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Ausnahme ansehen, ich habe Ihnen das ja schon öfters gesagt. Da ist zum Beispiel eine, an die wohl meine Tochter auch gedacht hat, sie liegt in einer reizenden Gegend und die Besitzerin ist eine frühere sehr liebe Gehilfin unseres Hauses. Ihr liebes kleines Mündel bliebe damit sozusagen ganz in der Tradition – –“

„Das wäre ja gewiß sehr viel wert,“ sagte der Doktor Hans Ritter erleichterten Gemütes, aber er erschrak doch wieder, als er nun hörte, wie weit jene Anstalt ablag. Sehr sorgfältig und umständlich zog er während der nächsten Wochen seine Erkundigungen ein, aber das Ergebnis war doch schließlich, daß Fräulein Weber wieder einmal recht behielt und das Verbannungsurteil unterzeichnet wurde.

In diesem Sinne betrachtete es wenigstens Grete anfangs. Sie war sehr unglücklich und empfand es als eine besondere Verschärfung, daß sie „nicht einmal Wöppy“ mitnehmen durfte. Allmählich aber siegte die verlockende Aussicht auf das Neue und der letzte Rest von Kummer löste sich vor der Ankündigung, daß der Pate sie selber hinbringen werde. Grete war noch niemals auf Reisen gewesen, und nun sollte sie eine so lange Reise, noch dazu auf Umwegen mit allerlei Unterbrechungen an schönen Orten, mit ihm machen, der alles am besten verstand und einem alles so schön zu erklären wußte!

Mit befreitem Herzen und einem Gefühl großer Wichtigkeit trat sie nun in die Beratungen über ihre Pensionatsaussteuer und über die Reiseausrüstung des Paten ein; und nun empfing der Doktor Hans Ritter allerdings von den Weberschen Damen, von der guten Luise und selbst von Gretes junger Weisheit so viel Belehrungen über alles das, was zu einer solchen Ausstattung gehört, daß er jetzt erst die Höhe der modernen Civilisation zu ahnen glaubte. Er hatte bisher noch immer der Anschauung seiner Studentenzeit gehuldigt, wonach ein Reisender im gesitteten Europa weiter nichts brauchte als eine mit dem Nötigsten gefüllte Umhängetasche, einen Stock und in jeder Hosentasche eine gleich große Summe Geldes, eine für die Ausfahrt und eine für die Heimkehr, und nach dieser Auffassung hatte er auch Karl angeleitet. Nun schrieb er ihm schleunigst einen entschiedenen Widerruf nach Freiburg, damit der unglückliche junge Mann sich nicht durch seine Schuld eines Tages in irgend einer Schlucht des Kaiserstuhls oder des Schwarzwaldes fände, hilflos und von allem entblößt, was ein wohlbedachter Reisender nach weiblicher Aussage gegen die Wechselfälle dieses Lebens bedarf.

Nicht ganz ausschließlich über lustige Orte führte der Umweg, auf dem der Doktor Hans Ritter sein weißes Mädchen in die Fremde führte. Er besuchte mit ihr die Stadt ihrer frühesten Kindheit. Welch’ lange Zeit war verflossen, als Grete nun zuerst wieder, an einem sonnigen Herbsttage, die alte Heimat betrat! Der Pate zeigte ihr das Haus, in welchem sie gewohnt hatte – es waren noch dieselben Läden im Erdgeschoß, und er fuhr mit ihr hinaus nach der Stätte, die dem Hauptmann von Seedorf zufolge die „einzige halbwegs anständige Lokalität in diesem Nest“ bildete. Dort vor dem Grabe ihres Vaters und vor jenem andern Grabe, an welchem der arme Hans Bardolf zweimal sein Herz vor Gott geopfert hatte, erzählte er ihr vieles von ihren Eltern und von ihren eigenen frühesten Lebensjahren. – –

Gar viele solche Erinnerungsreden erklingen an jedem Tag auf großen Friedhöfen, vor hölzernen Kreuzchen und vor hohen Marmorengeln. Es ist sehr gut, daß die Engel von Stein nicht hellhörig und leichtbeschwingt sind, wie wir uns ihre himmlischen Urbilder deuten; manche wären sonst längst auf und davon geflogen vor all der Bitterkeit und dem Selbstruhm, womit das Lob der Verstorbenen durchsetzt ist. Auf den Gräbern Hans Bardolfs und seines Weibes standen nur einfache Steinkreuze mit Namen und Todestag, von blühenden Herbstblumen umgeben und von dunklen, schon angewachsenen Lebensbäumen beschattet. In dem Budget des Doktors Hans Ritter war noch lange nach dem Tode seines Freundes kein Platz für marmorne Statuen frei gewesen, und wenn doch zwischen den Lebensbäumen ein Engel stand und zuhörte, so muß es einer von den unsichtbaren gewesen sein. Es war nichts Bitteres für ihn zu belauschen, und auch kein Selbstlob, wenn die Lebensbäume leise dazwischen flüsterten, so kam es vom Herbstwind, der sie berührte, und nicht vom unwilligen Flügelschlag eines Himmelsboten.

