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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

war hier mit einer liebenswürdigen Unbefangenheit benutzt, die sogar einen im Dienst der Presse ergrauten Redakteur noch in bewunderndes Staunen versetzen mußte.

Alles, was die kleine Verwaiste Lena v. Demphoff in Heimburgs „Kloster Wendhusen“ vor dem Aufbruch in die Fremde und beim Eintritt in dieselbe erlebt, das fühlt, denkt und sagt auch in Julie Dennemarcks „Neue Bahnen“ die kleine Verwaiste Helene Bürkner vor ihrem Aufbruch in die Fremde und bei ihrem Eintritt in diese! Man ist versucht, an Seelenwanderung auch in der litterarischen Welt, an das Doppelgängertum der Astralerscheinung der Spiritisten zu glauben, wenn man Lenas Doppelgängerin ganz so wie diese von der alten Pflegerin und dem jüngeren Geschwisterchen Abschied nehmen, ihnen das Grab der Mutter anempfehlen und auf der Fahrt zum Bahnhof und dann weiter ganz dieselben Betrachtungen anstellen hört, wie die junge Heldin in „Kloster Wendhusen“. Aber halt! Die Scene hat in „Neue Bahnen“, diesem stolzen Titel gemäß – doch auch eigene originelle Züge! Die alte Pflegerin, welche Lenas Doppelgängerin vor dem Abschied tröstet und versorgt, ist kein früheres Dienstmädchen mehr, sondern – eine Tante. Das Getränk, welches Helene zur Stärkung für die Reise vorgesetzt erhält, ist Chokolade, und nicht etwa Bouillon, mit welcher sich Lena begnügen muß. Das Geschwisterchen, welches in beiden Romanen für den Abschied von der Schwester „in der Schule nur eine Stunde freibekommen hat“ und in beiden durch Heulen und Wehklagen der großen Schwester das Herz noch schwerer macht, so daß ein Verweis nötig wird, ist hier eine jüngere Schwester, dort ein Brüderchen. Und als nun wirklich die Droschke unten vorm Hause hält und man aufbrechen muß, da sagt zwar die alte Dame zu Helene ganz wörtlich dasselbe, was schon vor siebzehn Jahren, als „Kloster Wendhusen“ erschien, die alte Christiane zu Lena gesagt hat – „Rasch, Lenchen, den Hut und den Umhang! Der Wagen ist da! Mach’ nur schnell, damit wir nicht zu spät kommen! … Hier nimm die Tasche mit dem Butterbrot und dem Wein!“ usw. bis auf die Warnung, doch ja nicht auf der Treppe zu fallen! – Aber die Verfasserin der „Neuen Bahnen“ wahrt auch hier ihre Selbständigkeit! Ihre Helene bekommt außer Butterbrot und Wein noch „Pfefferminzchen“ und ein Päckchen Chokolade mit auf den Weg, während die brave Lena zu ihrem Brot und Wein nur noch Wasser erhielt! Ja, Helene hat’s besser; der Luxus einer vorgeschritteneren Zeit kommt ihr zu gute! Aber als sie nun in der Droschke sitzt und zum Bahnhof fährt, zeigt sie sofort, daß sie das Herz noch auf dem alten Fleck hat und so heißt es denn von dieser Fahrt in

„Neue Bahnen“:

„Mit thränenschweren Blicken sah Helene die wohlbekannten Straßen ihrer Vaterstadt an sich vorüberziehen. Auf dem Trottoir drängten die Menschen sich wie sonst; … an dem großen Auslagefenster des Konfektionsgeschäftes standen Gruppen Neugieriger … dort hatte die Mama ihr im vergangenen Winter das erste Ballkleid gekauft. Nun fuhr, der Wagen an der Kirche vorüber, in der sie konfirmiert worden war…. Jetzt kam die Straße, wo sie mit ihren Eltern gewohnt, als der Papa noch lebte; wie im Flug sah sie das große stattliche Gebäude mit der breiten Fensterfront an sich vorüberziehen … nun bog die Droschke in eine enge finstere Gasse ein – Helene beugte sich zum Fenster hinaus und sah empor nach der kleinen Mansarde, in der sie nach dem Tode des Vaters mit ihrer Mutter und Sophiechen gelebt … In plötzlich neu ausbrechendem Schmerze sank sie in die Wagenpolster zurück. Die Tante erfaßte ihre Hand und sprach liebevolle, tröstende Worte zu ihr …“

