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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

meinte damals, es sei nicht möglich, darauf zu leben. Nun, wo sie in Anbetracht ihrer Ansprüche ans Leben so gut nie mittellos geworden, kamen jene verzweifelten Gedanken einer Flucht nicht mehr; er wußte, was er sich schuldig sei, und es war so etwas wie Galgenhumor über ihn gekommen. ‚Vorwärts mit frischem Mut!’ trommelte er auf den Fensterscheiben.

Da scholl die Stimme Hedes hinter ihm. „Willst du mir verzeihen, Heinz? Ich sehe ja ein, ich war toll, du kannst ja gar nicht anders, vergieb mir!“

Er wandte sich sogleich um und nahm sie in den Arm. „Siehst du, du dummes Mädel? Wozu das alles erst – du solltest mich doch kennen!“ „Ja, es war dumm von mir.“

„Na, laß gut sein,“ tröstete er, „wir beide bleiben die Alten; ich wollte nur, ich könnte dich in der Nähe behalten!“

„Ich wollte es auch, aber es geht doch nicht, Heinz.“

„Meinst du nicht, daß du hier auch einige mallustige Mädel zusammenbringst, wenn du dir ein paar Stübchen mietest?“

Sie schüttelte den Kopf. „Und wovon soll ich unterdes leben, ich meine, bis ich die Malmädel gefunden habe?“

„Aber Hede, welche Frage! Bei mir steht immer der Tisch gedeckt für dich.“

„Nein“, sagte sie, indem sie sich aus seinen Armen wand, und ihr Gesicht bekam etwas Starres, Hartes, „nein, nichts – nichts von Toni!“

Er sah sie an, halb ernst, halb spöttisch. „Von Toni würde wohl nicht viel dabei sein, Hede, ich bezweifle, daß ihre Gage weiter reicht als zur Bestreitung der Toilette.

Sie verstand ihn nicht. „Aber – das große Vermögen?“ stotterte sie.

„Das? Er lachte auf einmal so herzlich wie in alten Tagen „das ist so sicher angelegt, daß sie gar nicht dazu kann, Hede.“ Ihr betroffenes Gesicht amüsierte ihn geradezu.

„Was soll das heißen? Toni ist arm?“

„Ungefähr so. Du siehst also, Schatz, du könntest ohne zu große Gewissensbisse an unserem Tische mitessen.“

„Nein!“ wiederholte sie kurz und mühsam atmend, „du hast schon übergenug Last an Ottilie!“ Sie war in den Stuhl zurückgesunken und starrte vor sich hin. Mit welchen Hoffnungen war sie hergekommen aus ihrem Elend daheim! Auf Liebe, auf Sonnenschein hatte sie sich gefreut, auf ein Atmen in anderer Luft, und nun blieb ihr doch nichts weiter, als wieder hineinzutauchen in das Jammerleben, das Stundengeben für einen Bettellohn, das Hungern bei Thee, Kartoffeln und Grießbrei, das Hungern nach einem Herzen, welches ihr nahe stand.

„Heinz“, sagte sie endlich, „ich reise übermorgen wieder heim“.

„Warum willst du nicht noch ein Weilchen bei Tante Gruber bleiben, Hede? Es würde deiner Gesundheit so dienlich sein.“

„Nein! Nein! Ich verwöhne mich hier nur, und wenn du fort bist – was soll ich hier?“ sprach sie heftig.

„Aber ich bleibe ja nicht lange, Kind, Italien haben wir heimlicherweise längst aufgegeben – acht Tage Berlin, voilà tout!“

„Nein, nein, es ist besser, ich reise!“

„Wie du nur aussiehst,“ schalt er, „ich muß ja Angst haben, dich hier allein zu lassen heute abend-“ „Aber warum? Ich bitte dich, ängstige dich nur nicht um mich! Ich lese, ich werde –“

Er sah nach der Uhr. „Nun ist’s auch für mich Zeit,“ sagte er zögernd, das blasse Mädchen mit den starren, dunklen Augen that ihm so unsäglich leid.

„Hast du etwas zum Lesen?“ fragte er und trat an ein Tischchen, auf dem Bücher und Journale lagen, nahm einige davon und ergriff dann noch eine Zeitung, auf deren Titel „Breitenfelser Amtsblatt“ zu lesen war, und übergab ihr alles. „So, Hede, da hast du allerlei, sogar die neuesten Begebenheiten in Breitenfels, von meinem Polterabend bringen sie sicher auch einen Sums. Und nun fange keine Grillen, auf mich kannst du immer bauen, hörst du, Hede, wenn ich auch kein Krösus bin. Und thue mir den Gefallen, überlege, ob du nicht lieber hier dein Domicil aufschlagen willst!“

Sie hielt, wie geistesabwesend, die Bücher im Arm.

„Komm,“ sagte er, „ich bringe dich hinüber.“

Sie schritten miteinander den langen, teppichbelegten Korridor hinunter. Hedes Zimmer lag nach der Seite hinaus, die von der Herzogin Mutter bewohnt wurde, nur zwei Treppen höher. Er trat hinter der Schwester ein, die Hängelampe brannte, die Vorhänge waren zugezogen, im Kamin züngelten die Flammen.

