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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Ein paarmal glaubte er, Atemzüge wie die einer schon Schlafenden zu hören.

In diesem Augenblick stieß der Wagen heftig gegen einen Stein und die Thür neben dem verschleierten Mädchen sprang auf. Das Fräulein hatte aufgeschrieen, sich aber, während er die Thür mit raschem Griffe schloß, schon wieder in die Ecke gedrückt – zum Fortschlafen mutmaßte er – und ihm blieb nach seiner Meinung höchstens übrig, über das Einschlafen der Postillons irgend etwas Belangloses zu äußern, was ihm aber selbst als eine allzu triviale Herkömmlichkeit erschien.

In verdrießlicher Laune drückte auch er sich von neuem in die Ecke. Er war doch sehr unzufrieden mit sich. „Wie pfiffig hätte ,Zachäus auf allen Kirchweihen’,“ murmelte er in den Bart, „wohl die Gelegenheit zu einer Anknüpfung benutzt!“ So lautete nämlich nach dem alten Sprichwort der Spitzname eines seiner guten Freunde, der nie in ähnlichen Lagen sich den Kopf zu zerbrechen brauchte und deshalb bei den Frauen immer Glück hatte. – „O, Zachäus auf allen Kirchweihen!“ Und um, statt sich Vorwürfe zu machen, seinem Scharfsinn etwas zu thun zu geben, fragte Schelle sich – woran er nie früher gedacht hatte – was dieser Zusatz ,auf allen Kirchweihen’ denn eigentlich besagen sollte. Auf den Kollegen paßte er ja vortrefflich. Bei allen Lustbarkeiten war er zu finden, und dabei versäumte er keine Vorlesung. Ein Mordskerl! Um diese Fähigkeiten beneideten ihn fast alle seine Kommilitonen und heute eigentlich auch er. Aber gleichviel: wie kam der richtige Zachäus zu diesem verfänglichen Anhängsel? Der Zachäus des Evangelium Lucä? „Als künftiger Gottesgelehrter sollte ich’s doch wissen, aber ich weiß es in der That nicht, habe auch nie darüber nachgedacht. Also wie kam Zachäus zu jenem volkstümlich gewordenen Zusatz? Was war Zachäus? Soweit ich mich zu erinnern vermag – ein Zöllner, sogar ein Oberster der Zöllner. Was weiter? Er war klein von Statur. Weiter: er kletterte auf einen Baum, auf einen Maulbeerbaum, um Jesus zu sehen, denn weil er klein war und weil viel Volk Jesus umringte, konnte Zachäus auf keine andere Weise ihn zu sehen bekommen. Schon gut, aber mit Kirchweihen, also, nach landläufigen Begriffen, mit Volkslustbarkeiten, hat das alles doch nichts zu thun! Wahrhaftig, ich muß mich schämen, erst in diesem Rumpelkasten auf die vertrackte Frage gekommen zu sein, ich, ein Studiosus der Theologie!“

Studiosus Schelle strengte sein Gedächtnis von neuem an und brachte weiter heraus, daß Jesus den kleinen Mann habe herabsteigen lassen, da er – Jesus – in dem Hause, des Zöllners einkehren müsse. Daß der Herr bei einem „Sünder“ einkehren wolle, erweckte dann ein Murren. Zachäus. aber sagte: die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen und so ich jemand betrogen habe, das gebe ich vierfältig zurück.

„Recht schön. Ich sehe aber immer noch nicht ein,“ redete Schelle ungeduldig in seinen Gedanken, „wie einem Manne, der so vieles herausrückt, der Spotttitel ,auf allen Kirchweihen’ angehängt werden kann!“

Und er verurteilte sich, den Rest dieser wunderlichen Nachtfahrt mit Anstrengungen zur Lösung dieser Frage verbringen zu wollen.

Uebrigens war seine Reisegefährtin keineswegs eingeschlafen, im Gegenteil, sie machte sich auch Vorwürfe. Welche? Nun – ihrem Nachbar für das rasche Schließen der Thür nicht gedankt zu haben; es war, sagte sie sich, der erste schickliche Anlaß gewesen, um ein paar höfliche Worte mit ihm, dem Leidensgefährten, zu wechseln. Daß er nicht selbst den Anfang gemacht hatte, sprach nur für seine gute Erziehung; wenige junge Herren hätten sich die Gelegenheit entgehen lassen, ein unbeschütztes Frauenzimmer während einer solchen mehrstündigen Nachtfahrt zu drangsalieren.

