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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)


wird. Wehe den Besiegten! Wer wüßte nicht, daß Rom den Nacken der Bezwungenen ohne Erbarmen zu beugen pflegt! So hat sich namenlose Verzweiflung der Herzen der unglücklichen Germaninnen bemächtigt. Sie haben alles, alles verloren! Ihre Gatten und Brüder sind gefallen, in Flammen ist ihr Heim aufgegangen - sie sind der Willkür der Sieger preisgegeben, und schon naht der römische Feldherr, um sie als Siegesbeute unter seine Krieger zu verteilen. In diesem furchtbaren Augenblick, in welchem alle Familienbande zerrissen werden, die Mutter von der Tochter und die Schwester von der Schwester getrennt werden soll, rafft sich die Königstochter empor und harrt mit ungebeugtem Stolz dem Schicksalsspruch entgegen. Voll hehrer Frauenwürde überragt sie ihre Genossinnen und gebietet Achtung dem Sieger. Mit verschränkten Armen schaut der Feldherr auf die durch die Größe des Unglücks verklärte Gestalt. Er hat einen neuen Kampf zu bestehen. Diese Frauen sind nicht wehrlos; sie heischen Mitleid von dem Gewaltigen, und nur ein roher Barbar könnte Freude an einer weiteren Demütigung der schon so Tiefgebeugten empfinden. Die Entscheidung lesen wir aus den Zügen des Feldherrn heraus. Das Unglück wird ihn entwaffnen, er wird von der rohen Kriegssitte abweichen, wird Großmut üben und seinem frischem Lorbeerkranz ein neues Reis hinzufügen.


Abbildung des Hauses, in welchem der Seefahrer Barents 1596-97 auf Nowaja Semlja überwinterte.
Nach einer Zeichnung des Mitreisenden Gerrit de Beer.


San Lazzaro. (Zu dem Bilde S.77.) In der Lagune, deren Flut die zahllosen Kanäle Venedigs durchströmt, liegt in der Richtung nach dem offenen Meer, eine Reihe größerer und kleinerer Inseln verstreut, die von alters her zum Besitze der stolzen „Königin der Meere“ gehört haben. Die Geschichte Venedigs hat ihnen eine sehr verschiedene Bestimmung gegeben. Auf Murano erhielt die von der Stadt selbst betriebene Glasindustrie ihr Heim, nach San Michele verlegten die Venetianer ihren Friedhof, andere Inseln wurden mit Hospitälern und Klöstern besiedelt. Das kleine San Lazzaro hat im Laufe der Zeiten sowohl das eine wie das andere erfahren; als es seinen Namen erhielt, ward auf demselben ein Spital für Aussätzige errichtet, später trat das noch heute bestehende armenische Mechitaristenkloster an dessen Stelle. Armenische Mönche hausen dort in völliger Abgeschiedenheit von der Welt; aber für die armenische Welt, die noch heute wie vor Jahrhunderten ihr Christentum in den Ländern des Orients gegen den Islam in schweren Kämpfen behaupten muß, ist dieses stille Heiligtum ein Bollwerk von hoher Bedeutung, eine Art nationaler Akademie für die Pflege ihrer Religion, für die Herstellung ihrer Bibeln und Andachtsbücher in armenischer Schrift und Sprache. „Armenische Greuel“, grausame Verfolgungen der Armenier durch die Türken, wie sie auch gegenwärtig wieder die mitleidvolle Teilnahme Europas herausfordern, waren es, die zur Gründung dieses Asyls führten. Der Stifter desselben, Mechitar, stand seit 1702 an der Spitze eines armenischen Klosters auf Morea, als dort die Kämpfe der Türken gegen die Herrschaft der Venetianer ausbrachen, die für die ersteren siegreich verliefen. Nach der Zerstörung dieses Klosters durch die Türken im Jahre 1716 suchte er mit den Brüdern in Venedig Zuflucht und erhielt vom Senat die Insel San Lazzaro zur Errichtung eines neuen Klosters überwiesen. Was hier dann jene Flüchtlinge und ihre Nachfolger ins Leben gerufen haben, nötigt dem Besucher die höchste Achtung ab. Mit Staunen sieht man beim Durchschreiten der Bibliothek, welche Schätze christlicher Bildung dieses uns fremde Volk des Orients besitzt, erblickt man in der Buchdruckerei des Klosters die Mechitaristenbrüder bei der Arbeit am Setzkasten, um in den ihrem Volke verständlichen Lettern nicht nur Bibelausgaben und Gebetbücher, sondern auch Uebersetzungen klassischer Werke der ersten Dichter und Denker Europas herzustellen. Schlicht, freundlich und gewinnend ist das Wesen der Mönche, von denen einer immer bereit ist, fremde Besucher durch die Räume der Bibliothek, der Kirche und der Buchdruckerei zu geleiten und ihm einen Blick in den herrlichen Garten zu gewähren, der die anspruchslosen Gebäude umhegt. Die ganze Pracht der Vegetation des Südens findet sich hier entfaltet, üppiger Rosenflor rankt sich an riesenhaften Cypressen empor und der berauschende Duft blühender Orangen und Magnolien dringt über die Mauern, die nach dem Meer zu dies stille Heiligtum umgeben, in welchem die armenische Kirche im Schutze Venedigs wie Europas eine ungefährdete Zufluchtsstätte besitzt.


