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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Die Hansebrüder.

Roman von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).

(9.Fortsetzung.)

12.

Beim Tode ihrer Eltern war Grete noch zu klein gewesen, als daß sie ihren Verlust gefühlt hätte. Die kindliche Seele, die sich ängstigte, wenn ein flüchtiger Wolkenschatten über den Sonnenschein an der Wand huschte, war über die breiten schwarzen Schatten auf ihrem Lebenswege nichtsahnend hinweg gegangen – wie das zarte Gehör der Fledermaus den leisen, sirrenden Flügelschlag einer Mücke vernimmt, aber von einem plötzlichen Donner nichts zu empfinden scheint. Im zwölften Sommer Gretes kreuzte der Tod wiederum zweimal kurz nacheinander ihre Straße.

Nur „einer Erkältung wegen“ hatte der Professor und Oberbibliothekar Isaak Bernstein sein Kolleg auf eine Woche unterbrochen und die laufenden Geschäfte in der Leitung seiner Bibliothek dem ersten Bibliothekar überlassen. Am vierten Abend dieser Woche besuchte ihn der Doktor Hans Ritter und war angenehm überrascht von dem Befinden des greisen Herrn. Die Erkältung schien völlig behoben zu sein. Der Professor Isaak Bernstein saß behaglich an seinem Tisch, den zwischen vielen Büchern ein von Grete am Nachmittag überbrachter Blumenstrauß schmückte, trank süßen Wein und las in seinem Lieblingsbuch, den Sprüchen Salomonis. Die Glückwünsche Hans Ritters zur Genesung nahm er mit einem fast listigen Schmunzeln entgegen. „Ei ja“, sagte er, „es ist freundlich vom Engel des Todes, daß er zu einem alten Mann ein paar kleine Boten vorausschickt. Man kann sich einrichten, man kann sein Haus bestellen und seine Geschäfte abschließen. Ich bin recht zufrieden mit diesen vier Tagen. Ich habe mich fleißig dazu gehalten und es ist nun alles erledigt!“

Hans Ritter suchte ihm die trüben Ahnungen auszureden.

„Was heißt trübe?“ antwortete der Professor Isaak Bernstein. „Der Allmächtige weiß allein, wann er einen alten Mann abberufen wird, aber dem alten Mann ist es nichts Trübes, daran zu denken. – Schenken Sie sich ein, lieber Kollege. Nun, wenn’s noch länger geht, warum soll ich mich nicht freuen? warum soll ich’s mir nicht behagen lassen, wenn die Trauben in meinem Weinberg noch ’mal für mich reif werden? Aber wenn’s anders geht, warum wollen Sie mir das Herz schwer machen und thun, als ob es eine trübe Sache sei für mich? – Nu, trinken Sie, bitte!“

Nach einer kleinen Weile fügte er hinzu: „Es freut mich, daß ich Ihnen auch über meine Nachfolge im Amt etwas ziemlich Sicheres, na, sagen wir etwas Sicheres verraten kann, natürlich nur im strengsten Vertrauen. Die hohe vorgesetzte Behörde hat mir’s ja auch nicht schriftlich gegeben, unter beigedrucktem Siegel, aber man hat seine Ohren, man kennt seine Leute, und man weiß, was man weiß. Unser guter Doktor Müller, der mich ja jetzt schon vertritt, wird an meine Stelle kommen – nun, und Sie werden in seine Stelle vorrücken, man wird Sie hier im Betrieb lassen, das wird Ihnen auch das Liebste sein. – Nun, sagen Sie nichts, wozu? ich weiß, was Sie sagen wollen, und ich nehm’ ’s für quittiert an.“

Dann holte er eine Zeitschrift herbei, mit einer Kritik über einen kürzlich erschienenen Roman Hans Ritters, und sprach viel Verständiges über Kritik und Roman. „Aber was ich da zufällig noch in der Nummer gefunden habe – Sie haben es wohl übersehen, hier ganz unten, Rubrik Personalnotizen und Auszeichnungen: Der Doktor Johannes Mohr, Mitinhaber und Leiter einer Erziehungsanstalt für Töchter gebildeter Stände, hat von seinem Fürsten den Charakter als Geheimer Hofrat erhalten. Sehen Sie, nun hat er doch einen Charakter, man soll nicht sagen, was aus einem jungen Menschen werden kann, wenn er sich nur Mühe giebt! Nun, der eine hat dies, und der andere hat das, er hat seinen Charakter, und Sie haben Ihr weißes Mädchen. ’s ist ein liebes Kind, es ist schön von ihr, daß sie den alten Onkel Professor besucht hat in seiner Unpäßlichkeit, und wenn ich Sie recht schön bitten darf – nu, warum nicht? man muß an alles denken –, so nehmen Sie sie auch mit, wenn der alte Mann begraben wird. Denn warum? man hat doch immer gern, wenn ein paar dabei sind, denen es Ernst ist.“

Der Doktor Hans Ritter schwieg und drückte herzlich die kleine magere Rechte, die sich ihm über den Tisch entgegenstreckte. Dann kam die Esther mit ihrem Einsatz, sie war nun schon ein paar Jahre Wirtin und eine sehr behäbige Erscheinung geworden: aber sie ließ es sich nicht nehmen, den Herrn Professor selbst weiter zu bedienen wie früher. Es war alles wie früher; und Hans Ritter verließ das Haus mit dem beruhigenden Gefühl, daß der Professor Isaak Bernstein trotz seiner neuartigen, allzu vorsorglichen Gedanken noch keinerlei Ursache habe, den Engel Asrael mehr zu fürchten, als es sich für jeden betagten muntern Herrn schickt.

