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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Onkel Zigeuner.“

Novelle von Marie Bernhard.

Er sah wirklich so aus wie ein Zigeuner: geschmeidiger Wuchs, gelenke Glieder, straffes Haar, rabenschwarz, mit bläulichen Lichtern durchsetzt – ein Kolorit wie Bronze und ruhelose dunkle Augen. Er war aber Germane von reinstem Geblüt, und kein Mitglied seiner Familie hätte zu sagen gewußt, wie er zu diesem Aeußern kam. Gewiß, es hatte brünette Leute unter den Gräfenbergs gegeben und Leos Mutter hatte dunkles Haar, dunkle Augen gehabt, allein von sarmatischem Typus keine Spur! Selbst in größeren Städten blieben die Leute oftmals auf der Straße stehen und sahen ihm nach, weil er ein so auffallendes Aeußere hatte.

Freilich gab er den Leuten in großen Städten selten Gelegenheit, ihm nachzuschauen. Leo Gräfenberg war Landmann, er haßte den Lärm, die Hitze und das rastlose Treiben der Stadt. Es war ihm auch unangenehm, so dreist und fragend gemustert zu werden, wie viele dies thaten, er hätte diese neugierigen Augen immer von sich abwehren mögen wie zudringliche Mücken. Da er dies nicht konnte, vermied er die Städte soviel wie irgend thunlich und blieb lieber in seiner grünen Einsamkeit, auf seinem von Wäldern umgebenen, von einem großen See bespülten Landsitz. Grünholm hatte er von seinem Vater geerbt und die umwohnenden Gutsbesitzer behaupteten, es möchte nicht leicht jemand geben, der mit gleicher Liebe an seiner Scholle hinge, wie Leo Gräfenberg dies that. Ja, sie pflegten hinzuzusetzen, diese guten Nachbarn, die Scholle sei überhaupt das einzige auf der Welt, was Leo wirklich liebte.

Verhielt sich das in Wahrheit so? …

Ein kleines Knäbchen war er gewesen, kaum vier Jahre alt, als ihm die Mutter starb. Er bewahrte keine Erinnerung mehr an sie, nur noch an die Zeit, die auf ihren Tod folgte, da der Vater viel abwesend war und da er selbst, ein scheues, eigenwilliges und verschlossenes Kind, sich zwischen Dienstboten, Hunden und Pferden herumtrieb, mehr daheim in den Ställen als in seinem hübsch eingerichteten Kinderzimmer, wo seine Spielsachen ihn ansahen wie tote Dinge, seit keine Mutterhand mehr da war, sie aufzustellen und zu beleben.

Dachte er später an jene Zeit zurück, so erschien es ihm, sie habe sehr lange gedauert – jedenfalls hatte sie hingereicht, ihn völlig verwildern zu lassen, zum Verkehr mit gesitteten Menschen beinahe untauglich zu machen.

Da geschah es eines Tages, daß sein Vater nach längerer Abwesenheit wiederkehrte, das ganze Haus und den Garten neu in stand setzen ließ, sich um seinen Sohn kümmerte, mit Entsetzen die Verfassung, in welche derselbe geraten war, entdeckte und von einer schleunigst engagierten Erzieherin nichts mehr und nichts weniger als das Kunststück verlangte, sie solle auch den verwahrlosten Leo schleunigst „neu in stand“ setzen, damit er repräsentabel werde, und zwar binnen fünf bis sechs Wochen! – Die Dame, der diese Aufgabe zugemutet wurde, ging mit unerschrockenem Mut heran, allein sie hatte ihre Kraft überschätzt und diejenige ihres hoffnungsvollen Zöglings zu gering geachtet, denn sie mußte alsbald erkennen, es sei durchaus unmöglich, sich mit dem Knaben zu stellen oder auch nur zu verständigen, wenn es nicht gelänge, sich seine Zuneigung zu erwerben – und diese blieb ihr konsequent versagt.

Als daher, nach Ablauf der anberaumten sechs Wochen, Gräfenberg der Vater wieder anlangte, mußte er zwar der pädagogischen Dame das ausgemachte Gehalt zahlen, zugleich aber einsehen, das Resultat ihrer Bemühungen sei gleich Null gewesen, wofern sie nicht die Sache noch verschlimmert, das Kind noch ungebärdiger und menschenfeindlicher gemacht habe.

Er war es nicht allein, dem sich diese Wahrnehmung aufdrängte. Mit ihm kam eine sanft aussehende blonde Dame, die den Insassen des Hauses als dessen neue Herrin, dem kleinen Leo als seine neue Mutter vorgestellt wurde. Sie brachte ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit, blond wie sie, ihre Tochter Käthe, denn Frau Merwin war seit acht Jahren Witwe gewesen und nahm ihr einziges Töchterchen mit hinüber in die zweite Ehe.