Wintermorgen in der Großstadt. (Zu dem Bilde S. 81.) Lange vor Morgengrauen erwacht an den Wintertagen die Großstadt, und schon in Nacht und Nebel eilt eine große Schar arbeitsamer Menschen ihrem Berufe nach. Der Milchwagen rasselt durch die Straßen, der Bäckerjunge trägt das Frühstück aus, der Plakatankleber entfaltet seine Thätigkeit und der Buchdruckerei entströmen die großen und kleinen Zeitungsträger. Geschäftiges Leben flutet bereits überall, wenn der Laternenmann die Straßenlampen auslöscht; und wenn die spät aufstehende Wintersonne durch Nebel- und Rauchwolken dringt und mit ihren matten Strahlen die Kirchtürme und Hausdächer vergoldet, haben schon gar viele ihr erstes Tagewerk vollbracht.

Morgenstunde hat Gold im Munde. Auf vielen jugendfrischen Gesichtern ist deutlich zu lesen, wie rüstige Arbeit frohen Sinn schafft. Leider aber bricht sich der matte Lampenschein am Wintermorgen in der Großstadt in so vielen matten, abgehärmten Augen! Wie groß ist nicht die Zahl der Armen und Schwachem, die in dem rauhen Wetter, notdürftig bekleidet, in harter Mühe ihr tägliches Brot verdienen müssen! In der strengen Winterszeit leidet der fleißige Arme doppelt Not, und doppelt groß sollte in dieser Jahreszeit die werkthätige Nächstenliebe sein. Helfen wir nach Kräften diesen Schwachen, die so gern arbeiten wollen, dann wird die Mildthätigkeit viele Thränen stillen und den düstern Wintermorgen verklären!


Junge Holländerin. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wer es noch nicht weiß, warum die Holländerinnen so fest an ihren eigenartigen Häubchen halten, der kann es auf dem hübschen Bild hier sehen. Wie kleidsam umschließen diese duftigen Spitzenwände das Gesicht und die lockigen Stirnhaare! Seitwärts biegen sich die Enden wieder hinauf bis beinahe zu der großen, dicken Schmucknadel, die das Ganze befestigt. Wenn sich nun das Gesicht des hübschen Mädchens uns voll zuwenden würde, so sähen wir rechts und links zwischen den rosigen Wangen und der Spitzenhaube die beiden Scheiben von Goldfiligran hervorleuchten, die das „Holländerhäubchen“ vor allen anderen Kopftrachten auszeichnen und im Verein mit der Granatkette, dem Spitzentuch und der blütenweißen Schürze ein so kleidsames Ganzes ausmachen. Man begreift die Frauen, die einer solchen Tracht treu bleiben, aber auch die Künstler, welche uns heute, in der Zeit neu erwachter Liebhaberei für holländische Kunst, die „schöne Holländerin“ so gern auf ihren Bildern zeigen!


☛      Hierzu Kunstbeilage III: „Junge Holländerin.“ von G. v. Hößlin.


Inhalt: [ Inhalt von Heft 5/1897 – z. Zt. hier nicht dargestellt. ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_084.jpg&oldid=- (Version vom 3.7.2023)