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„Kloster Wendhusen“:

„Ich saß wie in schwerem Traume in dem Wagen, die wohlbekannten Straßen flogen an mir vorüber und auf den Trottoirs drängten sich die Menschen wie sonst; dort war das große Weißwarengeschäft, für welches meine arme fleißige Mama so manchen Stich gethan, dort die Kirche, in der ich Ostern konfirmiert worden und jetzt kam die Straße, in der wir gewohnt – ich bog den Kopf aus dem Wagen und erhaschte im Fluge noch einen Blick: die drei Fenster im dritten Stock sahen so unheimlich leer zu mir herunter: ach, wie oft hatte da ein liebes, freundliches Gesicht herausgeschaut und mir zugenickt, wenn ich aus der Schule kam! Nun barg schon seit Wochen der schwarze unheimliche Sarg die lieben Züge und die Erde lag so erdrückend schwer auf ihm –. Und weiter ging es, die Droschke rasselte sinnverwirrend auf dem Pflaster und Christiane hielt meine Hand und sprach zu mir, was? Ich weiß es nicht mehr.“

An diesem Beispiel zeigt sich so recht deutlich, wie sich die fleißige Abschriftstellerin keineswegs am bloßen gedankenlosen Abschreiben genügen läßt, sondern die selbständige Regung ihrer Dichterseele mit zäher Energie weiter bethätigt. Lena ist für ihren Geschmack aus zu kümmerlichen Verhältnissen, ihre Helene kommt nicht aus solcher Misere! Und wie sie vorhin Chokolade und Pfefferminzchen statt Wasser zu ihrem Brot und Wein bekommen hat, so darf sie beim Vorbeifahren am Konfektionsgeschäft – beileibe nicht „Weißwarengeschäft“ wie W. Heimburg sagt – an ihr erstes Ballkleid denken, während die armselige Lena an eine Mutter denken mußte, die für dieses Geschäft genäht hat! Ja, ihre Helene hat’s besser gehabt und beim Vorbeifahren an der Kirche kann sie darum auch – unser Citat deutet’s durch Punkte an – der „Hökerin“, die dort in der Nähe ihren Stand hatte, gedenken, „bei der sie als Kind so manche saftige Birne, so manche Zuckerbrezel gekauft für Pfennige, die sie als Belohnung für gute Censuren erhalten.“

Doch folgen wir weiter den „neuen Bahnen“, welche der erfinderische Genius von J. Dennemarck Lenas Doppelgängerin ins Leben hinausführt. Der Bahnhof, auf den sie gelangt, ist wirklich eine neuer – ein Centralbahnhof! Und Helene reist wirklich eine andere Strecke als Lena; diese fuhr zu der ihrer Mutter entfremdeten Tante aufs Land. Helene geht zu fremden Leuten in die Residenz. Aber merkwürdig! Schon auf dem Bahnhof verläuft in der Dennemarckschen Astraldichtung alles wie im Heimburgschen Romane, nicht nur das „Jagen, Gepäckbesorgen, Billetkaufen, das Läuten zum Einsteigen“ – das versteht sich ja auf einem Bahnhof von selbst! Nein, auch das Abschiednehmen an der Coupéthüre! Unsere Leser mögen vergleichen:

„Neue Bahnen“:

„‚Helene, hierher, sieh da ist ein ganz leeres Coupé! Hier hast du dein Billet. Verliere es nicht! Nur nicht weinen, Kind, immer den Kopf oben, immer hübsch ruhig und verständig! Gott schütze Dich, Lenchen, mag es Dir gut gehen! Um Sophiechen brauchst keine Angst zu haben, ich sorge schon für Alles. … Du lieber Himmel, weine doch nicht so!‘ sagte die Tante und preßte die Hand des jungen Mädchens, während ihr selbst die großen Thränen über die Wangen liefen und die Lippen in verhaltenem Schmerze zuckten.“

