Seite:Die Gartenlaube (1897) 296.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

über den Platz,“ meldete sie wichtig, „der Kleine trinkt hier Ziegenmilch. Wollt’s Ihnen nur sagen, Fräulein; gelt – es stört Sie doch nicht? Dieses Zimmer betreten sie wohl kaum.“

Aenne stand hastig auf; sie fühlte ihr Herz bis in den Hals empor schlagen. „Doch,“ stieß sie hervor, „es stört mich! – Kann ich noch fortgehen, ohne – –?“

„Da sind sie schon!“ flüsterte die Frau. „Bleiben Sie nur ruhig hier, Fräulein; lange halten sie sich ja nicht auf. Wenn der Kleine seine Milch getrunken hat, fahren sie weiter in den Wald.“

„Lassen Sie niemand hier herein!“ forderte Aenne.

„Nein doch! Nein doch!“ beruhigte die Försterin, ganz verwundert das junge, so blaß gewordene Mädchen betrachtend. Und als jetzt eine schwache Kinderstimme ihren Namen rief, sprang sie zur Thür, schlüpfte hinaus und Aenne hörte, wie der Schlüssel von außen herumgedreht und abgezogen wurde.

Zitternd saß das Mädchen vor dem Klavier und horchte auf jedes Wort, das von draußen zu ihr hereinscholl.

„Treten Sie gefälligst in unser Wohnzimmer, Herr Schloßhauptmann, in der guten Stube ist gescheuert, noch ganz naß die Dielen, und draußen zieht’s ein wenig, der Wind kommt von Osten,“ sagte die Försterin.

Jetzt wurde das Wägelchen fortgeschoben, und nun waren sie nebenan, von Aenne nur durch eine dünne Thür geschieden, vor welche man allerdings einen Vertikow gestellt hatte, der dem Klavier hatte weichen müssen. Aber als sei es in derselben Stube mit ihr, so deutlich klang jedes Wort der redseligen Frau in Aennes Ohr. Unbeweglich verharrte das Mädchen, und dabei befiel sie in der unmittelbaren Nähe des Mannes, um dessen trostloses Geschick sie während der letzten Nacht nicht die Augen geschlossen, zu dessen Rettung sie Plan auf Plan entworfen hatte, ein Gefühl der lähmendsten Niedergeschlagenheit.

Plötzlich zuckte sie empor – das war seine Stimme gewesen! Sie that ihr beinahe körperlich weh, und sie griff unwillkürlich nach dem Herzen.

„Will’s denn gar nicht schmecken heut’, Heini? Bitte, trinke, mein Liebling!“

„Ich kann heute nicht, Papa, ich bin so satt und der Kopf thut mir weh!“

„Und hast noch nichts genossen heute,“ sprach jetzt Heinz wieder.

„Quälen Sie ihn doch nicht, Herr Schloßhauptmann,“ wandte die Förstersfrau mitleidig ein.

Dann hörte Aenne rasche Schritte durch den Flur kommen, ein energisches Klopfen an die Thür nebenan, und die wohlbekannte schneidige Stimme des Doktor Lehmann scholl herüber:

„Servus, junge Frau! Ach, und da sind ja auch die Herrschaften vom Schloß – Morgen, Herr von Kerkow! Morgen, mein Kleiner! Na, wie schaut’s aus? Das lobe ich mir, da kann ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, muß ohnehin über Land! Zur geehrten Schwiegermutter komme ich also nachher, Frau Försterin, und jetzt dürfen Sie uns ruhig etwas verlassen. meine Beste. Setzen Sie der alten Frau unterdes eine frische Haube auf und öffnen Sie die Fenster, ich liebe es, wenn meine Patienten möglichst hübsch aussehen und in guter, reiner Luft atmen.“

Unter hellem Auflachen schien die also Aufgeforderte das Zimmer zu verlassen, denn die Thür ging und ein Weilchen war es totenstill nebenan.

Dann wieder des Doktors Stimme, der in den Flur hinaus rief: „He! Junge Frau, holen Sie ’mal den kleinen Mann hier und fahren Sie ihn ein wenig auf und ab vor dem Hause!“ Und kaum war das Rollen des Wägelchens verklungen auf den Steinfliesen des Flurs, als die laute Stimme des Arztes schon wieder erklang: „Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, Herr von Kerkow, daß das Kind sich in den letzten Tagen erheblich verändert hat. Es geht so nicht länger, der Knabe muß in andere Lebensbedingungen – – fahren Sie nicht so auf, mein Herr! Ich weiß ja, daß Sie alles mögliche thun für die Pflege des Kleinen, aber in der Atmosphäre von Resignation, in der Sie so langsam absterben, muß das zarte Kind bald vergehen. Mich aber interessiert das Kerlchen – als Arzt, wissen Sie – und ich möchte Ihnen daher den Vorschlag machen – vertrauen Sie ihn mir einmal an auf ein paar Monate – – wie beliebt?“

Heinz hatte irgend etwas gemurmelt.