Leo bereitete der neuen Mama keinen verbindlichen Empfang. Er stand, die Hände zu Fäusten geschlossen sein dunkles Zigeunergesicht auf die Brust gesenkt, die Lippen trotzig aufeinandergepreßt, mitten im Zimmer und hatte auf alles Zureden, Bitten, Versprechen, endlich Drohen nichts weiter als ein verstocktes Schweigen und Kopfschütteln, bis sein Vater ihn ergrimmt beim Kragen faßte und in ein leeres, abgelegenes Zimmer setzte, wo er „zur Vernunft“ kommen sollte! – Ach, weder kam er zur Vernunft, noch kam sie zu ihm, statt dessen bearbeitete er die verschlossene Thür mit Fußstößen und Faustschlägen und schrie so lange, bis er ohne Stimme war. Endlich schlief er, auf dem Boden liegend, vor lauter Erschöpfung ein, und als er erwachte, dunkelte draußen der Abend, und am Fenster auf der breiten Brüstung kauerte eine helle, zierliche Gestalt, die klopfte mit leichtem Finger an die Scheiben und bat um Einlaß.

Verwirrt und schwindlig, mit brennenden, schmerzhaften Augen und pochenden Schläfen erhob sich der Knabe von den Dielen und öffnete das Fenster … und durch dies offene Fenster zog Liebe und Frieden und der ganze unsagbare Segen einer glücklichen Kindheit in das vereinsamte, mißverstandene kleine Herz. Die neue Schwester Käthe war’s, die Leo vor kaum vier Stunden mit ebenso mißtrauischen finstren und feindlichen Augen angestarrt hatte wie ihre Mama, die ihm die Mutter ersetzen sollte. Käthe hatte den eigenwilligen Jungen mit dem dunklen Gesicht zwar sehr unartig gefunden, aber nebenbei hatte er ihr leidgethan, und sie nahm sich’s sofort vor, sobald sie nur unbemerkt abkommen könnte, ihn trösten zu gehen. Dies hatte sich schwer ausführen lassen, da Besuch erschienen war und Mama die Anwesenheit des Töchterchens wünschte. Jetzt, während der Dämmerung, achtete niemand auf Käthe, und so kam sie zu Leo durchs Fenster. Sie brauchte keinerlei Ueberredungskünste und keine pädagogischen Kunstgriffe dem Knaben gegenüber, ihr gesunder Sinn lehrte sie instinktiv das Richtige. Sie kauerte neben Leo auf den Fußboden nieder und schob ihm ein Stück Kuchen in den Mund mit der Bemerkung: „Das hab’ ich mir in aller Stille für dich in die Tasche gesteckt – du mußt ja fürchterlichen Hunger haben!“

Der Junge nickte, halb zornig, halb kummervoll, und kaute dann tapfer drauf los.

„Du weißt doch, daß ich die Käthe bin?“ hieß es nach einer kleinen Weile.

Wieder stummes Kopfnicken.

„Und wir werden sehr fein zusammen spielen. Ich kann allerhand schöne Sachen!“

„Na – was denn für welche?“ kam es zögernd, halb widerwillig heraus.

„Figuren ausschneiden und antuschen und kleben und schnitzen –“

„Auch Pferde? Auch Hunde? Auch Soldaten?“

„Natürlich! Hat mir alles meine Mama gezeigt!“

„Die will ich nicht! Die soll wieder weggehen!“

„Soll ich denn auch mit fort?“

„Nein! Du nicht! Du kannst bei mir bleiben!“

„Ja, aber nicht ohne meine Mama! Wo die ist, da muß ich auch sein!“

„Aber die kann ich nicht leiden! Die ist nicht meine Mama!“

„Dein Papa ist auch nicht meiner, und ich muß ihn doch leiden können!“

Leo versank in Nachdenken, während er den Rest des Kuchens verzehrte. Er sah Käthe von der Seite an, wie sie da neben ihm kniete und zu ihm sprach. Die neue Mutter war ihm sehr unbequem, aber Käthe wollte er keineswegs wieder hergeben, das stand bei ihm fest.

Und er gab sie nicht wieder her – gab sie nie wieder aus seinem Herzen heraus für sein ganzes Leben. Wie sie es verstanden hatte, rasch, unvermittelt sich des Knaben Liebe zu gewinnen, so wußte sie ihn allmählich an die Mutter zu gewöhnen, wußte ihm das Herz des Vaters zurückzuerobern, bekam es fertig, ihn aus Ställen und Scheunen herauszubringen und dem ausschließlichen Verkehr mit Knechten und Kutschern zu entfremden. Käthe war es, die dem Wildling das Stillsitzen im Zimmer, das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_300.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)