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„Kloster Wendhusen“:

„‚Schaffner, Schaffner, Damencoupé!‘ rief Christiane. ‚Sehen Sie, es ist ganz leer, Kind, nun verlieren Sie nicht das Billet. Und, Fräulein Lenachen, den Georg, den heg’ und pfleg’ ich als wär’s mein Augapfel; nur den Kopf immer oben, Lenachen und nicht gleich durch alle Wände wollen, immer hübsch ruhig. Und Gott schütze Sie, Lenachen … Und mög es Ihnen gut gehen. Jesus Christus! Weinen Sie doch nicht, weinen Sie doch nicht!‘ setzte sie hinzu und hielt meine Hand wie in einem Schraubstocke und dabei rollten die großen Tropfen über das Gesicht, und die Lippen zitterten und bebten in verhaltener Rührung.“

Nun sitzt Lenas Doppelgängerin also in der Eisenbahn und fährt nach der Residenz. Und wieder müssen wir staunen, wie Helene alles nachempfindet, was Lena ihr vorempfunden hat. Die Türme der Vaterstadt verschwinden auch ihr „in einem Dunstmeer“ auch für sie „verliert die Gegend bald das letzte Bekannte“, auch sie lehnt sich in die Polster zurück „mit dem Gefühl grenzenloser Einsamkeit“ – wie es Lena mit einem „grenzenlos bangen unheimlichen Gefühle“ that. Auch vor ihren Augen „steigt das Bild der Kindheit auf“, sie erinnert sich „an die schöne Zeit, als ihr Papa noch lebte“, „elegante, trauliche Räume“ tauchten vor ihr auf, in denen einst die anmutige Gestalt ihrer Mutter gewaltet. Und die Aussicht durch die Fenster in die lachende Landschaft, die in so grellem Kontrast zu ihrer Stimmung steht, ist dieselbe, die Lena vor siebzehn Jahren auf der Fahrt nach Wendhusen von ihren trüben Gedanken ablenkte.

„Neue Bahnen“:

„Gelb schwankten die Kornfelder im Winde … hie und da lag im Schatten alter Eichen ein einsames Gehöft … darüber wölbte sich ein wolkenloser, tiefblauer Himmel, als wäre die ganze Welt bloß Licht und Freude!“

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„Kloster Wendhusen“:

„Gelb schwankten die Kornfelder im Winde … hie und da lag ein Dorf im Schatten alter Eichen, und darüber lachte ein wolkenloser blauer Himmel, als ob es keine Angst, keinen Kummer in der Welt mehr gäbe.“

Der Zug hält, Helene hat ihr Ziel erreicht und wieder wirkt der Astralzauber der Doppelgängerschaft. Wie Lena blickt sie vergeblich umher, ob sie denn niemand erwarte; auch der Herr mit der Lorgnette im Auge ist da und fixiert sie, wie vor siebzehn Jahren die verschüchterte Lena mit „dreisten“ Blicken. Natürlich steigt auch sie „ängstlich“ aus. Und als sie dann in der Residenz im Hause des Präsidenten, wo sie eine Stelle antreten soll, in das Vestibül tritt, da hat auch sie – wie Lena einst beim Betreten des Herrenhauses – die Demütigung zu erleben, daß niemand ihre kleine Person beachtet.

„Neue Bahnen“:

„Da stand sie nun allein in dem fremden Hause und wagte kaum vorwärts zu schreiten; es war lautlos still, kein Laut, kein Ton war zu hören. Herzklopfend blieb sie auf der Treppe stehen und spähte umher, ob niemand kommen würde; ein Gefühl heißer Sehnsucht nach der verlorenen Heimat überkam sie und unwillkürlich traten die Thränen ihr in die Augen.“

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„Kloster Wendhusen“:

„Da stand ich nun allein in dem fremden Hause und wagte nicht, vorwärts zu schreiten; kein Laut, kein Ton drang zu mir. So blieb ich regungslos stehen mitten auf der Treppe, das Herz klopfte mir, daß ich meinte, es hören zu können … ein heißes Sehnsuchtsgefühl nach meiner toten Mutter überkam mich … Die Thränen drängten sich mit aller Gewalt in die Augen.“

