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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Lotte betrachtete ihn einen Augenblick nachdenklich.

„Nein!“ entschied sie dann mit dem Brustton der Ueberzeugung, „es geht nicht! du bist zu eklich! Immer mußt du mich necken – du läßt es doch nicht – ich kenne dich!“

Der Dickus zuckte die Achseln und folgte ihr ins Wohnzimmer.

„Also von heut’ ab erklärter Krieg!“ sagte er mit Nachdruck, „und du weißt, im Kriege ist alles erlaubt!“

Unmittelbar nach dem Essen holte sich Lotte ein Tischchen ins Wohnzimmer, nahm triumphierend daran Platz und legte die beiden Tagebücher vor sich hin – das alte rechts, das neue links – wog – verglich – und spielte so glückselig mit ihren beiden Büchern, wie noch manchmal mit ihrer Puppe, der sogenannten „Präsidentin“. Aber bitte, daß das nicht weiter erzählt wird – es könnten große Unannehmlichkeiten daraus entstehen, wenn es die erste Klasse erführe!

Dann suchte sich unsere kleine Heldin den schönsten Briefbogen aus ihrer Mappe und schrieb aus der Fülle ihres dankbaren Herzens an den Onkel – sogar in Versen, die allerdings mit dem Wagen ihrer Gefühle über einen bedenklichen Knüppeldamm rasselten. Sie flehte darin des Himmels reichsten Segen auf den Spender des herrlichsten Tagebuchs herab und gelobte ihm, sich dieses unvergleichlichen Besitzes durch tadellose Schrift und sonstiges Wohlverhalten jederzeit würdig zu erweisen.

Der Einwurf der Eltern und des Dickus, daß man auf anonyme Geschenke eigentlich nicht antworten dürfe, wurde ignoriert – „ich muß mich bedanken! es war zu reizend von Onkel!“ versicherte Lotte mit Begeisterung und rannte wiederum selbst mit glühenden Wangen und fliegendem Zopf zum Briefkasten, um auch diese zweite Epistel an den Onkel fortzuexpedieren.

Mit wendender Post kam eine Antwort, die aber unseren Backfisch in einen wahren Abgrund von Blamage stürzte. Der Onkel schrieb kurz und freundlich, er hätte sich über Brief und Gedicht sehr gefreut, aber er wüßte von keinem Tagebuch und hätte keines geschickt.

Lotte wollte natürlich in die Erde sinken, denn ihre Dichtung erschien ihr nun als die Höhe der Unbescheidenheit – sie ging ein paar Tage lang still. und in sich gekehrt im Hause herum und schämte sich – mitunter ein ganz heilsamer Zustand, wenn auch kein angenehmer.

Der Dickus, vor dessen ironisch ausgestrecktem Zeigefinger und beständigem: „Siehst du ’s!“ Lotte die größte Sorge hatte, fuhr zum Glück gerade um diese Zeit auf zwei Tage zur Jagd. Er verabschiedete sich eines Abends in der Dämmerstunde mit der gefühlvollen Wendung: „Na, Lotte, nun mußt du bis Dienstag ohne mich fertig werden!“, was der Backfisch in seiner gedemütigten Verfassung nur mit einem leise gemurmelten „Der reine Segen“ erwiderte.

Daß der Dickus durch die fortgesetzte schlechte Behandlung aufs äußerste gereizt war, wird ihm niemand verdenken können, und ich führe es als Milderungsgrund für seine im Laufe unserer Geschichte allerdings scheußlich werdende Handlungsweise ausdrücklich an.

(Schluß folgt.)


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Altdeutsches Kinderleben.