Aber manches, was Hans Ritter verschwieg, ergänzte der grübelnde Geist des Kindes an seiner Seite. Indem sie schweigsam, die zum Andenken gepflückten Herbstblüten in der Hand, neben ihm dem Ausgang zuschritt, suchte sie in ihrer Erinnerung den Weg ihres Lebens von heute bis zu jenen Zeiten zurückzuschauen, von denen er ihr erzählt hatte. Sie fand ihn nicht völlig, das Ende verlor sich im erinnerungslosen Dunkel der ersten Kindheit, aber so weit das Licht des Gedächtnisses reichte, sah sie überall denselben treuen Hüter und Weggenossen an ihrer Seite, kein Glück, das sie nicht von ihm empfangen, kein Weh, über das er sie nicht getröstet hatte!

Plötzlich blieb sie stehen, reckte die Arme zu ihm auf und lehnte schluchzend ihr Köpfchen an seine Brust – „Lieber, lieber Pate!“

Er blickte liebevoll auf sie nieder und legte sanft seine Hand auf ihre Schulter. Dann machte er sich los und strich ihr die Löckchen aus der Stirn.

„Gieb mir die Blumen,“ sagte er, „ich will sie dir in meinem Taschenbuch verwahren.

Dann verließen sie den Friedhof und fuhren zur Bahn zurück, durch eine neue Vorstadt mit mehreren Fabriken, vielen Arbeiterhäusern und einer halbfertigen Kirche. Der Ort blühte. In seinen Preßverhältnissen schien sich wenig verändert zu haben. Die neueste Nummer der Zeitung, die Bardolf einst redigierte, fand sich im Wartesaal.

Als die Sonne dieses Tages sank, waren die beiden schon viele Meilen von dem „Kohlen- und Heidenest“, und am fünften Tage sah Grete zum erstemal, atemlosen Staunens voll, das Meer, die Ostsee, still und schön, leuchtend im Sonnenschein und belebt von unzähligen Fahrzeugen. Sehr viel Wunderbares hatte man auf dieser Reise erlebt und gesehen; alte Städte mit Kirchen und Rathäusern, die der Pate „natürlich“ genau kannte, waldige Berge mit turmhohen Denkmälern, große Häfen voll tausend haushoher Schiffe, und Gasthöfe mit mehreren Kellnern, die einen als gnädiges Fräulein anredeten – aber dies war doch das wunderbarste! Und am Strande dieses Meeres, in dem schönen, weißen Hause, inmitten des wundervollen Buchenwaldes, sollte sie nun zwei Jahre lang wohnen!

Ach, man erlebt doch recht viel Großes, wenn man alt wird!

Der Doktor Hans Ritter hatte schon etwas mehr erlebt; er hatte sogar beinahe drei Jahre am Meere gewohnt, allerdings nicht als reichlich zahlender Schüler, sondern als sehr kärglich bezahlter Hauslehrer. Aber auch er war zufrieden. Fräulein Martha Weber hatte wieder einmal recht gehabt; und was ihn noch besonders freute, war, daß er sich mit dem Geistlichen, der Grete hier zur Einsegnung vorbereiten und einsegnen sollte, ebensogut verstand wie mit den Damen der Anstalt.

Wiederum sehr auf Umwegen kehrte der Doktor Hans Ritter heim, er hatte Geschmack am Reisen gefunden; vielleicht war ihm sein Heim auch plötzlich minder anziehend geworden.

Als er dieses dann wieder betrat, fand er bereits das erste Briefchen Gretes vor. Er las so lange darin, als ob es ein Buch wäre. Dann ging er auf ihr verlassenes Zimmer, wo auf dem Tischchen das verblichene Bild ihrer Mutter inmitten des dichten frischen Epheus stand. Noch nie war ihm die wachsende Aehnlichkeit so aufgefallen wie jetzt, da er beim Lampenschein Gretes Züge aus dem Gedächtnis mit diesem einige Wochen vor Emiliens Vermählung aufgenommenen Lichtbilde verglich. Nur stärker, freier versprach Hans Bardolfs Kind zu werden.

Er wollte das Bild auf seinen Schreibtisch hinübertragen. Aber er ließ die Hand wieder sinken, ohne es zu berühren. Es war ihm, als gehörte es noch immer einem andern, außer dem es niemand bewahren dürfte als das Kind der beiden. Als aber die gute Luise am anderen Morgen das Arbeitszimmer ihres Herrn betrat, sah sie auf seinem Schreibtisch das neueste Bild Gretes aufgestellt, das er vor ihrer Abreise hatte machen lassen, und davor lag ein kleiner, blaßgrüner Epheuzweig.

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_131.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)