Aber auch jetzt fehlt der Diener mit dem Präsentierbrett, der schon Lena erlöste, nicht, er erscheint rechtzeitig, um ihre Doppelgängerin in dem fremden großen Hause zurechtzuweisen, wieder ist der Empfang durch die Herrin des Hauses kalt ablehnend, wieder sind in deren Salon „Möbelstoffe, Teppiche und Vorhänge“ von dunkelblauer Farbe und siehe da – wahrhaftig – „über dem Schreibtisch“ hängt bei Präsidents wie im Herrenhaus Wendhusen „das Brustbild eines jungen schönen Offiziers“, eines Kavallerieoffiziers, und gegenüber – wir kennen auch die Chaiselongue darunter, die von breiten Blattpflanzen fast ganz verdeckt ist, das Bildnis jener schönen Frau mit den „großen dunklen Augen“ und der „Flut goldblonder – (pardon: J. Dennemarck sagt: rothgoldner) Haare“!

Soweit in Heft 1 des neuen Jahrgangs von „Zur guten Stunde“. Ob die Verfasserin nun bei der Fortführung dieser sonderbaren „Neuen Bahnen“ an ihrer eigenen Erfindung sich genügen läßt, oder ob sie ihren Nachbildungstrieb zur Abwechslung anderen bewährten „Mustern“ mit gleicher „Strenge“ zuwendet – wir wollen es abwarten! Hoffentlich wird der hier aufgehobene Finger sie mindestens zu größerer Vorsicht bei Ausübung ihres Anleiheverfahrens veranlassen, damit wir nicht genötigt werden, im Interesse unserer verehrten Mitarbeiterin W. Heimburg noch einmal auf die Sache zurückzukommen. Die Red.     

Altoldenburgische Kartenlegerin. (Zu dem Bilde S. 113.) Die Kunst des Kartenschlagens stand zu Anfang dieses Jahrhunderts in ganz besonderer Blüte; ihr Ansehen war damals durch Marie Lenormand, die „berühmteste Wahrsagerin des neunzehnten Jahrhunderts“, ganz besonders gefördert worden. In jene gute alte Zeit versetzt uns das ausdrucksvolle Bild von Bernhard Winter, denn Trachten, wie sie die drei jungen Mädchen auf dem Bilde tragen, waren zu Anfang dieses Jahrhunderts in Moorriem, der Heimat des Malers, gebräuchlich. Die liebe Unschuld erscheint so naiv und so leichtgläubig, daß man über sie kaum lachen kann, sondern sie vielmehr bemitleiden muß. Die Alte ist dagegen eine echte Schülerin der Lenormand, sie versteht sich aufs Kartenlegen, aber in der Abgefeimtheit scheint sie doch viele ihrer Vorbilder weit zu übertreffen. – Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts hat das Handwerk der Kartenschlägerinnen nicht mehr den goldenen Boden wie ehemals, aber die ehrenwerte Zunft der Schwindlerinnen ist noch nicht völlig ausgestorben. Aufklärung thut noch heute dringend not; wir dürfen über die alte gute Zeit und ihre Schwächen nicht ohne weiteres überlegen lachen.*      


Inhalt: Trotzige Herzen. Roman von W. Heimburg (6. Fortsetzung). S. 101. – Goethes „schöne Mailänderin“. Von Joh. Proelß. S. 107. (Mit dem Bildnis auf S. 101.) – Washington. In Wort und Bild geschildert von Rudolf Cronau. S. 108. Mit Abbildungen S. 104 und 105, 108, 109 und 111. – Die Hansebrüder. Roman von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach) (6. Fortsetzung). S. 112 – Altoldenburgische Kartenlegerin. Bild S. 113. – Blätter und Blüten: „Streng nach den Mustern der ‚Gartenlaube‘.“ S. 115. – Altoldenburgische Kartenlegerin. S. 116. (Zu dem Bilde S. 113.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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