Von Hans Boesch. Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Echter Familiensinn hat die alten Deutschen seit jeher vor ihren Nachbarvölkern ausgezeichnet und hingebende Mutterliebe hat immer traut im altdeutschen Heim gewaltet. Selbst in heidnischen Zeiten, in welchen das Recht so manche Härte aufwies und es dem Vater erlaubt war, seine Kinder auszusetzen oder in die Knechtschaft zu verkaufen, galt eine derartige Handlung als schimpflich. Nur in den größten Notfällen, wenn Hungersnot im Lande herrschte, wurde hier und dort von dem barbarischen Rechte Gebrauch gemacht. In dem Märchen von Hänsel und Gretel, die von ihrem Vater, einem armen Holzhacker, in den großen Wald hinausgeführt wurden, damit sie den Weg nach Hause nimmer finden sollten, ist ein Nachklang jener barbarischen Sitte enthalten. Sie schwand dahin, als das Christentum seinen Einzug in die deutschen Gaue gehalten hatte, und mit den Fortschritten der Kultur gestaltete sich bei unseren Vorfahren das Familienleben immer inniger und begann die Liebe zu den Kindern ihre schönsten Blüten zu entfalten. Hinter den Butzenscheiben des altdeutschen Gemaches, im mittelalterlichen Hof und in der altertümlichen Schulstube herrschte ein frohes Kinderleben, in vieler Hinsicht war es aber von dem unsrer heutigen Kinder verschieden, denn auch die Sitten und Gewohnheiten waren andere und ihnen wurde die Erziehung der Kinder angepaßt. Darum sind Bilder aus der altdeutschen Kinderstube ein lehrreiches Stück Kulturgeschichte, sie zeichnen sich aber dabei durch so viel Eigenart aus, daß eine Reihe derselben gewiß das allgemeinste Interesse erwecken wird. Folgen wir also an der Hand der trefflichen Bilder von Fritz Bergen den kleinen altdeutschen Erdenbürgern auf den ersten Abschnitt ihres Lebenslaufes!

*  *  *

Die Geburt eines Kindes galt auch unsern Vorfahren als ein freudiges Familienereignis, aber schon zu alten Zeiten freute man sich im allgemeinen mehr über die Ankunft eines Knaben, während die eines Mädchens weniger gerühmt wurde. Das kam in verschiedenen Bräuchen zum Ausdruck. Dorfweistümer bestimmten, daß der Markgenosse, dem ein Knabe geboren ward, sich zwei Fuder Holz aus dem Walde hole; ward ihm aber ein Mädchen beschert, mußte er sich mit einem begnügen. Und diese ungalante Anschauung spiegelte sich in Volksbräuchen noch lange wider. In Schaffhausen war es noch vor einigen Jahrzehnten Brauch, daß die Magd, welche den Freunden und Verwandten die Geburt eines Kindes ansagte, bei einem Buben zwei Sträuße am Mieder, bei einem Töchterlein nur einen trug. Ihr Aeußeres verriet schon die Botschaft, die sie brachte.

Möglichst bald sollte das neugeborene Kind durch die Taufe in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen werden, denn so lange das Kind nicht getauft war, wurde es als Heide betrachtet. Die Taufe wurde daher oft schon am dritten Tage nach der Geburt vorgenommen. Oft ward sie zu einem Hauptfamilienfeste, das eine freudig begrüßte Abwechslung in das gewöhnliche Alltagsleben brachte. In einem schönen Kleidchen wurde der Täufling in feierlicher Weise zur Kirche getragen und völlig entkleidet in das Taufbecken eingetaucht. Dann wurde ihm etwas Salz in den Mund gelegt, zwischen den Schultern und auf der Brust wurde er geölt, der Scheitel mit dem heiligen Chrisam gesalbt. Zum Schutze dieser Salbung erhielt das Kind ein Häubchen oder einen Hut, den „Kresmenhuot“. In die Hand bekam es eine brennende Kerze als Zeichen, daß es durch die Taufe so rein und lauter geworden sei wie das Licht, wie die Sonne. Die Haustaufen kamen erst spät auf, in Frankfurt a. M. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in Nürnberg sogar erst gegen 1800.

Schon Berthold von Regensburg hält sich darüber auf, daß manche Leute es nicht unterlassen konnten, bei Gelegenheit von Taufen übertriebenem Luxus zu huldigen, und oft zwölf Gevattern einluden; drei wären mehr als genug, meint er. Diese zahlreichen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_234.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2023)