„Allerdings – ’ne Frau habe ich nicht, nein, das ist richtig! Die haben Sie aber auch nicht, Herr von Kerkow. Mein Vorzug liegt eben darin, daß ich Arzt bin, daß solche Krankheitsfälle mein besonderes Interesse von jeher erweckt haben, und daß ich auch einigermaßen in der Lage war, Erfahrungen zu sammeln über die Behandlung derartiger Leiden. In unserem Stadtkrankenhause, zum Beispiel, bin ich längere Zeit der ordinierende Arzt der Kinderstation gewesen, und übrigens würde ich auch selbstredend für weibliche Hilfe sorgen; Schwester Viktoria ist eine vorzügliche Pflegerin. Und dann vergessen Sie nicht, daß ich im Mayschen Hause wohne, Verehrter, und daß sich die Frau Medizinalrätin brennend für meinen Plan interessiert, der darin besteht, daß ich in nicht zu ferner Zeit eine Heilanstalt für rhachitische Kinder zu errichten gedenke. Endlich giebt es da noch ein gewisses Fräulein May, das sich gestern erst mit wahrhaft himmlischem Mitleid nach dem Kinde erkundigte; ich bin überzeugt, sie würde manche Stunde für den armen kleinen Kerl übrig haben, denn das Mädchen hat das Herz auf dem rechten Fleck, ist überhaupt – alle Donnerwetter, aber das gehört nicht hierher, ich meine nur – –“

Aenne hatte sich erhoben; sie stand zitternd mit vorgeneigtem Kopfe, in den Augen ein glückliches Leuchten. Der liebe Gott selbst schien ihr Vorhaben fördern zu wollen.

„Ich danke Ihnen,“ scholl da Heinz Kerkows Stimme, „ich falle nicht gern Fremden zur Last, und außerdem wüßte ich thatsächlich nicht, wie Fräulein May dazu kommen sollte, sich um das elende fremde Wurm zu kümmern.“

„Wie sie dazu kommen sollte? Herr, wie kommt denn überhaupt der eine Mensch dazu, dem andern zu helfen? Weil’s drin liegt im Menschenherzen, weil so ein goldenes Gemüt wie dem Mädel seins gar nicht anders handeln kann – verstehen Sie?“ schrie der Doktor ärgerlich. „Aber wie Sie wollen, Verehrtester, wie Sie wollen! Es ist Ihr Junge, lassen Sie ihn in Gottes Namen zu Grunde gehen – ich hab’s gut gemeint! ’n Morgen, Herr von Kerkow!“

Nun eilende Schritte, ein hastiges Thürschlagen, draußen das Rufen nach der Frau Försterin, und dann ward es still.

Aenne war wieder auf den Stuhl zurückgesunken, das Gesicht erblaßt, die Hände im Schoß gefaltet. Diese Worte von Heinz, diese paar Worte, mit der schneidenden, hochmütigen Betonung gesprochen, hatten sie getroffen wie ein kalter Strahl, hatten all den Trotz in ihr wachgerüttelt, den Liebe und Mitleid zur Ruhe geschmeichelt in ihrem Herzen. Wer so sprechen kann, hat nie geliebt, und sie, sie war drauf und dran gewesen, sich einer schroffen Zurückweisung auszusetzen in ihrer grenzenlos opfermütigen Liebe für ihn und sein Kind. Ihr Kopf bog sich plötzlich in den Nacken zurück – Thörin, Närrin, die sie war!

Sie klappte den Deckel des Instrumentes zu, nahm ihren Hut und drückte auf die Klinke. Ach, man hatte sie ja eingeschlossen! Sie runzelte die Stirn und blickte ungeduldig im Zimmer umher. Klopfen wollte sie nicht, sie wußte nicht genau, ob der Herr Schloßhauptmann von Kerkow vielleicht noch im Zimmer nebenan saß. Aber sie wäre für ihr Leben gern aus diesem Hause geflohen. Da fiel ihr Blick auf das offene Fenster. Mit einem anmutigen Schwung saß sie plötzlich auf der Fensterbank und ließ ihre schlanke Gestalt ins Freie gleiten, es war ja ein so niedriges Parterre. Hochatmend stand sie unter den Tannen; mit einem kleinen Umweg durch den Wald konnte sie ungesehen entwischen. Aber Aenne hatte vergessen, daß dieser Pfad wieder in den breiten Gang einmündete, der direkt zum Luisenschlößchen führte, und so prallte sie beim Hinaustreten aus seinem tiefen Blätterschatten plötzlich mit dem Herrn Doktor Lehmann zusammen, der, seinen Stock im Kreise schwingend, den Hut im Nacken, eilig daherkam, dessen ärgerlicher Gesichtsausdruck aber bei dem Anblick des geliebten Mädchens dem verklärtesten Lächeln wich.

„Alle Hagel – Fräulein Aenne!“ stammelte er, den Strohhut schwenkend, „das muß ein schöner Tag werden, wenn einem schon in aller Herrgottsfrühe so etwas in den Weg läuft – Gestatten doch, daß ich mit Ihnen gehe? Muß nämlich jetzt nach Hause, Sprechstunde fängt an, und leben will der Mensch auch, das heißt – Kaffeetrinken. Haben Sie schon gefrühstückt?“

„Nein!“ antwortetet das junge Mädchen kurz.

„Thun wir’s zusammen in Ihrem Garten?“ bettelte er. „Herrgott, das wär eine Idee! Wie ist’s denn, thut der Kopf

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_296.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)