Dabei mußte sie doch seufzen. „Wenn man zuweilen nur zaubern könnte,“ sagte sie sich, „wär’s doch viel angenehmer, auf der Erde zu sein! Wie hübsch zum Beispiel, wenn ich aus diesem gewiß sehr vortrefflichen, aber gar nicht der Unterhaltung bedürftigen Herrn meinen Heinrich machen könnte! Natürlich müßte die Pappschachtel die Grenze zwischen uns bleiben, und daß er sie mir nicht eindrückte, dafür wollte ich schon sorgen; der Hut darin muß noch den ganzen Sommer aushalten! Aber so alle Station einmal, in Wilferdingen, in Pforzheim, Illingen, Schwieberdingen und wie alle die Dinger heißen mögen, ja, auf jeder Station sollte er mit mir aussteigen und, während die Pferde gewechselt würden, mich hübsch am Arme führen; vielleicht auch beim Wiedereinsteigen mir einen Kuß geben – versteht sich nur einen – auf keinen Fall mehr; es wäre wirklich die reizendste Nachtfahrt, die sich denken ließe!“

Inzwischen hatte die Zachäusgrübelei den Studiosus nicht verhindert, schläfrig zu werden. Ueber den unebensten Teil der Wege war man glücklich hinaus. „Wie mir,“ sagte sich Schelle, „wird es auch dem armen Fräulein da drüben in der Ecke besser bekommen, wenn sie der Natur ihr Recht gönnt. Ich will ihr mit gutem Beispiel vorangehen.“ „Wünsche wohl zu ruhen!“ gab er in „schicklichem“ Tone zu verstehen.

„Wünsche das gleiche,“ klang es weich zurück.

Es war ihm doch leichter ums Herz. „Menschenstimmen wieder zu vernehmen“, so hatte er erst unlängst in der Reisebeschreibung eines Missionars gelesen, „nachdem man lange Zeit nur Laute wilder Tiere vernommen hat, ist wirklich, ein hoher Genuß.“ Er hatte allerdings nicht, gleich dem Missionar, unter wilden Tieren gelebt, aber ein klein wenig gehörte sein Freund Zachäus in diese bedenkliche Sippe und mit ihm hatte er sich ja bis vor kurzem nicht ohne Widerstreben beschäftigt. „Ich that unrecht,“ sagte er sich, „nicht gleich anfangs ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. War es wieder einmal Schüchternheit? Was muß sie von mir gedacht haben! Aber das ist die Schuld der Bücher, über denen unsereins seine schönsten Jahre versitzt. Schenkt mir, das heißt meiner Hedwig und mir, der Himmel dereinst Kinder – er mußte über die sonderbare Vorstellung lachen – so sollen sie womöglich alles aus Menschenmunde und aus Gottes schöner Natur lernen.“

Mit diesem löblichen Vorsatze nickte er ein und war bald in tiefem Schlaf.

Anders seine Reisegefährtin. „Der hätte mir gefährlich werden können!“ – das waren ihre Gedanken – „was doch im Klang einer Stimme alles liegt! Zu Thränen hat mich’s ja als Kind wie oft gerührt! Gerührt? Nein, Kinder sind nicht eigentlich gerührt, sie weinen nur, wenn sie andre weinen sehen; aber hörte ich zum Beispiel die Stimme meines Vaters am Altar den Segen halb sprechen, halb singen, ich weiß nicht, wie oft mir die Thränen gekommen sind!“

Sie stützte den Kopf auf den Arm und diesen auf den unteren Rahmen des offenen Fensters und blickte leichten Herzens in die schöne, duftige Juninacht hinaus. Unzählige Johanniswürmchen schwärmten leuchtend umher, vor allem in der Nähe von niedern Gebüschen; es funkelte und schimmerte gelb und bläulich, wohin sie nur blickte. Dann ging’s an einem Dorfkirchhof vorüber, die Kränze auf den Gräbern raschelten im Nachthauche, die weißen Seidenbänder an den Kränzen flatterten gespenstig hin und her; eine Nachtigall schlug dicht vor dem Fenster des Pfarrers, wie angezogen durch den Schein der Nachtlampe und die menschliche Nähe; Frösche quakten ohne Unterlaß, einer noch lauter und sonderbarer als der andere; sie dachte an frühere Zeiten, wo sie abends als Kind ihre Lust daran gehabt hatte, mit einem einzigen Steinwurf, den sie in die Mitte solchen Froschteiches geschleudert, ein ganzes Froschorchester für viele Minuten aus dem Takt zu bringen. An Bauernhöfen ging’s vorüber und an stattlichen Getreidescheunen; die Kühe brüllten in den Ställen, Hunde schlugen an, Gänse schnatterten und auf dem Kirchendache klapperte der Storch, als begrüßte er, der Weitgereiste, die rasselnde Post und die schlummernden Passagiere drinnen. Auch die Kirchturmglocke schlug – schlug ohne Unterlaß – 9 – 10 – 11. Anna konnte nicht zu Ende zählen, die Augenlider schlossen sich, und träumend spann sie weiter, was Storch und Nachtigall und Pfarrwohnung in ihr an heimatlichen, traulichen Gedanken angeregt hatten.

Die Post aber rasselte weiter und immer weiter, und der Postillon ließ die Peitsche knallen, wo nur ein Echo war, und stieß ins Posthorn, wo er nur einen alten Gevatter im schwülen Federbett wußte oder eine lustige Jungfer auf hartem Strohsack. Denn zwischen Pforzheim und Illingen kannte er jedes Haus und jeden Stall und wußte, was drin und dran war. Die freundliche, vielgeschlängelte Enz mit ihrer schillernden Fläche

hatte er schon manches Jahr zur Nachtzeit passiert; Enzberg, das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_162.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)