weil der Wärmeverlust, die Abkühlung und damit der Ersatz an Speisen kleiner wird. Gingen wir nackt wie die Indianer, oder wären wir beim Jagen und Fischen denselben Kältegraden ausgesetzt wie der Samojede, so würden wir ein halbes Kalb und noch obendrein ein Dutzend Talglichter bewältigen können …“ Den kulturfeindlichen Zustand, zu dem derartige Extreme führen würden, charakterisiert letztere Wendung vortrefflich. Und das ist schließlich auch das Entscheidende. Nicht nur, daß warmhaltende Kleidung uns sparen hilft, daß wir mit einem geringeren Nahrungsbedürfnis auskommen, was für minder bemittelte Volksschichten, die durchschnittlich mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Nahrungsmittel aufzuwenden gezwungen sind, ökonomisch sehr ins Gewicht fällt, sondern die bessere Kleidung ermöglicht uns auch allein die unbeschränkte Hingabe an die Anforderungen des Kulturlebens. Ueberall in Bezug auf die künstlichen Existenzbedingungen, mit denen wir uns umgeben, auf Wohnung, Beleuchtung. Beheizung usw., trachten wir, die von außen kommenden Störungen, die Reibungen, welche unser Organismus zu überwinden hat, auf das thunlich geringste Maß zu beschränken; ebenso müssen wir aber die gleiche Aufgabe auch in Bezug auf die Wärmeökonomie unseres Körpers erfüllen, weil wir nur so unsere Kräfte für die höheren Aufgaben des Lebens frei zur Verfügung. behalten. Uebermäßige und andauernde Verdauungsarbeit, stete Wärmeregulationsthätigkeit etc. würden uns in dieser Beziehung ganz wesentlich behindern.

Auch ein anderer Gedankengang fuhrt zum gleichen Endergebnis. Unsere Kleidung erfüllt offenbar eine ganz ähnliche Rolle wie der Pelz der Tiere. Wie verhält sich's nun mit diesem? Sehen wir etwa, daß die Natur, diese große Lehrmeisterin der Zweckmäßigkeit, in Bezug auf das Haarkleid der Tiere nach den Grundsätzen der Abhärtungsfanatiker verfährt? Sehen wir vielleicht, daß sie trotz höherer Breiten mit dem Pelzkleid der Tiere knausert und knickert, um etwa den Tierkörper durch Abhärtung zu kräftigen? Keineswegs finden wir derartiges. Ueberall zeigt sich vielmehr die Dichte der Haarbekleidung nicht nur dem Klima des Landes, sondern sogar den wechselnden Jahreszeiten aufs genaueste angepaßt. Ja, das geht so weit, daß bei künstlichen Klimaänderungen, bei Verpflanzung von Tieren aus heißen Ländern in kalte und umgekehrt, die Natur sich bemüht, das Haarkleid entsprechend umzugestalten. So verloren Merinoschafe, die man an den Congo, nach dem Sudan und Tripolis einführte, in diesen heißen Klimaten ihre Wolle vollständig und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_078.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)