„Ist dir’s auch warm genug?“ erkundigte er sich; „dein Souper ist angeordnet. – Daß du auch so allein bist! Soll ich nochmals zu dir kommen, wenn das Fest zu Ende?“ Sie nickte. „Bitte!“

„Ich werde vorsichtig anklopfen, falls du schläfst.“ „Ich erwarte dich, ich schlafe nicht.“ – Es ist der letzte Abend, den du noch mir gehörst, wollte sie sagen, verschluckte es aber.

„Leb’ wohl indessen, Hede, ich sehe dich also noch,“ setzte er rasch hinzu, wie um weitere Betrachtungen abzuschneiden. Dann ging die Thür und das Mädchen war allein.

Sie zog an den Kamin einen Sessel und hockte sich hinein, die Füße emporgezogen, die Bücher und Zeitungen hielt sie noch immer an sich gepreßt. So verharrte sie eine ganze Weile. Bis hier hinauf drang kein Laut, das Schloß war ja überhaupt so geräuschlos, als sei es von Geistern bewohnt, und so still war es hier wie daheim in ihren niedrigen einsamen Zimmern. Nur die Uhr tickte, eine Bronceuhr im Empirestil.

Hede brach auf einmal in leises leidenschaftliches Schluchzen aus, ein unsägliches Grauen vor der Zukunft hatte sich ihrer bemächtigt. Bisher, seit Mutters Tode, war Heinz ihre Hoffnung gewesen, und diese, lieber Gott, war gescheitert! Der arme Junge, der würde selber seine Not haben, durchzukommen. Und sie fühlte, wenn sie weiter leben mußte wie bisher, ohne einen Menschen, der ihr nahe stand, es würde Wahrheit werden, was Heinz ihr angedroht, sie würde dort enden, wo ihre Schwester schon war – im Irrenhause! Sie gedachte der Nächte, da sie, furchtdurchschüttelt ob der entsetzlichen Einsamkeit und Verlassenheit, in ihrem Bette aufrecht saß, sterben und verderben konnte sie, keiner hätte es gemerkt! Sie gedachte der Morgen, an denen sie frierend umherschlich, um auf dem Spirituslämpchen Thee zu bereiten, dachte an das Heizen des Ofens mit den starren zitternden Fingern. Ja, wenn sie’s gewöhnt gewesen wäre! Aber bis vor kurzem hatte sie noch eine Aufwartefrau gehabt. Und dann die Unterrichtsstunde mit dem schmerzenden Kopf, in dem Terpentindunst, und mittags die paar eiligst gekochten Kartoffeln, ein Ei dazu, wenn’s hoch kam, und wieder ans Werk, dutzendweise dasselbe Motiv auf Ober- und Untertassen, und doch welch’ Glück, wenn sie Arbeit hatte!

Dann kamen die langen Abende, an denen sie vorzeitig aus Müdigkeit und Frost ihr Lager suchte, denn der Schlaf floh sie bis zum Morgen. Sie schlug sich plötzlich mit der flachen Hand vor die Stirn und blickte sich um, als erwachte sie eben aus schwerem Traume. Dann setzte sie die Füße herunter vom Stuhl und betrachtete wie abwesend die Lektüre, die sie noch in der Hand hielt – „Breitenfelser Amtsblatt“, las sie. Mechanisch faltete sie es auseinander – Politik – Hofnachrichten – der Name ihres Bruders sprang ihr entgegen, die Namen der eingetroffenen Gäste – wie großartig das klang! Dann Theateranzeige: „Der Barbier von Sevilla“ – vorletzte Vorstellung, – eine Verlobungsanzeige, – irgend jemand hatte Zwillinge bekommen, irgend jemand war gestorben – eine Büffettmamsell mit feiner Garderobe wird gesucht – und endlich blieben ihre Augen wie gebannt an folgendem Satze hängen.

„Eine gebildete Dame als Repräsentantin seines Hauses, die bei drei Kindern im Alter von 7, 5 und 3 Jahren Mutterstelle zu vertreten hätte, sucht möglichst sofort

der herzogl. Oberförster Günther.“

Sie las noch einmal und saß dann wieder regungslos wohl eine Viertelstunde lang, bis die Uhr neben ihr mit silberner Stimme sechs Schläge ertönen ließ. Plötzlich sprang sie empor, setzte hastig ihren schmucklosen Filzhut auf, fuhr in das Jackett, griff nach dem Muff und verließ das Zimmer. Sie vermied die Haupttreppe und schritt die für die Dienerschaft bestimmte Stiege hinab. Sie kannte die Seitenthür, die direkt unter den Zimmern der alten Herzogin auf den Schloßberg mündete. Der Weg führte zum Marstall und zog sich in Windungen durch jetzt kahles Fliedergesträuch hinunter. Sie ging mit schnellen und kurzen Schritten, ein starkes Herzklopfen peinigte sie. Die Fensterreihen der Gemächer der Herzogin strahlten mit ihren rötlichen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_135.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2016)