Vierundzwanzig Stunden später war Isaak Bernstein allem Irdischen entrückt. Ganz plötzlich hatte das alte Herz seinen Dienst eingestellt; und zwei berühmten Leuchten der medizinischen Fakultät, welche man herbeigerufen, blieb weiter nichts übrig, als festzustellen, daß es ein leichter und schmerzloser Tod gewesen sei, der den greisen Schriftgelehrten heimholte, eben als die drei ersten Sterne am Himmel den Anfang des Sabbaths verkündeten.

Ziemlich weit draußen vor der Stadt wurde er beigesetzt, auf einem uralten Judenfriedhof, der noch von den Zeiten des Mittelalters her sich scheu und ärmlich, zwischen Wald und Weide, an die Flanke eines längst verlassenen Burgberges hinduckt. In dem großen Trauergeleite fehlte auch die eine Zeugin nicht, die er gewünscht hatte. Sehr befangen und verwundert blickte das weiße Mädchen, an den Arm seines Paten geschmiegt, in dieses seltsame Schauspiel hinein, wobei ihm der fast gruselige Ort kaum unheimlicher vorkam als die Unmenge von vornehmen Herren in dunklen Röcken und Staatsuniformen mit blinkenden Ordenszeichen. Es war das erste Begräbnis, dem sie beiwohnte; es war ein sehr eigenartiges Schauspiel, und auch für eine minder kindliche Seele wäre es schwer gewesen, die Kontraste dieses Schauspiels mit dem friedlich beschaulichen Bilde des kleinen, weißlockigen Onkel Professors zu vereinigen, wie ihn Grete gekannt hatte. Da hatte ein roh gezimmerter, schmuckloser Sarg gestanden, und hinter diesem Sarge ein schlanker, schwarzbärtiger Prediger in dunkler Tracht, der gewaltig predigte und in seine Predigt viele Worte und Sätze aus einer fremden, bald wild und bald süß bittend klingenden Sprache mischte. Die goldene Sonne spielte zwischen den Zweigen durch, in dem dichten, ungepflegten Gehölz zu Häupten des Predigers rauschte der Wind, und der Prediger rief mit feierlicher Leidenschaft: „Ihr Palmen, schüttelt die Häupter, weil der Gerechte stirbt und ein Führer in Israel dahin ist! Es waren keine Palmen, nur einfach deutsche Eichen, Birken und Holderbäume; aber das weiße Mädchen hörte in diesem Augenblick wirklich die Palmen am Saume der Wüste rauschen. Ihrer jungen und raschen Phantasie wandelte sich das Bild des guten Onkels und seines deutschen Leichengefolges in ein anderes um, das ihr schon geläufig war aus dem biblischen Lesebuch, mehr noch aus vielen schönen, bunten Abbildungen, die ihr der Onkel Professor in einer großen Mappe gezeigt hatte: Städte von Häusern ohne Fenster, mit flachen hellen Dächern über dunklen engen Gassen, umgeben von grünen Saatfeldern und gelbgrauem Gefels, wo bärtige ernste Männer in weißen Mänteln neben beladenen Lasttieren herschreiten und schlanke Palmen abseits der Straße das Grab eines frommen Mannes umragen. Und mit diesem unklaren Phantasiebilde war sie vielleicht in der ganzen großen Versammlung am Sarge Isaak Bernsteins die einzige, die dem Urgrund seines ganzen Wesens und Fühlens unbewußt nahe kam.

Auch der Doktor Julius Alexander Stein war zum Begräbnis erschienen, ein stattlicher, vornehmer Herr mit mehreren Ordenszeichen, der mit den gelehrten Häuptern der Universität verkehrte wie ihresgleichen und von den meisten seiner ehemaligen Glaubensgenossen mit großer Hochachtung begrüßt wurde. Sehr freundlich und anregend unterhielt er sich auf dem Heimwege mit Hans Ritter und dessen kleiner Begleiterin. Es war ihm, wie er versicherte, eine eigene Freude, bei so ernstem Anlaß endlich die schon längst gewünschte persönliche Bekanntschaft seines langjährigen, ihm so besonders werten Mitarbeiters zu machen.

Der Doktor Julius Alexander Stein war ein wohlhabender Herr, der ohne Thränen von einer Erbschaft absehen konnte, auf die er unter obwaltenden Umständen doch nie gerechnet hatte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_112.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2018)